In einem Hinterhof auf der „Castingallee“

Auf der Suche nach einem neuen Zuhause im Prenzlauer Berg, 1998

Der Wohnungsmarktbericht, der die Jahre 1991 bis 2000 zusammenfasst spricht im Bezug zur Hauptstadt von einer Wirtschaft, die „einen beispiellosen Strukturwandel erlebt“ hat. „In rasantem Tempo entwickelte sich die Hauptstadt weg von einer klassischen Industriestadt hin zu einer modernen Dienstleistungsmetropole“[1]. Aus dem Bericht geht hervor, dass der Ortsteil Prenzlauer Berg in den 1990er Jahren noch keinen allgemeinen Zuwachs vermerken konnte. Während im Jahr 1993 noch 148.210 Menschen dort lebten, waren es 1998 nur noch 135.010. Dennoch erfreute sich das Viertel großer Beliebtheit in der Wendezeit und um die Jahrtausendwende herum äußerte sich diese durch immer größer werdende Wohnungsknappheit trotz massiver Bebauung, „zwischen 2002 und 2011 stieg die Bevölkerung um knapp 20% (Diller 2014, 51; Zahlen aus den Jahren 2012-2013)“[2] im Kollwitz-Kiez des Prenzlauer Bergs. Die 1990er Jahre waren jedoch vor allem geprägt von großflächigen Sanierungsmaßnahmen und Ausbauten von Dachgeschosswohnungen in bestehenden Häusern, wie mir meine Interviewpartner*innen erzählen.

Im Prenzlauer Berg vollzog sich ein demographischer, und damit einhergehend ein finanzieller und sozialer Wandel vor allem in den frühen 2000er Jahren. Eines der prägnantesten Stichworte in meiner Recherche scheint das der „Gentrifizierung“ des Viertels zu sein. Was in den 1970er Jahren als wertvolle Aufwertung des Prenzlauer Bergs begann (Künstler*innen und junge Menschen zogen in den Kiez und werteten ihn mit eigenen, beschränkten, aber effektiven Mitteln auf), nahm um die Jahrtausendwende einen rasanten Lauf und transformierte das Wohnviertel zu einem der beliebtesten Wohnorte der Hauptstadt.

Die Frage, die sich also stellt, ist vor allem folgende: wer lebte tatsächlich 1998 im Prenzlauer Berg und wie hat sich das allgemeine Wohnverhältnis seitdem verändert? Kann man von Verdrängung sprechen? Wo liegen die Wurzeln dieses Wandels: eher im finanziellen Umbruch (nicht mehr haltbare Mieten) oder in der allumfassenden Gentrifizierung jeder Ecke des Prenzlauer Bergs? Inwiefern kann man also behaupten, dass der Bezirk aufgrund seiner Beliebtheit immer homogener, und dadurch im Umkehrschluss auch unattraktiver, geworden ist? Die Künstler*innen und Denker*innen wurden mit den Jahren zu Müttern mit großen, teuren Kinderwägen und reichen Investor*innen. Die junge Mietergeneration lebt immer weniger im sogenannten „Prenzlberg“, da sie es sich in den wenigsten Fällen leisten kann und vor Ort auch nicht mehr der gleiche kreative Entfaltungsraum vorzufinden ist, wie noch in der Wendezeit.  

Wie wurde der Wohnungsmarkt tatsächlich wahrgenommen? Und wurde die gesellschaftliche Veränderung im Laufe der Jahre auch als solche beobachtet?

Florian und Lucie entschieden sich Anfang 1998 dafür, nach mehreren Jahren im kanadischen Ausland, nach Berlin zu ziehen. Die Zeit war knapp bemessen, die beiden erwarteten in nicht einmal zwei Monaten ihr erstes Kind und wollten laut Lucie „ein neues, kleines Nest“ finden, wo sie sich einrichten und eine Familie gründen wollten. Es hieß also, bei Freunden in und um Berlin Obdach zu finden und die lokalen Zeitungen nach Annoncen zu durchforsten. Wohnungssuche im Internet gab es damals noch nicht. „Man hat die Zeitung gekauft und sich die Anzeigen angestrichen. Dann musste man anrufen. Ich weiß gar nicht ob wir damals schon Mobiltelefone hatten, oder nicht. Alles noch über Festnetzanschlüsse oder man musste in die Telefonzelle gehen.“, erinnert Florian sich.

Dann wurde man zu den Besichtigungen eingeladen. Lucie dazu: „Ich habe das alles als ziemlich stressig empfunden, weil wir nie allein auf einer Besichtigung waren. Es war nie privat.“ Auch damals gab es also fast immer Konkurrenz bei der Suche nach einer adäquaten Bleibe. Der Leerstand längerfristig vermietungsfähiger Wohnungen in Berlin war  auch in den 90er Jahren schon relativ gering, 1999 lag er bei 2,9%[3] aller Berliner Wohnungen.

Das junge Paar hatte einige Freunde in der Stadt und wollte sich deshalb bei der Suche vorrangig auf die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg konzentrieren, um ihnen möglichst nah zu sein. „Der Osten erschien damals auch noch wesentlich interessanter als Westberlin“, meint Florian zusätzlich. Die beiden hatten jedoch auch ein Budget, welches oft überschritten hätte werden müssen, um sich das Wohnen in den Wahlbezirken leisten zu können. Der damalige Mietpreis von Alt- und Neubauten in der Hauptstadt belief sich im Osten durchschnittlich auf 6,70 Deutsche Mark pro Quadratmeter, weit unter dem Schnitt anderer deutscher Großstädte (Leipzig lag bei rund 10 D-Mark, München sogar bei 19 D-Mark)[4]. Die beiden, die bis heute im Prenzlauer Berg leben, sprechen aber vor allem von dem Gefühl einer allgemeinen Knappheit. Die renovierten und irgendwann auch neu gebauten Wohnungen waren dann nämlich wirklich nicht mehr bezahlbar. Florian räumt ein: „Wir sind tatsächlich ein Beispiel von jemandem, der nicht viel Zeit hatte. Und wir mussten das ziemlich schnell auf die Reihe kriegen und manche, die normal Zeit gehabt haben, und sich ein bis zwei Monate intensiv Wohnungen angucken und nichts anderes machen, die finden auch andere, bessere Sachen“. Den Luxus einer langen Wohnungssuche konnten sich die beiden damals aber nicht erlauben.

Schließlich sind sie in einer Hinterhof-Wohnung auf der Kastanienallee fündig geworden, einer Mischung aus Souterrain und Hochparterre. Die hat dann auch wieder ins Budget gepasst. „Es war letztendlich die letzte Wohnung, die wir uns angeguckt haben“, erinnert sich Florian „Wir waren müde, wir waren kaputt, es war in einem finsteren Hinterhof. Aber es war abends und es schien eine Laterne vor dem Haus und es war ein bisschen romantisch, irgendwie.“ Vor allem wurde der Zeitdruck immer spürbarer, die Nerven lagen blank, bald stand die vorübergehende Rückkehr nach Kanada an. Die Wohnung würde als Übergang reichen müssen. Lucie schmunzelt: „An die Laterne kann ich mich nicht erinnern.“ Aber sie berichtet davon, dass der Hinterhof immerhin eine dauerhafte Parkmöglichkeit hergab und man im Sommer eine Art privaten Garten mitten in der Stadt hatte: „Es war die Kastanienallee, wir waren im Herz des Prenzlauer Berg. Wir haben von der Lage also schon das bekommen, was wir wollten, aber die Wohnung war schwierig. Man konnte nur so halb ausmachen, dass da draußen Tag ist, aber davon hat man nichts mitbekommen, weil wir in diesem Loch gesteckt haben.“

Auf die Frage, wie lange die Suche letztendlich gedauert habe, müssen die beiden herzlich lachen. Insgesamt waren es nicht mehr als 2 bis 3 Wochen, diese jedoch intensiv genutzt mit rund 10 bis 15 Besichtigungen. Kaum vorstellbar, innerhalb von so wenig Zeit mitten auf der Kastanienallee heute noch etwas zu finden. Sie ist bis heute eine der teuersten Straßen, was das Wohnen anbelangt, vor allem beliebt wegen ihrer vielen Läden und der Nähe zum Mauerpark.

In den Texten zum Thema der Wohnsituation im Prenzlauer Berg finden sich vor allem Begriffe, wie die der „baulichen“ und „sozialen Aufwertung“, was damit zusammenhängt, dass das Viertel mit seinem rohen, unangetasteten Ost-Charakter unglaublich viel Raum zur Verbesserung und zum Wachstum hergegeben hat. „Zu Beginn der 1990er Jahre befand sich der größte Teil der Bausubstanz in einem heruntergekommenen Zustand, beispielsweise besaßen 43% der Wohnungen kein Bad, häufig waren Dächer undicht und Zentralheizungen gab es i.d.R. nicht“ (Müller-Mahn 2005, 116)[5]. Immer mehr Ankäufe von Wohnungen und Häusern privater Investoren „führten […] zu den heute vollständig sanierten Straßenzügen. Die damit einhergehenden Mieterhöhungen bzw. Immobilienpreise resultierten in einem Wanderungsdruck, der sich insbesondere in der Darstellung der sozialen Aufwertungsprozesse widerspiegelt.“[6]. Als ich Lucie und Florian auf die Veränderungen innerhalb des Prenzlauer Bergs anspreche, wissen sie genau was ich meine. Schon damals gab es wohl den Begriff der „Castingallee“, wenn man von der Kastanienallee spricht. Eine Straße voller „junger, hipper Leute.“ Florian erzählt von einem aufregenden neuartigen Empfinden, welches sich irgendwie nach „Aufbruch“ und „Frische“ anfühlte. Diese jungen Menschen sind irgendwann in den 2000ern zu Eltern geworden. Partyschuppen und alternative Anlaufstellen wurden von Biomärkten und modernen Neubauten nach und nach vertrieben. Florian spricht von Zuzug „aus der ganzen Bundesrepublik: junge Leute, die mittelständig waren, gesellschaftlich höhergestellt, und von ihren Eltern die Wohnungen bezahlt bekommen haben.“ Lucie ergänzt seine Beobachtungen mit der Erinnerung an den aufkommendem Schwabenhass und immer mehr Kinderwägen auf der Straße. „2008 leben tatsächlich nur noch 25% der Bewohner aus der Vorwendezeit im Prenzlauer Berg, was als das Vierfache der als normal angesehen Fluktuation einzuschätzen ist. Insbesondere das Sanierungsgebiet des Kollwitzkiezes steht „an der Spitze des Gentrificationprozesses“ und liegt „als einziges gründerzeitliches Gebiet auf einem Niveau mit den traditionellen bürgerlichen Altbauvierteln des Berliner Südwestens“ (Diller 2014, 53)“[7].

Alleine am SPIEGEL Artikel „Der Charme des Maroden“ von 1998, lässt sich schon der heute weit verbreitete Unmut über den kulturellen und sozialen Wandel im Herzen des Prenzlauer Berg erkennen: „Mit Trauer beobachten viele Aktivisten des Herbstes 1989, wie sie einst mühsam erkämpften Boden verlieren: Ihr „Reformhaus“ in der Oderbergerstraße wurde zum Café, in der ersten Besetzerkneipe am „Kolli“ serviert nun ein Italiener.“ Der Artikel spricht von „lärmende[n] Touristen und Eindringlinge[n]“, von „Studenten aus dem Westen“[8], die den Charme des einst so heruntergekommenen, aber authentischen Bezirks schwinden lassen. Auch hier wird ‚arm, aber sexy‘ verdrängt von ‚reich und poliert‘.

„Ein Großteil des Bestandes wurde innerhalb weniger Jahre modernisiert. Der Altbezirk ist mittlerweile überregional zum Synonym für die Aufwertung innerstädtischer Altbaubezirke geworden.“[9], heißt es im Jahresbericht des Senats für Stadtentwicklung, diesmal dem vom Jahr 2019. Das Lebensgefühl sei mittlerweile ein ganz anderes, erzählen Lucie und Florian. Die jungen Leute können sich den Prenzlauer Berg nicht mehr leisten: „Keiner kann, aber keiner will auch mehr“, meint Florian. Lucie pflichtet ihm bei und fügt hinzu: „Die Künstler, die den Prenzlauer Berg ausgemacht haben, sind eben alt geworden.“ Der immense Zuzug der letzten Jahre scheint dafür gesorgt zu haben, das, wofür die Leute in den Prenzlauer Berg ziehen, endgültig vertrieben zu haben.

Als ich den beiden die Frage stelle, ob sie sich auch heute wieder für einen Neuanfang im Prenzlauer Berg entscheiden würden, winken sie eher ab. Es hat sich zu viel verändert in den letzten Jahren. Florian bewegt sich „nicht mehr so gerne hier im Kiez“, würde heute eher zu Kreuzberg oder noch weiter in den Westen tendieren, irgendwo, wo wenigstens noch was los ist. Lucie würde auch gerne den Westen erkunden, „Charlottenburg oder Schöneberg ganz neu kennenlernen“. Die Übergangsbleibe im Hinterhof haben die beiden jedoch nach knapp 2 Jahren schon wieder verlassen und sind nach ein paar weiteren Jahren wieder im Prenzlauer Berg, diesmal doch in einer eigenen hellen Dachgeschosswohnung, fündig geworden.


[1] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Investitionsbank Berlin (Hrsg.) (2000): Der Berliner Wohnungsmarkt. Bericht 1991-2000. Online verfügbar unter https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsmarktbericht/, letzter Aufruf 17.01.2021, S. 8

[2] Fögele, J., Hofmann, R., Mehren, R. et al: Gentrifizierung am Prenzlauer Berg (2016) S.5

[3] Der Berliner Wohnungsmarkt. Bericht 1991-2000, S.38

[4] Ebd. S.75

[5] Gentrifizierung am Prenzlauer Berg (2016) S.5

[6] Ebd. S.6

[7] Ebd.

[8] SPIEGEL, Ausgabe 15 vom 06.04.1998: Der Charme des Maroden.

[9] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Investitionsbank Berlin (Hrsg.) (2019): Der Berliner Wohnungsmarkt. Bericht 2019. Online verfügbar unter https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsmarktbericht/, letzter Aufruf 17.01.2021, S.92

Literaturverzeichnis

  • Fögele, J., Hofmann, R., Mehren, R. et al: Gentrifizierung am Prenzlauer Berg (2016)
  • Schäfer, Mona: Interview mit Florian und Lucie[1]. Berlin, 9.01.2021
  • SPIEGEL, Ausgabe 15 vom 06.04.1998: Der Charme des Maroden.


[1] Namen geändert

15. Februar 2021 | Veröffentlicht von ehemaliges Mitglied
Veröffentlicht unter Prenzlauer Berg

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