Archiv für Mai 2018

Anforderungen und Trends werkzeugbasierter Forschung in den Geisteswissenschaften

Zu: Lisa M. Given, Rebekah Willson (2018): Information Technology and the Humanities Scholar: Documenting Digital Research Pactices. In: Journal of the Association for Information Science and Technology, 60 (6), S. 807-819. https://doi.org/10.1002/asi.24008

von Ben Kaden und Michael Kleineberg

In der aktuellen Ausgabe von JASIST findet sich ein Beitrag, der einen sehr guten Rahmen für die Ideen des FuReSH-Projektes bietet. Lisa M. Given und Rebekah Willson präsentieren darin die Ergebnisse einer Studie zum digitalen Forschungsverhalten einer Gruppe von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern. Sie interessieren sich dabei insbesondere für sich verändernde Rollen und Ansprüche in einer auf digitale Werkzeuge setzenden Forschungspraxis. Auch wenn das Sample von 20 Teilnehmenden in der Menge überschaubar und sowohl disziplinär als auch geographisch stark fokussiert war, lassen sich einige Trends identifizieren, die für die konzeptionellen Annäherung an das Phänomen der Scholarly Makerspaces sehr relevant sind. Wir möchten daher an dieser Stelle einerseits einige Thesen aus dem Beitrag fixieren und andererseits im Anschluss Schlussfolgerungen der Autorinnen diskutieren.

Aus dem Aufsatz zur Studie lassen sich eine Reihe von Thesen referieren:

 

Werkzeuge

1. Digitale Werkzeuge spielen eine große Rolle in den Humanities. (S. 807)

2. Textanalyse-Tools sind die am weitesten verbreiteten digitalen Werkzeuge in den Humanities. (S. 809)

3. Der Gebrauch von digitalen Werkzeugen ist auf Praktikabilität und sichtbare Mehrwerte fokussiert. (S. 808)

4. Nur wenige Forschende sind zufrieden mit den vorhandenen Analyse-Werkzeugen. (S. 809)

5. Wenn keine passenden digitalen Werkzeuge vorhanden sind, werden oft ad-hoc-Lösungen aus bestehenden Tools erstellt. (S. 808)

6. Die meisten Forschenden entwickeln keine eigenen digitalen Werkzeuge. (S. 809)

7. Die Maxime der Infrastrukturentwicklung “if we build it they will come” trifft nicht auf Forschende der Humanities zu. (S. 809)

8. Den meisten Forschenden ist nicht bewußt, welche Tools ihnen von Nutzen sein könnten. (S. 809)

9. Allgemein sind Forschende der Humanities unzufrieden mit stand-alone tools bzw. single-purpose tools. (S. 817)

10. Von digitalen Werkzeugen wird erwarten, dass diese interoperabel sind und verschiedene Analyseformen zulassen. (S. 814)

 

Forschungsdaten

11. Bei der Auswahl an Inhalten bzw. Forschungsdaten ist die Datenqualität der ausschlagebende Faktor. (S. 808-809)

12. Nachdem Texte digitalisiert und zugänglich gemacht wurden, besteht ein weiterer Teil der Aufbereitung darin, die Inhalte zu bereinigen und mit Metadaten für die Speicherung, Sichtbarmachung und Analyse zu versehen. (S. 812)

 

Methodologie

13. Die meisten Forschungsaktivitäten in den (Digitalen) Humanities sind textbasiert. (S. 815)

14. Der Einsatz quantitativer Analysen in den Humanities führt zu einem methodologischen Unbehagen. (S. 813)

15. Große Datenmengen und komplexe Werkzeuge fördern das kollaborative Arbeiten in den Humanities. (S. 816)

 

Ansprüche und Kompetenzen

16. Textaufbereitung erfordert hohe Expertise und geeignete digitale Werkzeuge. (S. 812)

17. Technische Kompetenz ist bei Forschenden der Humanities oftmals nur sporadisch erworben. (S. 809)

18. Die Ansprüche und Bedarfe der Forschenden in den Humanities bzw. Digital Humanities sind nicht homogen. (S. 813)

19. Für die Datenauswertung besteht eine Polarisierung zwischen der Präferenz von Datenvisualisierungen und der Präferenz rein numerischer Statistiken. (S. 813)

20. Auch wenn Forschende einen potentiellen Nutzen von digitalen Werkzeugen erkennen, sehen sie oft von deren Gebrauch ab, da sie sich des hohen Lernaufwandes bewusst sind. (S. 815)

 

Zusammenfassend lassen sich einige Trends für die Entwicklung in den Geisteswissenschaften feststellen. Diese sind allerdings durch das überschaubare und auf eine bestimmte Forschungskultur zugeschnittene Sample nicht unbedingt in einer Weise verallgemeinerbar, die der Artikel andeutet. Wo allerdings digitale Forschung zum Bestandteil des Wissenschaftsalltags wird, dürften die beschriebenen Trends zutreffen.

Unbestritten dürfte für alle heute Forschenden sein, dass digitale Werkzeuge Teil der Kette des Forschungsprozesses werden und seien es Texteditoren, Volltextsuche und E-Mail. Bereits diese Basiswerkzeuge der digitalen Gegenwart dürften Veränderungen in der wissenschaftlichen Kommunikation und möglicherweise auch im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß selbst hervorgerufen haben.

Übersicht - Werkzeuge, die von den Teilnehmenden der Studie benannt wurden
Übersicht – Werkzeuge, die von den Teilnehmenden der Studie benannt wurden. / Quelle: Given,Willson, 2018, S. 811

Aus Sicht unseres Projektes und dem Forschungsbereich der Digital Humanities sind jedoch andere Werkzeuge und eine Prozess, den man Datafizierung der Wissenschaft nennen könnte, relevanter. Denn hier wird unmittelbar sichtbar, was die Autorinnen beispielhaft als durch digitale Technologien entstehende neue wissenschaftliche Praxen beschreiben: 1. Die Entwicklung von Werkzeugen sowie 2. Die Vor- und Aufbereitung von Forschungsdaten für Auswertung und Analyse.

Lisa M. Given und Rebekah Wilson plädieren für eine Verschränkung von Wissenschaft und Werkzeugentwicklung. Dies führt soweit, dass sie die Entwicklung digitaler Forschungswerkzeuge selbst als Forschung betrachten (S. 817). Die sich daraus ergebenen Fragen lautet nicht nur für das Ziel des FuReSH-Projektes: Ist dies zwangsläufig das Grundverständnis digitale Geisteswissenschaft? Oder lassen sich dennoch generische Forschungsansätze identifizieren, in denen die Werkzeuge nur appliziert und nicht weiter entwickelt werden? Ergibt sich also die mehr oder weniger empirisch nachgewiesene Perspektive vor allem aus der Tatsache, dass sich das Feld zum Zeitpunkt der Studie noch in einem frühen Entwicklungszustand befindet und die Toolentwicklung durch die Forschenden dadurch motiviert wird, dass noch keine akzeptablen Lösungen verfügbar sind?

Unstrittig ist, dass digitale Forschung in den Humanities auf digitale Werkzeuge, Forschungsdaten und Algorithmen(entwicklung) zurückgreifen muss. Dies verändert zwangsläufig, wie die Autorinnen unterstreichen, das Selbstverständnis der Wissenschaft. So gibt es die These, dass digitale Wissenschaft nahezu unvermeidlich kollaborativ sein wird. Dahinter steht möglicherweise die Annahme einer wachsenden Komplexität zwischen Forschungsfragenfindung, Datenaufbereitung und Werkzeugentwicklung, die für individuell Forschende nicht zu meistern ist. Denkbar ist jedoch auch andersherum, dass gerade werkzeug- und algorithmenbasierte Forschung in einem kommenden Reifestadium die für Einzelforschende bewältigbare Komplexität erheblich erhöht. Diese Frage wird anderer Stelle noch zu diskutieren sein.

Unstrittig ist dagegen, dass die Auseinandersetzung mit Forschungsdaten prinzipiell neben das Verfassen eines Manuskriptes tritt. Offen ist, ob beides gleich umfänglich nebeneinander stehen wird oder sich vermengt. Also ob die Datenarbeit die bisherige textualisierenden Schritte ergänzen, durchdringen oder ablösen wird. Denkbar sind alle drei Szenarien.

Unstrittig ist auch, dass jede Auseinandersetzung mit digital vorliegenden Forschungsobjekten eine Arbeit mit Forschungsdaten ist, liegt doch jedes digitale Objekt naturgemäß in Datenform vor. Um es in einem jeweiligen Forschungszusammenhang beforschbar zu machen, sind darüberhinaus in aller Regel Bearbeitungsschritte notwendig, von denen die Erfassung und Anbindung von Metadaten die allgemeinste Variante sein dürfte. Entsprechend nachvollziehbar ist, wenn die Autorinnen schreiben:

“Data preparation becomes a meta-level process, fundamental to both analysis and writing.” (S. 817)

Interessant ist aus unserer Sicht die Feststellung, dass auch digitale geisteswissenschaftliche Forschung bisher jedenfalls textzentriert und weniger multimedial orientiert ist. Dies deckt sich mit Erkenntnissen aus dem von uns durchgeführten Fu-PusH-Projektes (2014-2016). Dafür sind verschiedene Gründe plausibel, auf die an anderer Stelle eingegangen werden muss. Gerade aber im Trend zur Visualisierung deutet sich an, dass dies nicht zwangsläufig dauerhaft so bleiben muss.

Aus Sicht von FuReSH ist zunächst die Perspektive der Studie auf die gewünschten Werkzeuge relevanter. Wurden Virtuelle Forschungsumgebungen im Prinzip vor allem aus Gründen der Pflege und Langzeitverfügbarhaltung mehr oder weniger als gescheitert angesehen, scheint die Nachfrage bei den Forschenden wieder in eine ähnliche Richtung, möglicherweise im Sinn interoperabler Apps zu gehen:

“Overall, humanities scholars are not satisfied with stand-alone, single-purpose tools; they want tools that can be integrated, working together in a cohesive environment.” (S.817)

Hier erscheint dann auch wieder der Aspekt generischer Use-Cases, denn diese Werkzeuge müssen nicht nur aufeinander abgestimmt und mit standardisierten Strukturen / Schnittstellen bereitstehen, sondern auf Anwendungsszenarien über den konkreten Entwicklungskontext hinaus nutzbar sein.

Während FuReSH bzw. von der Bibliothek bereitgestellte Scholarly Makerspaces an dieser Stelle nur eine Art Bestandserhebung vornehmen können, eröffnet sich an anderer Stelle ein unmittelbarer Ansatz für eben diese Idee. Denn die Autorinnen stellen plausibel heraus, dass digitale Werkzeuge und sich entwickelnde digitale Methodologien zwei Notwendigkeiten nach sich ziehen: erstens adäquate Ausbildungs- und Schulungsangebote sowie dauerhaften Support, und zweitens welche Darstellungsformen sich besonders gut für die Rezeption eignen (siehe These 19). Scholarly Makerspaces als Experimentierräume können für beide Aspekte die eignete Plattform darstellen, da sie einerseits zum Kompetenzerwerb gedacht sind und andererseits Exploration anregen. Wie diese neuen bzw. digital-typischen Forschungsformen aussehen, die sich vor allem aber längst nicht mehr nur unter dem Label Digital Humanities finden, ist entwicklungsoffen. Scholarly Makerspaces sollen lokal dabei helfen, zum aktuellen Stand der Entwicklung aufzuschließen und gegegenenfalls qualifiziert diese Entwicklungen mitzugestalten.

(Berlin, 15.05.2018)

 

15. Mai 2018 | Veröffentlicht von Ben Kaden | Kein Kommentar »
Veröffentlicht unter Allgemein

Was sind Scholarly Makerspaces? – eine erste Überlegung

Das FuReSH-Projekt verfolgt eine Idee, die wir als Scholarly Makerspaces bezeichnen. In unserem Antrag hatten wir uns diese Beschreibung überlegt:

Der Grundidee des international bekannten Ansatzes der „Makerspaces“ in öffentlichen Bibliotheken folgend sind Scholarly Makerspaces digitale Arbeitsumgebungen in [wissenschaftlichen] Bibliotheken, die digitale Ressourcen und Werkzeuge zusammenführen und zur Verfügung stellen, nach Möglichkeit und Bedarf die Nutzung begleiten bzw. die Angebote von Drittanbietern lokal vermitteln. Sie sind sowohl lokal auf Workstations wie auch plattformbasiert denkbar. (Antrag FuReSH)

Es wird also deutlich, dass es bei den Scholarly Makerspaces nicht primär darum geht, Hardware wie Lasercutter oder 3D-Drucker anzubieten. Sie unterscheiden sich daher beispielsweise vom Makerspace-Angebot der SLUB, dessen Ziel ein “offener Kreativraum für Menschen, die ihre Ideen und Do-It-Yourself-Projekte realisieren möchten” ist. Unser Ansatzpunkt ist vielmehr rein digital und baut auf der Idee auf, Software, Algorithmen und digitale Werkzeuge als eine Art (virtuelle) Laborausstattung der Digitalen Geisteswissenschaften zu verstehen. (Beispielsweise Voyant-Tools, Eintrag zu Voyant-Tools in der Wikipedia)

Dahinter stehen vor allem zwei Beobachtungen.

Erstens sehen wir, dass zwar sehr viel Bewegung in diesen Bereichen in den Digital Humanities spürbar ist, die Vermittlungsstufe in lokale Forschung und Lehre aber noch nicht systematisch genug erfolgt.

Zweitens sind wir aus einer bibliothekswissenschaftlichen Sicht ständig mit der Frage befasst, was eine (post)digitale wissenschaftliche Bibliothek eigentlich sein kann. Für die traditionelle geisteswissenschaftliche Arbeit stellte sie in vielen Fällen Material und nicht selten auch den Reflexions- und Arbeitsraum, also eigentlich buchstäblich schon immer einen „Scholarly Makerspace“, bereit. Diese Rolle bleibt der Bibliothek auch dauerhaft. In dem Maße jedoch, in dem digitale Verarbeitungsschritte grundlegender Bestandteil dieser nun postdigitalen geisteswissenschaftlichen Forschung werden, reicht es nicht mehr aus, allein Materialien bereitzustellen. Gerade für Forschende, die nicht unmittelbar in konkrete Digital-Humanities-Projekte eingebunden sind, entsteht hierbei häufig eine Vermittlungslücke. Ähnliches gilt für die Einbindung von digitalen Forschungsaspekten in die allgemeine Lehre.

Ein traditioneller "Scholarly Makerspace" - Das Grimmzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin / Ansicht der Fassade gesehen aus der Planckstraße
Auch eine Art traditioneller „Scholarly Makerspace“ – das Grimmzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. (Foto: Ben Kaden)

Hinter Scholarly Makerspaces steht die Idee, gerade für diese allgemeineren Zielgruppen Möglichkeiten zu schaffen, sowohl explorativ als auch mit konkreten Forschungsfragen über die Bibliothek vermittelt Zugang zu Werkzeugen, Tutorials und Materialien zu erhalten.

Der Ansatz findet bei spezialisierteren Fragestellungen sicher seine Grenzen. Für solche Fälle können jedoch von den Bibliotheken bzw. den Betreibenden der Scholarly Makerspaces, beispielsweise in Zusammenarbeit mit DARIAH und CLARIN Ansprechpersonen benannt werden.

Wenngleich die Idee der Scholarly Makerspaces von den Digitalen Geisteswissenschaften ausgeht, soll und wird sie prinzipiell auch für andere disziplinäre Felder adaptierbar sein.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Scholarly Makerspaces als niedrigschwellige Angebote eine Brücke zwischen den Entwicklungen in den Digital Humanities und den geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehre an den Hochschulen bauen helfen. Werkzeuge werden nachgewiesen und, sofern in stabilen Versionen verfügbar, auch direkt angeboten bzw. vermittelt. Digitale oder digitalisierte Bestände der Einrichtungen können bereits als Forschungsmaterial durch die Bibliothek bereitgestellt werden. Für anspruchsvolle Forschungsfragen werden Schnittstellen und Kontaktpunkte zu Digital-Humanities-Expertinnen und -Experten bereitgestellt. Die Bibliothek bietet zudem virtuelle Sandboxen und einfache Online-Tools, mit denen sich vor allem explorativ und als Lerneffekt einfache Analysen durchführen lassen. Diese werden mit entsprechenden didaktischen Materialien begleitet. Für weiterführenden Schulungsbedarf gibt es ebenfalls Kontaktpunkte zu den einschlägigen Digital-Humanities-Angeboten der deutschsprachigen und internationalen Wissenschaftslandschaft.

Weiterführend: Degkwitz, Andreas: The interactive library as a virtual working space. In: LIBER Quartely, 27.1 (2017). https://www.liberquarterly.eu/articles/10.18352/lq.10214/