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Social Annotation und Genius.com

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (bzw. online) erschien unlängst ein Interview mit dem Hildesheimer Literaturwissenschaftler Guido Graf. Während der Anlass – die Vergütung von Autoren nach Zahl der gelesenen Seiten, wie sie Amazon gerade forciert – ist aus Fu-PusH-Sicht nicht ganz zwingend relevant. Anders verhält es sich mit bestimmten Schlussfolgerungen. So wird das Konzept des offenen Dokuments offenbar auch für die Literatur interessanter:

„Das sind Texte, die nicht unbedingt abgeschlossen sein müssen, die nicht die Form eines klassischen Romans oder einer Novelle haben müssen, sondern sich wie bei der Fernsehserie eher wuchernd entwickeln können, ohne dass man am Anfang weiß, wie es irgendwann weitergeht.“

Noch interessanter und zwar eventuell auch vor dem Hintergrund einer Art „Citizen Scholarship“ ist die Erwähnung der Plattform genius.com:

„Ich finde das großartig. Dieses Angebot setzt nur konsequent fort, was Genius.com vorgemacht hat. Diese Seite begann einst als Rap.genius und bietet mittlerweile zahlreiche Sparten, unter anderen auch Lit.genius, wo Leser sich gegenseitig Texte erklären. Hier versammelt sich ein eher jüngeres Publikum aus Pop-affinen Kontexten, um neben Kendrick Lamar oder J Dilla gemeinsam auch Shakespeare, Dante oder Jonathan Franzen zu lesen und zu diskutieren. Das ist zukunftszugewandtes Social Reading!“

Dabei muss es gar nicht auf ein jüngeres Publikum und den außerakademischen Bereich beschränkt bleiben. Ausgehend vom Bedürfnis, sich die Anspielungen in Rap-Texten zu erläutern, liegt hier nämlich sehr praktikables Verfahren zur Social Annotation weit entwickelt und elaboriert vor, das man sich ohne Probleme als Grundlage für Lektüreseminare und andere Wissenschaftskontexte vorstellen, in denen mehrere Personen gleichzeitig und in der Zeit Texte lesen, interpretieren und annotieren. (Hier als Beispiel die Seite zum Text Structure, Sign, and Play in the Discourse of the Human Sciences von Jacques Derrida.) Insofern ist Genius.com derzeit möglicherweise das alltagstauglichste und meist genutzte Digital-Humanities-Tool im Web. Und für die Narrativ- und Intertextualitätsanalysen der Gegenwart steht als Dreingabe gleich ein ganzer großer Bestand von Forschungsdaten bereits zur Verfügung (so zum Beispiel dieser exzellente Aufsatz von David Foster Wallace.)

10. Juli 2015 | Veröffentlicht von Ben Kaden | Kein Kommentar »
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