Archiv für August 2020

Konsistorialpräsident Paul Walzer – symptomatisch für Kirche in Berlin und Brandenburg in der Zeit 1934 und danach?

von Johan Wagner

In der Präsidentengalerie des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) gibt es auch im Jahr 2020 noch „eine bisher übersehene Lücke, die dringend geschlossen werden müsste“.[1] Im Personenlexikon des deutschen Protestantismus findet sich ein Hinweis zum ersten Konsistorialpräsidenten dieser „Lücke“ Paul Walzer. Dort stehen lapidar seine Lebensdaten: „*19.6.1879 Grodziozno (Westpreußen), gestorben 17.5.1936.“ Am Ende des Absatzes steht eine fast abschließend erscheinende Dreierreihe aus einem Symbol und zwei Buchstaben: „— DC“.[2] Paul Walzer, der erste Konsistorialpräsident für die Berlin-Brandenburger Region, der im Nationalsozialismus sein Amt antrat, war also „Deutscher Christ“.

Von der Provinz an die Schalthebel der Macht?

Die Frage für diesen Blogeintrag lautet: „Von der Provinz an die Schalthebel der Macht“? Ist das hier eine klassische Geschichte, wie der „homo novus“ aus dem Lateinunterricht, der in Rom in die Schicht der entscheidenden Patrizierfamilien aufsteigt? Einiges spricht dafür: Paul Walzer hat sich schon früh „deutsch-christlich“ engagiert. Er macht einen steilen Aufstieg, denn eine handschriftliche Notiz des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller, besagt am 5. Februar 1934, dass Landrat Walzer „mit sofortiger Wirkung“ zum Konsistorialpräsidenten ernannt wird.[3]

Ludwig Müller, das ist der Königsberger Wehrkreispfarrer, der auf Hitlers Wunsch zum „Reichsbischof“ wurde. Diese Ernennung durch Müller höchstpersönlich, war sie für Paul Walzer nicht ein ganz großer Schritt? Von einem Landrat in der ostpreußischen Provinz direkt auf den Berliner Stuhl eines leitenden Juristen einer Kirchenprovinz? Und ungewöhnlich ist auch, wie diese Ernennung von Müller erfolgte. Insbesondere für kirchliche Verwaltungen, in denen alles etwas langsamer zu gehen pflegt, ist es nicht üblich, dass jemand quasi „per Telegramm“ zum Konsistorialpräsidenten wird.

EKBO / Katharina Körting

Forschungsbedarf – ja oder nein?

Es ist interessant, dass in der „Ahnengalerie“ der Präsidenten des Konsistoriums heute eine Tafel hängt, die auf die oben genannte Lücke zumindest hinweist. Warum wird auf dieser Tafel noch die relativ offene Formulierung verwendet, dass die „Verbindung mit den Deutschen Christen“ noch der Erforschung bedarf? Denn zumindest was Paul Walzer angeht, ist diese Verbindung schon länger erforscht. Konsistorialpräsident Paul Walzer ist einer der wichtigen Akteure in der Auseinandersetzung um die sogenannten „intakten“ Landeskirchen. Es geht um den Versuch des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller und des Ministerialdirektors August Jäger diese Landeskirchen – euphemistisch gesagt – „gleichzuschalten“ und eine „Deutsche Reichskirche“ zu gründen. Eine der Kirchen, die sich gegen die „Gleichschaltung“ gewehrt haben, war die württembergische Landeskirche. Paul Walzer war ein juristischer Handlanger bei August Jägers und Ludwig Müllers Versuch, den „Widerstand“ (gegen die „Gleichschaltung“) in der Landeskirche von Württemberg und von Bayern zu brechen.

Er wurde von August Jäger und Ludwig Müller als „Verwaltungskommissar“ eingesetzt, wegen angeblicher Finanzungereimtheiten in der württembergischen Landeskirche. Walzer schrieb, während er im Herbst 1934 versucht, die württembergische Landeskirche unter seine Macht zu bringen, regelmäßig „Situationsberichte“ an den „Reichsbischof“ Ludwig Müller: „… Montag, den 10. September 1934. 7 Uhr. Dienstübernahme. Keine Schwierigkeit. Telefonzentrale anderweitig besetzt. SS-Mann als Ordonnanz eingestellt. Antrittsbesuch beim Landesbischof [Theophil Wurm, JW] (s. Anlage). Protest des Landesbischofs (s. weitere Anlage). Mittlere Beamte geschlossen hinter der Deutschen Evang. Kirche. Oberkirchenrat Dallinger und Oehler, die seit 17.4.1934 sich vom Landesbischof distanziert haben, sagen bereitwillig Mitarbeit zu. Direktor Müller Bedenkzeit ausgebeten. Protest Pressel (s. weitere Anlage). Mit Theologen noch nicht verhandelt …“[4]

Eine symptomatische Fotographie?

Paul Walzer war „Deutscher Christ“ und er war in hohem Maße exponiert in diesem Versuch, eine „Deutsche Evangelische Kirche“, eine zentralistische Reichskirche, zu gründen. Dieser Versuch misslang. Die Zeit lief danach gegen Paul Walzer. Denn es gab letztlich doch Protest, noch wichtiger waren gerichtliche Überprüfungen. Der Stern Paul Walzers sank schnell. Auch zur Vereidigung des „Reichsbischofs“ kam es nicht mehr. Im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin (ELAB) findet sich eine symptomatische Fotographie: Der Entwurf für die „Amtskette des Reichsbischofs“ – ein klassisches Kreuz, allerdings „gekrönt“ mit dem Hakenkreuz. Unten das Siegel der „Deutschen Evangelischen Kirche“ und des „Reichsbischofs“ mit trauter Vereinigung von Kreuz, Hakenkreuz und Lutherrose.[5]

Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin (ELAB 7.10/253)

Ludwig Müllers Amtseinführung als Reichsbischof war groß geplant: Im Berliner Dom sollte der „Führer“ Adolf Hitler den „Reichsbischof“ Ludwig Müller am 23. Oktober 1934 vereidigen. An dieser Machtkette hingen letztlich auch Juristen wie August Jäger und Paul Walzer. Klaus Scholder argumentiert sehr überzeugend: Am 19. Oktober 1934 spätestens beschloß Hitler, dass er diese Amtseinführung so nicht möchte. Es war ihm zu heikel. Damit war sein „Kirchenbeauftragter“ (Franz von Pfeffer bzw. Franz Pfeffer von Salomon) abberufen (25. Oktober 1934). Das war letztlich auch das Ende des ebenfalls steilen Aufstiegs von Ministerialdirektor August Jäger. Dieser versuchte seinen Sturz zu verbrämen: Seine Aufgabe sei in Grundzügen erreicht. Auch der „Reichsbischof“ war damit ein Ritter ohne Land, obwohl er noch weiter amtierte. Die „Oppositionsbewegung“, darunter auch die „Bekennende Kirche“, frohlockte schon, dass sie gegenüber dem Usurpationsversuch die Oberhand gewonnen habe. Allerdings zum Teil mit der Einschätzung, sie habe „den Führer“ auf ihrer Seite. Klar ist also: Die „Oppositionsbewegung“ war nicht durch Gegnerschaft zu Hitler per se gekennzeichnet. Sondern sie berief sich immer wieder auf „den Führer“ und „die Vorsehung“, also auf das pseudoreligiöse Argumentieren auch von Hitler selbst.[6] Beispielsweise auch um zu begründen, warum der Landesbischof Wurm in Württemberg legitim war und nicht Paul Walzer, der dort als Kommissar eingesetzt war.

Wie Strukturen und personales Element zusammenbringen?

Es soll in diesem Blogbeitrag auch um Insitutionen hinter den Menschen, in diesem Fall vor allem Paul Walzer, gehen. Die institutionellen Kirchenstrukturen waren und sind sehr verschachtelt, was an den Auseinandersetzungen um Landeskirchen und „Deutsche Evangelische Kirche“ schon deutlich geworden ist. Wie stellt sich diese Verschachtelung dar, lässt man den Blick von Paul Walzers „Wirkungszeit“ auf die gesamte Zeit von 1914 bis 1949 schweifen? Wie vielschichtig waren die Strukturen in der evangelischen Kirche im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ sowie der Nachkriegszeit? Ist es zwingend, von Berlin und Brandenburg auch auf die übergeordneten Ebenen zu schauen? Und wie schafft man es zugleich, nicht die Menschen, die gehandelt haben, zu vernachlässigen? Im Sinne eines „akteurszentrierten Institutionalismus“ bieten sich die Konsistorialpräsidenten, aber auch Abteilungsleiter etc. an, um nicht die Fehler der „menschenleeren institutionellen Strukturgeschichte“ zu begehen.[7] Wenn man nun eine „Lupe“ auf den Menschen Paul Walzer in der Struktur der evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg 1934 bis 1936 legt, kann man noch einmal die Frage nachvollziehen, die den Titel des Blogbeitrags bildet. Um wen geht es im Kern? Um einen Konsistorialpräsidenten, der der erste ist, der im NS-Staat ans Ruder kommt. Seine Lebensdaten zeigen die einschneidende Erfahrung in noch recht jungen Lebensjahren in der Zeit des Ersten Weltkriegs, er war in verschiedenen Orten des „Kirchenkampfes“ aktiv auf der Seite der „Deutschen Christen“.

Seine Geschichte zeigt exemplarisch, dass die „Zuversicht der NS-Führung auf rasche Gleichschaltung“ der evangelischen Kirche sich nicht bewahrheitete, viele Kirchenmitglieder und auch leitende Kirchenpersönlichkeiten konnten ihren christlichen Glauben jedoch mit einer Unterstützung des Regimes verbinden.[8] Diese starke Unterstützung wird für Paul Walzer allerdings zum Abschied aus Berlin führen, Anfang 1936 erfolgte eine Versetzung nach Königsberg. Es gab Auseinandersetzungen darüber, was eigentlich sein Status war. Was findet sich beispielsweise unter „Paul Walzer“ bei Wikipedia? Dort steht aktuell, dass er bis zu seinem Lebensende als Konsistorialpräsident von Berlin amtiert hat.[9] Dies lässt sich in seiner Personalakte so nicht wiederfinden. Gleichzeitig ist diese Feststellung keine Besserwisserei gegenüber den Wikipedia-Autor*innen, weil es auch in dem anfangs angeführten Personenlexikon nicht genau steht. Aus der Akte heraus sieht es so aus: Paul Walzer wurde nach Königsberg „entsorgt“, was wohl Anfang 1936 nicht ganz so überwiegend „bekennend-kirchlich“ war. Er war dann Oberkonsistorialrat. Und das war für ihn im Prinzip immer noch ein Erfolg. Denn in seiner Personalakte existiert ein Schreiben an den Evangelischen Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, dass der Provinzialkirchenrat der Mark Brandenburg in seiner Sitzung am 6. Februar 1935 einstimmig beschlossen hat: „Der Provinzialkirchenrat erhebt […] Einspruch gegen die Ernennung des Landrates W a l z e r zum Konsistorialpräsidenten in Berlin, weil ihm über die Eignung des Vorgeschlagenen für diese Stelle nichts bekannt ist. […]“ [10]

Was bedeutet Paul Walzers Geschichte für seine Nachfolger?

Der Provinzialkirchenrat versuchte ihn auf einer formalen Ebene anzugreifen. Die Lösung war schließlich, dass er Anfang 1936 noch einmal ernannt wurde (als „Oberkonsistorialrat“). Das bedeutete: Kirchenbeamter auf Lebenszeit mit guten Bezügen. Auf dem Dokument der Personalakte, auf dem dieser Vorgang dokumentiert wurde, findet sich noch ein Zusatz: „mit Wahrnehmung der Geschäfte des Konsistorialpräsidenten in Berlin betraut“ (allerdings durchgestrichen). Es gab ein Hin und Her, wie Paul Walzer rechtlich-statusmäßig einzuschätzen war. Er kämpfte – juristisch sehr klug – seine Bezüge durch: Paul Walzer drohte eine Klage an, sollte die Kirchenverwaltung ihm nicht auch in Königsberg weiterhin das Konsistorialpräsidentengehalt zahlen (ein höheres Gehalt als das eines „Oberkonsistorialrates“). Er konnte vielleicht den Titel nicht mehr führen, aber ihm ging es auch um das Geld. Die von Paul Walzer angegriffene Verwaltung gab klein bei: Die juristische Lösung war, dass die Ernennung zwar als ungesetzlich eingestuft wurde, es allerdings nicht den einzelnen betroffenen Beamten angelastet werden konnte. Das heißt Paul Walzer bezog weiter sein Konsistorialpräsidentengehalt.

Gleichzeitig lohnt es sich, ausgehend von meinem Eindruck aus der Personalakte zurück zum Titel des Beitrags zu gehen und zum Schluss die Frage zu stellen: Was bedeutet diese Geschichte auch für Paul Walzers Nachfolger, für Georg Rapmund, für Walter Siebert, für Dr. Johannes Heinrich? Gibt es eine „deutsch-christliche“ Tradition in diesem Konsistorium? Man wird 1934 bis 1945 an dieser Stelle der Institution keine Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus finden.


[1] „Konsistorium“ ist nur noch in der EKBO der Name für die landeskirchliche Verwaltung, in anderen Landeskirchen nennt sie sich „Kirchenamt“ oder ähnlich. Zur Lücke in der Präsidentengalerie: Krogel, Wolfgang, Normalität und Notstand. Pfarrschaft, Juristen und protestantisches Milieu 1914 bis 1949 – Forschungsfragen zum Beitrag protestantischer Strömungen zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, 69. Folge, 2019, S. 117-130, hier: S. 127.

[2] Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919–1949, zusammengestellt und bearbeitet von Hannelore Braun und Gertraud Grünzinger, Göttingen 2006, S. 268.

[3] Ev. Zentralarchiv 7/P/1469.

[4] Archiv der EKD, A 4, Bd. 115 zitiert nach Gerhard Schäfer, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, Bd. 3, Stuttgart 1974, S. 530, FN 15a.

[5] Ev. Landeskirchliches Archiv in Berlin 7.10/253.

[6] Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2, München 2000, S. 394-403.

[7] Martin Lutz, Akteurszentrierter Institutionalismus, in: Clemens Wischermann, Katja Petzel-Mattern, Martin Lutz et al. (Hg.), Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Stuttgart 2015, S. 48-52, hier S. 51. Vgl. Simone Lässig: Introduction: Biography in Modern History – Modern Historiography in Biography, in: Volker R. Berghahn, Simone Lässig (Hg.): Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York/Oxford 2008, S. 1-27.

[8] Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 85.

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Walzer (zuletzt aufgerufen: 26.8.2020)

[10] Ev. Zentralarchiv 7/P/1469.


SFR – Selected Further Reading

  • Michael Wildt, „Volksgemeinschaft”, Version: 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 3.6.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Volksgemeinschaft
  • Manfred Gailus, Wolfgang Krogel, Von der babylonischen Gefangenschaft Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalsozialismus. Regionalstudien zu Protestantismus, Wichern Verlag 2006
  • Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945 – 1949 : die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit / Clemens Vollnhals. – München : Oldenbourg, 1989
  • Akademie der Nordkirche, Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Online Ausstellung unter: https://www.nordkirche-nach45.de/
  • Hartmut Ludwig, Die Berliner Theologische Fakultät 1933 bis 1945. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Band II: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S. 93–122.

Über den Autor

Dr. Johan Wagner ist Referent für Fördermittelrecht der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Er gehört zum Lehrbeauftragten-Pool des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsinteressen und Arbeitsgebiete sind Europäische Integration, Pressegeschichte, europäische Beziehungen zur arabischen Welt, Wissenschaftsstrategie, konfessionelle Entwicklungen in Europa, europäische Konflikt- und Friedensgeschichte, siehe auch: https://www.clioonline.de/researcher/id/researcher-5652

24. August 2020 | Veröffentlicht von Johannes Kellner | Kein Kommentar »
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