von Katharina Tauschwitz
Sie haben einen Namen, doch nicht immer ein Gesicht. Sie sind nicht nur Opfer des Holocaust, sondern auch der Anonymisierung und des Vergessens. Doch sie sind alle eins – Menschen. Menschen mit einer eigenen Geschichte, die so individuell ist wie ihr Leben und Leiden nach der nationalsozialistischen „Machtübergabe“[1] im Jahre 1933. Die Schicksale der unzähligen Opfer dürfen nicht vergessen werden. Einerseits, um uns und folgende Generationen zu mahnen, die Geschichte nicht zu wiederholen. Andererseits, um zu versuchen, den Opfern ihre Menschlichkeit und Würde post mortem wenigstens ein Stück weit zurückzugeben. Otto Neubieser ist einer von denjenigen, deren Geschichte es zu erzählen gilt.[2]
Otto Neubieser wurde als erstes Kind von Siegmund und Flora Neubieser, geb. Markewitz, am 24.03.1908 geboren. Es folgten seine Brüder James Jacob (*1912) und Robert (*1915). Während sein Vater Siegmund als Tischler arbeitete, erlernte Otto das Handwerk des Maschinenschlossers und war in diesem auch tätig. Doch was unterschied sie von anderen Familien? – Familie Neubieser galt als jüdisch. Seit der ,,Machtübergabe an die Nationalsozialisten’’ verfolgten und entrechteten die neuen Machthaber die Jüdinnen und Juden in NS-Deutschland. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Verfolgung und Entrechtung durch die sogenannten Nürnberger Gesetze aus dem Jahre 1935, nach denen die jüdische Bevölkerung ihre politischen Rechte aufgrund der ihnen vom Regime zugeschriebenen Abstammung verloren hatte. Darüber hinaus war es ihnen unter anderem verboten, die Ehe oder intime Verhältnisse mit Nichtjuden einzugehen. Als „Volljude“ galt nach der rassistischen Definition der Nürnberger Gesetze, wem in seinem Stammbaum mindestens drei jüdische Großeltern nachgewiesen werden konnten.[3] Ottos Vater stammte von einen evangelischen ,,deutschen” Vater und einer jüdischen Mutter ab. Die Eltern seiner Mutter waren beide jüdisch. Otto war somit nach nationalsozialistischem Recht ,,Volljude”.
Der nationalsozialistische Antisemitismus war im Gegensatz zu früheren Formen des Antijudaismus nicht an die Religion der Großeltern, sondern an die jüdische Abstammung gebunden, was es unmöglich machte, das Stigma abzulegen. Aus einer Glaubensgemeinschaft konnte man austreten, jedoch konnte man seinen Familienstammbaum nachträglich nicht verändern.[4] Dennoch versuchte sich Familie Neubieser vom Makel des „Jüdischseins“ zu lösen, indem sie sich für eine Taufe entschieden. Die Berliner Messiaskapelle – eine Missions-Einrichtung der evangelischen Kirche – entwickelte sich in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Taufort für Jüdinnen und Juden.[5] Dies war zur Zeit des Nationalsozialismus nicht selbstverständlich, denn viele evangelische Gemeinden versagten Jüdinnen und Juden nicht nur die Taufe, sondern schlossen auch bereits getaufte Mitglieder jüdischen Ursprungs vom Gemeindeleben aus. Die Messiaskapelle blieb auch nach 1933 ein Taufort für Jüdinnen und Juden.[6] Aus welchem Grund sich die Familie Neubieser dort taufen ließ, lässt sich anhand der Quellen nicht rekonstruieren. Einerseits ist es möglich, dass sie aus Glaubensfragen zum Christentum konvertierten, andererseits kann es auch möglich gewesen sein, dass sie sich dadurch erhofften, der rassistischen Ausgrenzung und Verfolgung durch das NS-Regime zu entkommen. Was auch immer sie zu dieser Entscheidung bewegte, es änderte nichts an ihrem jüdischen Status im Sinne der NS-Rassenideologie, der sie zu Bürgern „minderen Rechts“ degradierte. Laut Taufeintrag fand die Taufe der Familienmitglieder am 1.3.1936 statt. Sie erhielten alle das Sakrament von Pfarrer Knieschke. Wenn auch kurzzeitig gehörte Familie Neubieser so der Segensgemeinde[7] an und war Teil der christlichen Gemeinschaft – bis die Berliner Gestapo alle Familienmitglieder bis auf Otto am 24.10.1941 nach Łódź deportierte.
Es stellt sich nun die Frage: Warum trennte sich Otto von seiner Familie? Der Grund ist schön und doch bitter zugleich. Im Jahre 1934 lernte Otto in einem Lokal die junge Frau Elisabeth Englisch kennen. Was zunächst freundschaftlich begann, endete in einer Liebesbeziehung zwischen den beiden. So kam es, dass Otto ihr Weihnachten 1935 das Aufgebot machte, sie zu heiraten. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass Otto im Gegensatz zu Elisabeth drei jüdische Großeltern hatte und somit als „Volljude“ im Sinne der Nürnberger Gesetze galt. Es folgte daher nicht nur das Verbot der Eheschließung, sondern auch das Verbot, die Liebesbeziehung fortzuführen. Allen Verboten zum Trotz entschied sich das Paar, ihre Liaison aufrechtzuerhalten.
Selbst als Elisabeth 1938 Berlin verließ und zu ihrer Mutter nach Oberschlesien zog, riss der Kontakt der beiden nicht ab. Vielmehr schrieben sie sich stetig Briefe und Otto besuchte sie sogar an ihrem neuen Wohnsitz. Obwohl sie beide wussten, dass ihre Beziehung verboten war, waren sie nicht bereit, sich voneinander loszusagen. Sie hatten einander zu gern, um eine Trennung akzeptieren zu können. Elisabeth habe sogar vorgeschlagen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der „Jude“ liebte die „Nichtjüdin“ und die „Nichtjüdin“ liebte den „Juden“. Was als schöne und romantische Liebesbeziehung zweier Menschen begann, entwickelte sich zu einem Verfahren im Jahre 1939 gegen Otto, welcher der „Rassenschande“ bezichtigt wurde.[8]
Otto, der sich aufgrund der Namensänderungsverordnung nun Otto Israel[9] nennen musste, wurde in Berlin verhaftet und befand sich ab dem 16.10.1939 im Gerichtsgefängnis Charlottenburg. Es fand eine Verhandlung statt, die Otto nicht entlasten konnte. Er gab sogar zu, eine Liebesbeziehung mit Elisabeth zu führen. Auch sie stand vor Gericht für ihre gemeinsame Liebe ein und gab an, mit Otto in einer emotionalen und körperlichen Beziehung zu sein. Schließlich wurde Otto zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er am 15.2.1940 im Zuchthaus Luckau antrat. Ein Gnadengesuch seiner Eltern wurde im August 1941 abgelehnt, da Otto sich seiner Strafe gegenüber gleichgültig zeigte. Die Justiz war sich nicht sicher, ob Otto die Tat nicht wiederholen würde. Ob sich Otto und Elisabeth jemals wiedergesehen haben, lässt sich anhand der Quellen nicht beantworten. Fest steht jedoch, dass Otto am 11.10.1941 entlassen und dem Polizeigefängnis Berlin überstellt wurde. Am 13.1.1942 wurde Otto mit über 1000 anderen Jüdinnen und Juden nach Riga deportiert. Der genaue Umstand seines Todes ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass Otto Neubieser dem Holocaust zum Opfer gefallen ist. Er ist damit einer von unzähligen Schicksalen, über die nur wenig bekannt ist.
Alles, was Otto und Elisabeth taten, war ihre Liebe zu leben und dies allen Widrigkeiten zum Trotz. Weder die Gesellschaft noch diskriminierende Gesetze konnten sie davon abhalten, sich zu lieben. Am Ende führte ihn dies ins Zuchthaus und von dort aus in die Deportation. Sein Leben, welches sich mithilfe der archivierten Dokumente rekonstruieren lässt, liest sich, wie eine tragische Liebesgeschichte. Dies scheint auf den ersten Blick auch so zu sein. Es muss jedoch bei jeder Biographieforschung beachtet werden, dass die Dokumente nur Hinweise über das Leben eines Menschen enthalten. Sie dokumentieren lediglich einen Bruchteil seines Daseins. Es bleiben viele Fragen offen, auf die wir keine Antwort haben. Die Gefahr besteht darin, zu viel aus den Schriftstücken herauszulesen und ein Leben zu skizzieren, welches so nie gelebt worden ist. Auch in Bezug auf Otto lässt sich daher nicht sagen, ob er sich überhaupt als ,,Jude” identifizierte und welche Eigenschaften ihn als Person ausmachten. Genauso wenig geben uns die Akten Aufschluss darüber, wie die Gesellschaft dieser Tage wirklich über Otto dachte. Wir kennen lediglich die Gerichtsakten, die Otto als Juden im Sinne der NS-Ideologie stigmatisierten. Auch wenn spätestens seit den Nürnberger Gesetzen Jüdinnen und Juden ausgegrenzt und diskriminiert wurden, bleibt offen, welche Erfahrungen Otto jenseits der staatlichen Diskriminierung machte und welche Ereignisse die erlebte Realität dieser historischen Figur prägten. Vielmehr könnten sie ihn auch als einen Teil ihrer Gesellschaft wahrgenommen haben. Wie es tatsächlich gewesen ist, kann heutzutage niemand sagen.
Was sich anhand der Quellen durchaus sagen lässt: Zwar ist er ausgegrenzt worden, aber er hat sich versucht, in die christliche Gemeinschaft einzufügen. Zudem wurde Otto als ,,Jude’’ wegen seiner familiären Herkunft stigmatisiert und ein Opfer des NS-Staates, aber genau weil er eben dieser Otto Neubieser gewesen ist, wurde er von seinen Mitmenschen geliebt.
Über die Autorin:
Katharina Tauschwitz studiert MA Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.
[1] Schulz und Bracher verwenden den Terminus „Polykratie“ für die Anfangsphase der NS-Diktatur. Beide machen auch deutlich, dass der politische Systemwechsel 1933/34 keine „Machtergreifung“ in einem aktivistischen Sinn gewesen ist, bei der die Hitler-Bewegung gegen starke Widerstände der tonangebenden Eliten die Schalthebel der politischen Macht an sich gerissen habe, sondern eine „Machtübergabe“. Hierzu siehe: Rüdiger Hachtmann: Polykratie – Ein Schlüssel zur Analyse der NS-Herrschaftsstruktur?, in: Docupedia – Zeitgeschichte, online unter: https://docupedia.de/zg/Hachtmann_polykratie_v1_de_2018 (20.10.2024).
[2] Für diesen Versuch, das Leben von Otto Neubieser darzustellen, wurden folgende Dokumente genutzt: Evangelischer Kirchenkreis Berlin Mitte: ,,Getauft und deportiert”, online unter: https://www.kkbs.de/messiaskapelle/getauft-und-deportiert (20.10.2024); Bundesarchiv: Eintrag “Otto Neubieser”, in: Memorialbook.Victims of the Persecution of Jews under the National Socialist Tyranny in Germany 1933 – 1945, online unter: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/en1126525 (20.10.2024); Gerlind Lachenicht: Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft, die zwischen 1933-1940 in der Messiaskapelle getauft wurden (ausführliche Liste über Gerlind Lachenicht abrufbar, gekürzte Liste online unter: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/wp-content/uploads/2009/12/mk-deportationsliste.pdf (20.10.2024); Arolsen Archives: Karteikarten und Personalakte des Zuchthaus Luckau, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/12123502 (20.10.2024); Arolsen Archives: Akte von Neubieser, Otto, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/12102271 (20.10.2024); Arolsen Archives: Dokumente mit Namen ab Natt, Kallmann, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/11250209 (20.10.2024).
[3] Vgl. Michael Ley: ,,Zum Schutze des deutschen Blutes…’’. ,,Rassenschande’’- Gesetze im Nationalsozialismus, Bodenheim b. Mainz 1997, S. 77.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. Lea Essers: „Wie ein Dankeschön oder wie eine Entschuldigung“. Die Geschichte einer Familiengeschichte, online unter: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/16/wie-ein-dankeschoen-oder-wie-eine-entschuldigung/ (20.10.2024).
[6] Vgl. ELAB: Gedenkort Messiaskapelle, online unter: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/gedenkort-messiaskapelle-2/ (20.10.2024).
[7] Die Taufen in der Messiaskapelle wurden der nahe gelegenen Segensgemeinde zugerechnet. Die zugehörige Kirche war die Segenskirche im Prenzlauer Berg, heute das Stadtkloster Segen, vgl. ebd.
[8] Der außereheliche Verkehr zwischen Juden und ,,arischen” Personen wurde mit Zuchthaus oder Gefängnis zwischen einem und 15 Jahren bestraft. Die Strafe betraf nur Männer und hierbei war gleichgültig, ob sie jüdisch oder nicht waren; mehr siehe hier: Michael Ley: ,Zum Schutze des deutschen Blutes…’’. ,,Rassenschande’’- Gesetze im Nationalsozialismus, Bodenheim b. Mainz 1997, S. 79 – 81.
[9]Mehr dazu siehe: https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/schicksalsjahr-1938/258895/ab-heute-heisst-du-anders/ (20.10.2024).