Pakistanische Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien – WOCMES-Konferenzteilnahme

Sebastian Sons

Pakistanische Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien kann als historische Konstante bezeichnet werden, die die Entsende- und Aufnahmegesellschaften kulturell und sozial prägt, transnationale Netzwerke geschaffen hat und als wirtschaftliche Einnahmequelle für Pakistan von überragender Bedeutung geworden ist: Zwischen 1971 und 2015 emigrierten über acht Millionen Pakistaner*innen[1] in die Golfstaaten, davon mehr als die Hälfte nach Saudi-Arabien (Bureau of Emigration and Overseas Employment 2016; Arif, Ishaq 2015). Geschätzte 2,5 Millionen leben und arbeiten derzeit im Königreich (Amjad, Arif, Iqbal 2016). Zwischen 2000 und 2015 stiegen die Rücküberweisungen um 15% auf 18 Mrd. US-Dollar im Jahr 2015. Allein 5,6 Mrd. US-Dollar dieser Geldtransfers stammen aus Saudi-Arabien. Somit umfassen die Rücküberweisungen etwa 8% des Bruttoinlandsprodukts und sind fast genauso so hoch wie 75% der Gesamtexporte (24 Mrd. USD in 2015) (Amjad, Arif, Iqbal 2016). Darüber hinaus erfährt Saudi-Arabien als „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina für viele pakistanische Migrant*innen eine besondere kulturell-religiöse Attraktivität, da die berufliche Perspektive durch die Option ergänzt wird, die obligatorische Pilgerfahrt im Islam durchzuführen und auf „heiligem Boden“ leben zu können.

 

 

Die Vielschichtigkeit und Komplexität von Migration nach Saudi-Arabien bestimmt daher den Alltag vieler pakistanischer Gesellschaftsschichten, wird aber interessanterweise in den nebeneinander existierenden medialen Öffentlichkeiten des reglementierten pakistanischen Mediensystems kaum kontrovers diskutiert. Trotz der alltäglichen Präsenz von Migration existiert demnach eine weitreichende mediale Absenz: Pakistanische Medienakteur*innen widmen sich ausschließlich den wirtschaftlichen und politischen Implikationen von Migration, sodass soziale Herausforderungen und Probleme im Rekrutierungsprozess, im Umgang mit den saudischen Arbeitgeber*innen (den sogenannten „Bürgen“) oder für die daheimgebliebenen Familienangehörigen medial tabuisiert werden. Die politischen, wirtschaftlichen und administrativen Eliten zeigen kaum Interesse daran, gravierende Menschen- und Arbeitsrechtverletzungen an den pakistanischen Migrant*innen sichtbar werden zu lassen, da es sich bei den Rücküberweisungen um die zweitwichtigste Einnahmequelle der pakistanischen Wirtschaft handelt, die sie nicht gefährden möchten, und daher politische Konflikte mit dem Empfängerland scheuen. Mediale Akteur*innen müssen sich daher in ihren Medienpraktiken und -strategien oftmals dem Druck dieser Staatseliten beugen, sodass eine kritische Medienberichterstattung durch Journalist*innen in traditionellen und neuen Medienformaten oder durch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft bislang kaum existent war.

Doch dies ändert sich zunehmend: Schrittweise widmen sich einige mediale Akteur*innen in Pakistan den ambivalenten und komplexen Migrationsprozessen in die arabischen Golfstaaten und vor allem nach Saudi-Arabien. Sie wollen in vielfältiger Form die kritischen Aspekte des Phänomens medial sichtbar machen und in einer bestimmten Öffentlichkeitssphäre des pakistanischen Mediensystems platzieren und zur Debatte stellen. Ihre Ziele sind es, politische und rechtliche Rahmenbedingungen zum Schutz der Migrant*innen und ihrer Angehörigen zu initiieren, auf bestehende Probleme im Empfängerland sowie während des Rekrutierungsprozesses hinzuweisen, Implikationen sozialer Rücküberweisungen zu identifizieren und mediale Sichtbarkeit dieser Themen herzustellen. Zwar bezeichnen sich diese Akteur*innen nicht explizit als Vertreter*innen einer alternativen Gegenöffentlichkeit, fordern aber durchaus bestehende Narrative und damit den Status quo heraus. Dadurch geraten diese Medienakteur*innen in Konflikt mit staatlichen Akteur*innen, die einerseits von ihnen kritisiert werden, wenngleich sie andererseits aber auch auf deren Unterstützung angewiesen sind. Somit müssen die medialen Akteur*innen den Balanceakt meistern, zum einen bestehende Diskurse und Tabus zu Migration aufzubrechen bzw. zu erweitern, zum anderen diese Sichtbarkeit jedoch in den existierenden Grenzen des pakistanischen Mediensystems herzustellen. Dies wirkt sich auf die Strategien und Praktiken der Medienakteur*innen aus, die zumeist einflussreiche Eliten aus Politik und Wirtschaft adressieren, sich für das jeweilige Engagement einzusetzen, während die Netzwerkherstellung zu den Migrantencommunities oder -diasporas vernachlässigt wird. 

 

 

Sebastian Sons untersucht in seinem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel „Alltägliche Präsenz, mediale Absenz: Praktiken, Medienstrategien und -inhalte bei pakistanischen Medienakteur*innen zu Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien“ solche Akteur*innen und arbeitet daran, eine bestehende Forschungslücke zur medialen Sichtbarmachung von Migration in der pakistanischen Öffentlichkeit zu schließen. In diesem Zusammenhang präsentierte Sons im Rahmen des World Congress for Middle Eastern Studies (WOCMES) in Sevilla (Spanien) vom 16.-22. Juli 2018 seine vorläufigen Arbeitsergebnisse einem ausgewählten Fachpublikum. Er nahm dafür teil an dem Panel „Interactions in the Gulf-South Asian space: Pakistani migration to the Gulf“, welches am 19. Juli stattfand und von Dr. Antía Mato vom Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) organisiert wurde. Sie sprach über „Migrants from Pakistan and patrons from the Gulf: building transnational spaces“. Dr. Dietrich Reetz, ebenfalls vom Berliner ZMO, widmete sich dem Thema „The ex-territorial extension of Pakistan in the Gulf: plural life-worlds of Pakistani migrants in the UAE“.

In seinem Vortrag erläuterte Sons die heterogenen Praktiken und Strategien diverser pakistanischer Medienakteur*innen und bezog sich hierbei auf seine im Jahr 2016 durchgeführte Feldforschung in Lahore und Islamabad. Dabei konzentrierte er sich auf die Arbeit von pakistanischen Journalist*innen, Menschenrechtsorganisationen sowie internationalen Organisationen wie die International Labour Organization (ILO), die in unterschiedlicher Art und Weise versuchen, Migration nach Saudi-Arabien öffentlich zu thematisieren, zu diskutieren und zu enttabuisieren. Er betonte, dass aufgrund der Sensibilität der saudisch-pakistanischen Beziehungen, die auf einer historisch gewachsenen strategischen Allianz sowie einer wirtschaftlichen Abhängigkeit Pakistans gegenüber dem saudischen Partner basieren, die Möglichkeiten für das mediale Engagement dieser Akteur*innen limitiert bleiben. Dennoch haben sie in Form von Social-Media-Kampagnen zu in Saudi-Arabien inhaftierten pakistanischen Migranten, organisierten Demonstrationen, Orientierungskursen und -seminaren für zukünftige Migrant*innen sowie einer intensivierten Vernetzung zwischen engagierter Zivilgesellschaft und am Thema interessierten Journalist*innen Wege gefunden, die komplexe und ambivalente Vielschichtigkeit, existierende Probleme und mögliche Lösungsansätze in der medialen Öffentlichkeit zu platzieren.

Sons sieht im Engagement dieser Medienakteur*innen den Beginn eines medialen Wandels in Pakistan, der zu mehr Transparenz und Diversität in der Diskussion um Migration führen kann. Er betonte allerdings auch, dass sich die von ihm untersuchten Medienakteur*innen zumeist im nationalen Diskursrahmen bewegen, ohne transnationale Netzwerke zu den Diasporas oder ähnlichen Akteur*innen in den Empfängerländern gebildet haben, da sie weder über die notwendigen Kapazitäten verfügen, noch die Dringlichkeit wahrnehmen, ihre Themen transkulturell öffentlich zu machen.

WOCMES ist einer der wichtigsten europäischen Kongresse für Nahoststudien und Islamwissenschaften. Er fand zum fünften Mal statt (davor Mainz 2002, Amman 2006, Barcelona 2010 und Ankara 2014) und wurde in diesem Jahr von fast 3.000 wissenschaftlichen Teilnehmern der Sozial-, Politik-, Islam- Wirtschafts- oder Medienwissenschaften aus aller Welt besucht.

 

Bibliographie:

Amjad, R., Arif, G.M., Iqbal, N.: Measuring Costs for Low-Skilled Migrant Workers from Pakistan to Saudi Arabia and UAE, Paper präsentiert auf der Internationalen Konferenz „The Pakistani Diaspora: Strenghtening Linkages between Host and Home Countries, Lahore School of Economics, Lahore, 16.-17. Februar 2016.

Arif, G.M., Ishaq, T.: Irregular migration to the Gulf: The case of Pakistan, Cambridge 2015.

Bureau of Emigration and Overseas Employment: Export of Manpower Analysis Complete Report 2016, Islamabad 2016

 

Weiterführende Literatur:

Addleton, John: Undermining the Centre. The Gulf Migration and Pakistan, Oxford, New York, Delhi 1992.

Amjad, Rashid, Irfan, M., Arif, G. M.: An Analysis of the Remittances Market in Pakistan, in: Amjad, Rashid, Burki, Shahid Javed (Hrsg.): Pakistan. Moving the Economy Forward, Lahore, 2013, S. 345-374.

Arnold, Fred, Shah, Nasra M.: Asian Labor Migration: Pipeline to the Middle East, Boulder 1986.

Ballard, Roger: The Political Economy of Migration: Pakistan, Britain, and the Middle East, in: Kalra, Virinder S. (Hrsg.): Pakistani Diasporas. Culture, Conflict and Change, Oxford 2009, S. 19-42.

Bose, Sugata: A Hundred Horizons: The Indian Ocean in the Age of Global Empire, Cambridge 2006.

Clarke, Colin, Peach, Ceri, Vertovec, Steven Clarke: Introduction, in: Ebd. (Hrsg.): South Asian Overseas. Migration and ethnicity, Cambridge 1990, S. 33-38.

Gardner, Andrew M.: City of Strangers. Gulf Migration and the Indian Community in Bahrain, Ithaca, London 2010.

Gilani, T. et al.: Labour Migration from Pakistan to the Middle East, Islamabad 1979.

Kamrava, Mehran, Babar, Zahra (Hrsg.): Migrant Labor in the Persian Gulf, London 2012.

Kapiszewski, Andrzej: The Changing Status of Arab Migrant Workers in the GCC, in: Journal of Social Affairs 20(2003)78, S. 39-60.

Prakash C. Jain, Ginu Zacharia Oommen (Hrsg.): South Asian Migration to Gulf Countries. History, policies, development, New York 2016.

Silvey, Rachel: Transnational Islam. Indonesian Migrant Domestic Workers in Saudi Arabia, in: Falah, Ghazi-Walid, Nagel, Caroline (Hrsg.): Geographies of Muslim Women. Gender Religion, and Space, New York, London 2005, S. 127-146.

Sons, Sebastian: Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter, Berlin 2016.

Willoughby, John: Ambivalent anxieties of the South Asian-Gulf Arab labor exchange, in: Fox, John W., Mourtada-Sabbah, Nada, Al-Mutawa, Mohammed (Hrsg.): Globalization and the Gulf, London, New York 2006, S. 223-243.

[1] Allerdings ist mit 99,5% die überragende Mehrheit der Auswanderungswilligen männlich.  


Sebastian Sons ist Doktorand bei Prof. Dr. Nadja-Christina Schneider am Querschnittsbereich „Gender and Media Studies for the South Asian Region“ am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, studierte Islamwissenschaften, Neuere Geschichte und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Damaskus und arbeitet als Associate Fellow im Programm Naher Osten und Nordafrika der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

3. September 2018 | Veröffentlicht von
Veröffentlicht unter Allgemein

Schreiben Sie einen Kommentar

(erforderlich)