Bibliotheken im Wirbel der Geschichte – eine Spurensuche im Archiv

„Ewig still steht die Vergangenheit“, sagt Konfuzius, und doch ist sie oft so schwer zu erkennen. Wie hilfreich kann es da sein, neben einer großen Bibliothek auch ein akribisch geführtes Archiv konsultieren zu können. Dort ist kürzlich ein Dokument ans Licht der Gegenwart gekommen, dessen Bedeutung vielleicht nicht richtig eingeschätzt wurde. Muss die Geschichte vielleicht doch, und schon wieder, umgeschrieben werden? Um die wahre Aussagekraft des Briefes beurteilen zu können, bleibt nichts anderes, als zunächst die historischen Umstände genauer zu beleuchten.

In Zusammenhang mit der Dokumentation der historischen Bibliotheksbestände werden derzeit an der UB Recherchen durchgeführt, um die Geschehnisse und Folgen der Auslagerung ihrer Buchbestände während des zweiten Weltkrieges nachzuzeichnen. Wie in vielen deutschen Bibliotheken, wurden ab dem Frühjahr 1943 mit zunehmender Konsequenz auch in der UB zehntausende Bücher in Kisten verpackt, um sie dann in alle Teile des ehemaligen Deutschen Reiches zu verfrachten. Warum dieser Eifer?

Das Risiko der fast täglichen Bombardierungen großer Städte schien deutlich höher gegenüber der wenig behüteten Verschickung von wertvollen Büchern auf das flache Land. Ein bibliothekarischer Alptraum. Vieles war da recht. Nur raus aus den Großstädten, von denen zu dieser Zeit schon Dutzende täglich tiefer im Schutt versanken. Zur Angst um das tägliche Überleben kam die Sorge, dass die unersetzlichen Buchbestände Opfer der Flammen würden. Von den geschätzt insgesamt 75 Mio. Bänden in den wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands, waren bis Mitte 1943 schon ca. 10% zerstört (bis Ende des Krieges ca. 30%). Hinzu kam, dass die zentrale UB nach behördlicher Anordnung geöffnet und arbeitsfähig bleiben musste, als einzige große wissenschaftliche Bibliothek in Berlin mit kriegswichtiger Funktion. Damit wurde der Totalverlust der UB bewusst in Kauf genommen. Allein die wertvollsten Sammlungsstücke der UB durften auf dem Weg der Auslagerung in feuchte Keller, Bergwerksstollen und Provinzgasthöfe verbracht werden.

Der damalige Universitäts-Kurator unterstützte mit Hilfe eines Luftschutzfonds die Suche nach passenden Zufluchtsorten und die Organisation der Auslagerungen für eine Vielzahl von Institutsbibliotheken, deren Auslagerung leichter möglich war.

An jenem 2. Juni 1943 nun, auf den der erwähnte Brief datiert, erreichte den Kurator neben vielen anderen auch das Schreiben des Dekans und Mathematikers Ludwig Bieberbach. In dem Brief berichtet der Dekan: „Aus meinem Amtszimmer ist der mir persönlich gehörige kleine Aschenbecher aus getriebenem Messing verschwunden“. Und weiter bittet der Dekan „… um seine Wiederherbeischaffung besorgt zu sein“. OMG! Zeitpläne waren so natürlich nicht mehr zu halten. Nur noch zwölf Monate bis zum D-Day und jetzt – war der Aschenbecher weg! Zum Glück konnte die Angelegenheit doch noch auf einem unbürokratischen Weg rechtzeitig aus der Welt geschafft werden.

Wie sehen Sie die geschichtliche Dimension dieses Fundes? Vielleicht sollten wir die Bewertung der Tragweite auch einer späteren Generation überlassen?

Klar aber ist, dass dieser Verlust kein großes Bedauern ausgelöst haben dürfte, da es in der damaligen Zeit die größte Obsession des betreffenden Dekans Bieberbach war, nichtarische Lehrkräfte unter härtesten Bedingungen aus der Universität zu verdrängen. Als ideologischer Hardliner hatte er sich seit 1933 rasch zum Großinquisitor der Universität entwickelt. Auch Bieberbachs ‚Rassenlehre der Mathematik‘ dürfte nicht alle überzeugt haben.

Für mich heißt es vorerst weiter blättern, um Dokumente aufzustöbern, deren Tragweite sich unmittelbarer erschließen lassen, jedenfalls mir. Und dann wird es eine ganz andere Geschichte. So wie vielleicht auf Grundlage eines mehrseitiges Berichtes über eine Auslagerungsaktion ins Oderbruch. Sollten Sie an einer Zusammenfassung dieses Berichtes auf dem Blog Interesse haben, dann geben Sie uns bitte eins kurzes Feedback. Story on demand, quasi.

Zunächst aber wünsche ich Ihnen, auch im Namen der UB, ein gesundes, erfolgreiches und nicht zuletzt friedliches neues Jahr … auch wenn mal kein Aschenbecher in der Nähe ist 😉

HUB, UA, UK Generalia, 1221, Bl. 96. Foto: Torsten Ohst
HUB, UA, UK Generalia, 1221, Bl. 96. Foto: Torsten Ohst

 

4. Januar 2016 | Veröffentlicht von
Veröffentlicht unter Universitätsarchiv

2 Kommentare zu “Bibliotheken im Wirbel der Geschichte – eine Spurensuche im Archiv

  1. Sehr geehrter Herr Ohst,

    besten Dank für diese Anekdote (i.S. unveröffentlichte/bislang nicht veröffentliche Geschichte bzw. Begebenheit): sehr interessant!
    Ich bin an der Zsfg. d. Berichts über die Auslagerung in den Oderbruch interessiert u möchte deshalb gern Ihr Angebot des story-on-demand nutzen u die Zuspielung jener Anekdote erbitten.
    Ihre guten Wünsche für das neue Jahr erwidernd, mit besten Grüßen, Jörn Münkner

  2. Sehr geehrter Herr Ohst,

    auch wir als Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam interessieren uns für die ganze Geschichte! Kriege gefährden nicht nur Menschen, sondern auch Kulturgüter. Vor allem den Raubzügen, Auslagerungen, Beschlagnahmungen von Kulturgut im Zweiten Weltkrieg gilt ja zunehmend das Interesse der Community, zwar spät, aber hoffentlich nicht zu spät!
    Beste Grüße aus Potsdam von Gabriele Bosch

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