Im Mai 2024 wurde auf diesem Blog der Beitrag „______Zwischen___den__Zeilen ___________ Wenn eine „Vermögenserklärung“ zum stillen Protest wird“ (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2024/05/27/______zwischen___den__zeilen-___________/#blog) veröffentlicht.
Die Autorin wurde im Rahmen der Berlin Conference for Student Research 2024 ausgewählt, Ihre Arbeit im Rahmen der Berlin University Alliance vorzustellen. In der Berlin University Alliance gibt es das Student Research Opportunites Program (StuROPx). Im Rahmen des Programms findet einmal jährlich die Berlin Conference for Student Research statt. Studierende haben hier eine Plattform, um die Ergebnisse ihrer Forschung zu präsentieren.
Die Berlin Conference for Student Research 2024 findet am 2. Oktober 2024 in den Räumlichkeiten der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte statt. Veranstaltungsort ist das Seminargebäude in der Dorotheenstraße 24 in 10117 Berlin über die gesamte Etage 4 im Haus 1 statt (https://www.berlin-university-alliance.de/commitments/teaching-learning/sturop/conference/conference-2024/ort-und-zeit/index.html)
Der Beitrag Zwischen den Zeilen – Wenn die „Vermögenserklärung“ zum stillen Protest wird wird in der Session A2 von 11-12 Uhr in Raum 1.403 vorgestellt: https://www.berlin-university-alliance.de/commitments/teaching-learning/sturop/conference/conference-2024/programm/session-a2/index.html
Aus der Beitragsankündigung:
Ich habe mich in meiner Forschung mit Vermögenserklärungen von als Jüdinnen verfolgten Christinnen im Zeitraum von 1941–1943 beschäftigt. Dieser zeitliche und thematische Schwerpunkt kam zustande, da ich mich im Rahmen eines X-Student Research Group-Projektes mit den Taufen von Menschen auseinandergesetzt habe, die in diesen Jahren in der Messiaskapelle in Berlin durchgeführt wurden. Meine Recherche erfolgte u.a. zu der Geschichte und Bedeutung der Berliner Judenmission, den pseudo-legalen Grundlagen der Vermögenserklärungen und schließlich der Betrachtung von fünf solcher Erklärungen im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA) in Potsdam.
Mehr lesen:
Um eine Anmeldung wird gebeten: https://www.berlin-university-alliance.de/commitments/teaching-learning/sturop/conference/PM-Anmeldung/index.html
Auf einem neu gegründeten Blog auf hypotheses.org wurde kürzlich ein Beitrag zur Messiaskapelle veröffentlicht: Der „Taufverdacht“ und das Konsistorium der Mark Brandenburg
Aus dem Text:
Vor der ehemaligen Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 im Stadtteil Prenzlauer Berg liegt seit dem 6. Oktober 2023 eine der wenigen Stolperschwellen in Berlin. Darauf ist das Wort „Taufort“ zu lesen. In diesem Beitrag geht es nicht so sehr nur um den Ort, vielmehr um die Gedankenfigur des „Taufverdachts“. Ich finde diese Wortschöpfung aktuell bei den üblichen Suchmaschinen im Internet nicht, finde es allerdings passend, um die evangelische Grundhaltung gegenüber der Taufe jüdischer Menschen nach ihrer staatlichen Emanzipation in unseren Landen zu beschreiben.
Zu dem Beitrag auf hypotheses.org: https://kircheimns.hypotheses.org/47
hypotheses.org ist ein Blogportal für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Das deutschsprachige Portal wird von OpenEdition und der Max Weber Stiftung (Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland) bereitgestellt. Der Blog “Kirche im NS – Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949” auf hypotheses.org wird getragen vom Geschichtswissenschaftskreis des Konsistoriums. Das Konsistorium ist die Oberbehörde der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Im Rahmen eines Forschungsseminars zu Kirche im Nationalsozialismus, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik sind verschiedene Projekte entstanden, die die Geschichte der Berliner Messiaskapelle erzählen.
Eines davon ist das Einzelschicksal der getauften Jüdin Ruth Wichmann geb. Heine, die in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und schließlich in den Gaskammern von Bernburg a. d. Saale ermordet wurde.
Die wenigen Originaldokumente zeigen, wie bruchstückhaft ihr Leben der Nachwelt erhalten geblieben ist. Mit Hilfe einer Künstlerin wurden realitätsnahe Gemälde angefertigt, die sie und die beiden Orte, die die Erinnerung an sie prägen, darstellen.
Weitere Projekte, die im Rahmen des Seminars zur Messiaskapelle durchgeführt wurden, sind auf diesem Blog zu finden.
Die Dokumentation und Recherche erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, dem Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin und dem Landesarchiv Berlin.
Künstlerin der Bilder ist Lara Maria Carrà: @lara_carra_art
Das Projekt wurde erarbeitet von Jonas Hauck.
Der Instagram-Post findet sich auf dem Instagram-Kanal der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:
https://www.instagram.com/gemeinsam_ekbo/p/C9O6ZjghEWm/?hl=de&img_index=1
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Wenn eine „Vermögenserklärung“ zum stillen Protest wird
von Sina Drews
Jude? ja. Konfession: evangelisch.
Was Gertrud Löhmer fühlte, als sie diese Angaben 1943 in Gestapohaft machen musste, kann ich heute nur erahnen. Ich sitze im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam und halte das Papier in den Händen, vor dem sie sich lange gefürchtet haben muss.[1] Denn eine sogenannte „Vermögenserklärung“ zu erhalten, hieß in den Jahren 1941 bis 1945 in aller Regel nur eins: die bevorstehende Deportation. Das 16-seitige Dokument, das ich vor mir liegen habe, ist ein Medium, das mir die Verfasserin heute ein Stück näherbringt und einen persönlichen Einblick in ihre damalige Situation geben kann.
Dr. Gertrud Löhmer, geborene Selig, unterzeichnete ihre Vermögenserklärung, die sie gemeinsam mit der „Verfügung über die Einziehung ihres gesamten Vermögens“ erhalten hatte, am 20. Januar 1943. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt – wie die Zustellungsurkunde bezeugt[2] – in der Großen Hamburger Straße 26, einem Gebäude, in dem sich einst eine jüdischen Knabenschule und ein Altersheim befunden hatten. In dem dort eingerichteten Sammellager („Judenlager“) der Gestapo wurden in den Jahren 1942 bis 1944 als Jüdinnen und Juden verfolgte Menschen zusammengepfercht und in diverse Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Gertrud Löhmer, eine von diesen Menschen, wurde am 29. Januar 1943 mit dem 27. Osttransport nach Auschwitz gebracht und dort von den Nationalsozialisten ermordet.[3] Zwischen dem Ausfüllen der Vermögenserklärung und ihrer Deportation lagen neun Tage.
Eine bürokratische Plünderung
Um das zurückgelassene Eigentum der deportierten Menschen zu erfassen, zu enteignen, zu verwalten und zu verwerten – mit anderen Worten zu plündern –, verwendeten die Nationalsozialisten Vermögenserklärungen, welche von den Verfolgten oft als „Listen“ bezeichnet wurden. Damit eine bürokratisch genaue Bestimmung des jüdischen Restvermögens aufgestellt werden konnte, sollten alle Männer, Frauen und selbst Kinder eine gesonderte Erklärung abgeben. Zu den geforderten Angaben zählten solche zur Person, zu Ehegatten und Kindern, zu dem „gesamten Vermögen im In- und Ausland“ und wie genau es zusammengesetzt ist (Liegenschaften und Forderungen). Es sollten außerdem jegliche Gegenstände des noch vorhandenen Wohnungsinventars, jedes Kleidungsstück, jedes Kunstwerk und jeder andere Wertgegenstand aufgelistet werden. Abschließend wurde auf den Formularen nach gewerblichem Eigentum sowie Passiven (Schulden und Verpflichtungen) gefragt.
Zu Beginn der Deportationen im Jahr 1941 erfolgte der Erhalt einer Vermögenserklärung kurz nachdem den Verfolgten die Wohnung gekündigt wurde. Daneben erhielten sie unter anderem ein Benachrichtigungsschreiben, welches ihnen einen konkreten Termin nannte, an dem sie sich bereitzuhalten hatten.[4] Da eine bevorstehende Deportation nun sicher war, führte der einzige Ausweg in dieser Ausweglosigkeit für einige Menschen, die zur Deportation bestimmt waren, nur noch in ein Leben in Anonymität oder in den Selbstmord. 1942 wurde das Verfahren geändert, die Übergabe der Formulare erfolgte fortan erst im Sammellager, wo das Einsammeln der ausgefüllten Vermögenserklärungen von einem anwesenden Gerichtsvollzieher übernommen wurde, der sie an den zuständigen Gestapobeamten vor Ort überreichte.[5]
Keine Angabe, nur vier lange Striche
Gertrud Löhmer gehörte zu den Menschen, die keine Zeit hatten, sich auf ihre Deportation vorzubereiten oder sich ihrem fremdbestimmten Schicksal zu entziehen. Sie erhielt ihre Erklärung erst, nachdem sie ihre Einzimmerwohnung in Friedenau, in der sie seit Oktober 1942 alleine gewohnt hatte, bereits verlassen musste. Über die vier Seiten, welche zur Auflistung von „Wohnungsinventar und Kleidungsstücke[n]“ dienen sollten (S. 8–11), zog sie vier lange Striche. Ganz oben notierte sie: „Die Möbel sind von meinem arischen Mann meiner Nichte versprochen.“
Indem sich Gertrud Löhmer weigerte ihren Besitz aufzulisten, können ihre Worte als ein stiller Protest gegen die erniedrigende Praktik des NS-Regimes gelesen werden. Ihre Haltung steht zwischen den Zeilen, ohne dabei etwas von der Eindrücklichkeit zu verlieren. Sie sind der mutige Versuch, sich in einer bereits aussichtslos erscheinenden Situation der Aufforderung zu entziehen, bei der eigenen Ausplünderung mitzuwirken.
Den Glauben dennoch sichtbar machen
Die Absurdität der nationalsozialistischen rassistischen Ideologie zeigt sich besonders deutlich in Gertrud Löhmers Angaben auf die Fragen nach jüdischer „Rasse“ und Konfession. Löhmer hatte sich am 18.11.1938 in der Segensgemeinde[6] im Prenzlauer Berg von Pfarrer Wilhelm Knieschke taufen lassen und war somit Christin. Hätte sie nicht in einer Zeit gelebt, in der jüdisch oder christlich zu sein nicht mehr als eine Sache des Glaubens, sondern des biologischen Erbes angesehen wurde, hätte sie nach ihrer christlichen Taufe auf die Frage „Jude?“ mit „nein“ antworten können. Auch wenn sie dies in ihrer Vermögenserklärung nicht tat, machte sie ihren Glauben dennoch sichtbar: Unter Konfession gab Gertrud Löhmer „evangel.“ an.
Nachdem sie fein säuberlich Ort und Datum auf der letzten Seite der Erklärung eingetragen hatte, setzte sie ihre Unterschrift – samt Zwangsnamen „Sara“ – vermutlich zum letzten Mal in ihrem Leben auf ein Dokument. Ob sie dies absichtlich unter den dafür vorgesehenen Strich tat? Auch das kann ich heute nur erahnen.
[1] Vgl. Landeshauptarchiv (BLHA): Rep. 36 A (II), Nr. 23889, Vermögenserklärung. Online einsehbar unter: https://dfg-viewer.de/show/?tx_dlf[id]=https%3A%2F%2Fblha-digi.brandenburg.de%2Frest%2Fdfg%2Fxml%2FQCqDtgbYNPCvNFiz [aufgerufen am 21.02.2024].
[2] Ebd.
[3] Dr. Gertrud Lömer née Selig. In: Mapping the Lives. Unter: https://www.mappingthelives.org/bio/0f63933c-92c6-4ef3-b70c-400ab46fdc00 [aufgerufen am 21.02.2024].
[4] Vgl. Dinkelaker, Philipp: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42, Berlin (2017), S. 54.
[5] Vgl. Nakath, Monika: Aktenkundig: „Jude!“: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Brandenburg 1933–1945. Vertreibung –Ermordung – Erinnerung, Berlin (2010).
[6] Zeitzeugen zufolge haben die Taufen von Menschen jüdischer Herkunft zu dieser Zeit in der benachbarten Messiaskapelle stattgefunden, die organisatorisch der Segensgemeinde angebunden war. Dort befand sich von 1902 bis zur erzwungenen Schießung 1941 der Sitz der 1822 gegründeten „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ („Berliner Judenmission“). Vgl. Lachenicht, Gerlind: Evangelische Gemeinden recherchieren über Christen jüdischer Herkunft. Einige Zwischenergebnisse. In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, 66 (2007), S. 188–232, hier: S. 206.
Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.
Über die Autorin Sina Drews studiert Religion und Kultur im Master an der theologischen Fakultät der HU Berlin.
von Laura Steinbrück
Wie es sich angefühlt haben muss, als am 11. November 1938 die Büroräume der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ (kurz: „Gesellschaft“) von Nationalsozialisten gestürmt und demoliert wurden, kann man heute kaum mehr nachempfinden. Für die „Gesellschaft“ war das Ereignis im Rahmen der Novemberpogrome einschneidend und sollte eine Vorahnung auf die kommenden Jahre liefern. Schon zuvor hatte die Vereinigung der „Deutschen Christen“ ihre ablehnende Haltung gegenüber der Judenmission deutlich gemacht. Die „Gesellschaft“ setzte sich aber genau für diese ein. In der Messiaskapelle in Prenzlauer Berg wurde noch lange nach der Machtübergabe an Adolf Hitler Taufunterricht angeboten und Juden:Jüdinnen der Eintritt in das Christentum ermöglicht. In den Räumen der Gesellschaft befand sich auch eine umfassende Bibliothek, die für den Unterricht genutzt wurde. [1] Die Verfügung zur Schließung des Vereins und zum Einzug des gesamten Vermögens überraschten die „Gesellschaft“ als Folge nicht. Trotzdem waren die Konsequenzen gravierend: Im Frühjahr 1941 besetzte die Gestapo die Geschäftsstelle und beschlagnahmte jegliches Inventar.[2] Die dazugehörige Verfügung zum Einzug des Vermögens geht von einem Bibliotheksbestand der „Gesellschaft“ von ca. 2.000 Büchern aus.[3]
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„Nur die wertvolle Bibliothek ist auf meinen energischen Protest der Preussischen Staatsbibliothek überwiesen.“
Willhelm Knieschke, 1947
Möglicherweise habe der Einspruch des damaligen Pfarrers Wilhelm Knieschke dazu beigetragen, die Staatspolizei davon abzuhalten, diese Bücher auf dem direkten Weg zu vernichten.[4] In den folgenden Jahren blieb die Kapelle geschlossen, dem Pfarrer Knieschke wurde die Arbeit verboten.
Doch was passierte mit der Bibliothek? Noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges ging der wiedergegründete Verein von einem Verlust der Bibliothek aus. Die Bücher galten als verschwunden. War diese Befürchtung berechtigt?
Tatsächlich wurden die Bücher nicht verbrannt, sondern an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin übergeben. Zynischerweise wurden dort in der Annahmestelle am 19. Juni 1941 die ersten Bücher der „Gesellschaft“ von den Archivar:innen im Zugangsbuch für „Geschenke“ vermerkt – dabei handelte es sich jedoch lediglich um 40 Titel. Beinahe ein ganzes Jahr später, im März 1942, folgten 320 weitere Exemplare. Das lag daran, dass die Staatsbibliothek von der Anzahl der eingehenden Bücher überlastet war, da sie zur zentralen Verteilstelle für alle beschlagnahmten Bücher des Reiches aufstieg.[5] Gleichzeitig hatte auch das fortschreitende Kriegsgeschehen Auswirkungen auf die Arbeit der Annahmestelle. Bestände wurden auseinandergerissen, Bücher an scheinbar sicherere Orte gebracht oder einfach an andere Institutionen weitergegeben.[6] So verlor sich auch der Rest der Bibliothek aus der Messiaskapelle im Kriegsgewirr – in der Staatsbibliothek wurden die Bücher nie offiziell angenommen. Die verzeichneten Bücher der „Gesellschaft“ in der Staatsbibliothek verblieben dort erst einmal, ohne dass sie Beachtung fanden. Und das nicht nur bis zum Ende des Krieges, sondern weit darüber hinaus. Erst in den 2000er-Jahren begann die Staatsbibliothek, sich systematisch mit ihren Beständen auseinanderzusetzen, um mögliches NS-Raubgut ausfindig zu machen. Im November 2007 wurde dafür vor Ort eine Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und -forschung eröffnet. Die dortigen Provenienzforscher:innen stießen in diesem Zusammenhang auf genau jene Vermerke im Zugangsbuch der Staatsbibliothek, die 65 Jahre zuvor dort verzeichnet wurden und auf den ursprünglichen Besitzer der Bücher die „Gesellschaft“ verweisen. Im September 2010 erfolgte die Restitution der ausfindig gemachten Bücher an das Berliner Missionswerk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der offiziellen Rechtsnachfolge der „Gesellschaft“, die nach ihrer Wiedergründung im Jahr 1948 noch bis 1982 bestand.[7] Im selben Jahr veröffentlichte Michaela Scheibe als damals stellvertretende Leiterin der Abteilung Historische Drucke einen Artikel über den Restitutionsprozess im Bibliotheksmagazin. Durch den Artikel wurde auch die Landes- und Universitätsbibliothek in Hamburg auf die Zwangsschließung und Beschlagnahmung der Bücher der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden aufmerksam.[8]
© 2024 Steinbrück
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Auch in der Universitätsbibliothek Hamburg werden seit 2010 Überprüfungen der Bestände in Hinblick auf ihre Provenienz vorgenommen. Und tatsächlich wurden die Archivar:innen im Oktober 2010 auf vier Bücher aufmerksam, die ebenfalls den Stempel der „Gesellschaft“ auf ihren Titelseiten verzeichneten. Die entdeckten Bücher hatten bereits einen langen Weg hinter sich: Von der Annahmestelle der Staatsbibliothek waren diese anscheinend noch während des Krieges an die „Reichstauschstelle“ für Bücher weitergegeben worden. Diese war 1926 als Teil der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet worden, jedoch seit 1934 als eigenständige Dienststelle tätig. Die Reichstauschstelle war damit beauftragt, Bibliotheken im Deutschen Reich beim Erwerb verloren gegangener oder durch den Krieg beschädigten Bücher zu unterstützen. Ihr Bestand setzte sich aus meist angekauften Büchern aus den Ostgebieten,[9] aber genauso aus beschlagnahmten Büchern von Einzelpersonen und Bibliotheken zusammen. Viele Bibliotheken nutzten das Angebot der Reichstauschstelle, so auch die Landesbibliothek in Hamburg. Von dort waren die vier betreffenden Bücher 1943 in die Bestände der Universitätsbibliothek gelangt. Im Juni 2011 wurden auch diese an das Berliner Missionswerk übergeben.
Zuletzt wurden im August 2016 fünfzehn weitere Bücher an das Missionswerk restituiert. Diese waren während des Krieges an das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ weitergegeben worden. Seit 1936 besaß das Reichsinstitut eine Forschungsabteilung zur „Judenfrage“, welche vor allem nationalsozialistisches, pseudowissenschaftliches Propagandamaterial herausgab. Nach Ende des Krieges kamen die betreffenden Bücher erst 1982 zurück in den Besitz der Staatsbibliothek.
Die ca. 400 restituierten Bücher stehen heute im Magazin der gemeinsamen Bibliothek der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Berliner Missionswerks in Berlin Friedrichshain. Der Großteil jedoch gilt als verloren, wurde wahrscheinlich im Kriege zerstört, zumindest aber auseinandergerissen und weit über das Land verteilt.[10] Mit dem Verlust der Bibliothek ist auch viel Wissen über die damalige Vereinigung und ihre Arbeit verloren gegangen. Durch die Bestände der Bibliothek ließe sich ablesen, mit welchen Themen sich die „Gesellschaft“ befasste, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit setzte, aber auch, welche Inhalte sie außerhalb der Judenmission beschäftigte. So überrascht noch heute die Diversität der verbliebenen Bestände. Sie zeigt auf, dass sich die „Gesellschaft“ auch mit der politischen Lage der Juden:Jüdinnen in Europa auseinandersetze, zeitgenössische Abhandlungen über das Juden- und Christentum und philosophische und praktische Auseinandersetzungen mit dem Zionismus besaß. Darüber hinaus beschäftigte sie sich auch mit Palästina als religiöser Heimatstädte für Juden:Jüdinnen und Christen:Christinnen. Der Bestand beeindruckt auch heute noch mit umfangreichen Materialien für die Judenmission, so sticht zum Beispiel ein Neues Testament heraus, welches auf Jiddisch übersetzt wurde. Auch umfasst die Bibliothek Lehrbücher, die extra für den Taufunterricht jüdischer Taufanwärter:innen verfasst wurden. Dass der Verein die Restitution einiger seiner Bibliotheksbestände nicht mehr miterlebte, zeigt auf, wie langwierig solche Verfahren sein können. Gleichzeitig beteht aber auch Hoffnung, dass in Zukunft noch weitere Bücher der ehemaligen Messiaskapelle entdeckt werden können. Da die „Gesellschaft“ heute nicht mehr besteht, kann sie auch ihren Verlust der Bibliothek nicht mehr anklagen und auch keine weiteren Recherchen zum Verbleib der Bücher anstellen. An dieser Stelle ist der Einsatz von engagierten Einzelpersonen und Institutionen gefragt, um nicht zuletzt das bis ins 21. Jahrhundert bestehende Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus aufdecken und im möglichen Umfang beseitigen zu können.
© 2024 Steinbrück
Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.
[1] Der genaue Umfang dieser Bibliothek kann heute nicht mehr ermittelt werden. Allerdings kann nachvollzogen werden, dass die „Gesellschaft“ in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich mindestens 1.000 Mark für die Anschaffung neuer Publikationen vorsah. Vgl. evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, bisher online nicht aufgelistete Akten der „Gesellschaft“, die 2010 an das Archiv restituiert wurden.
[2] Der genaue Zeitpunkt der Schließung ist unklar. Das evangelische Landeskirchliche Archiv in Berlin und Michaela Scheibe verweisen auf den 23. Januar. Die Verfügung der Geheimen Staatspolizei und auch Pfarrer Wilhelm Knieschke nennen den 18. April 1941. Ein möglicher Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Zeitangaben ist, dass bereits im Januar die Räumlichkeiten der Kapelle durch die Gestapo geschlossen wurden, eine offizielle Verfügung aber erst Monate später folgte. Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz. In: Gesellschaft für Exilforschung (Hrsg.): Bibliotheken und Sammlungen im Exil. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 29/2011. edition text + kritik, S. 188 und Knieschke, W.: Nathanael, S. 13.
[3] Verfügung der Gestapo vom 18. April 1941 aus dem Archiv der ev. Landeskirche in Berlin, ELAB 1/1113: „Zu den eingezogenen Vermögen gehören insbesondere: […] e) Die Bibliothek mit ca. 2000 Büchern“.
[4] Allerdings war Kniesches Einspruch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausschlaggebend für die Übergabe der Bücher an die Staatsbibliothek. Vielmehr war es auch eine Anordnung des Reichsministeriums für Finanzen, beschlagnahmte Schriften, insbesondere jüdische und hebräische Literatur, an die Staatsbibliothek zu übergeben. Dabei dürfte auch die räumliche Nähe der Büroräume der Gesellschaft zur Annahmestelle der Staatsbibliothek begünstigend auf die Übergabe eingewirkt haben. Vgl. Knieschke, W.: Nathanael. Ein kleiner Bericht zur Missionsarbeit am Volke Israel, S. 13. und Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek. Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. K. G. Saur 2008, S. 2f.
[5] Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz, S. 182.
[6] Vgl. Ebd. S. 188.
[7] Noch lange nach 1945 hielten große Teile der evangelischen Kirche am Konzept der Judenmission fest. Erst mit den 1980er-Jahren trat die Kirche in eine neue Phase der Reflektion des Nationalsozialismus und der Shoah ein. Die Thematik blieb aber umstritten. Trotzdem dienten diese Debatten beispielsweise als Ausgangspunkt für den Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ der evangelischen Kirche der DDR aus dem Jahr 1990. In dieser bekennt sich die Kirche zum Staat Israel, gegen den Antisemitismus und gegen das Konzept der Judenmission. Vgl. Pavlush, T.: Kirche nach Auschwitz zwischen Theologie und Vergangenheitspolitik. Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchen beider deutschen Staaten mit der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Peter Lang 2015, S.107.
[8] Informationen aus direktem Kontakt mit Anneke de Rudder, Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.
[9] Der „Ankauf“ von Büchern und Bibliotheken war meist auch von einem Zwang geprägt, den die Staatspolizei auf „Verkäufer“ ausübte. In der Provenienzforschung stellt sich daher auch die Frage, inwiefern solche „Kaufverträge“ heute rechtmäßig sind. Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 1.
[10] Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 158.
[11] Die Standortbezeichnung „Judenmission“ stammt noch aus der historischen Systematik, welche bei Entstehung der Bibliothek erarbeitet wurde und auf den Sonderbestand der restituierten Bücher hinweist. Eine Überarbeitung der Archivsystematik mit ihren Bezeichnungen ist bereits vom aktuellen Bibliotheksleiter angedacht.
Über die Autorin
Laura Steinbrück studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
von Kristina Schnürle
Wenn man die Kastanienallee entlanggeht, kann man über der Haustür des Gebäudes mit der Nummer 22 eine Inschrift in altertümlichen Lettern lesen: „Messiaskapelle“. Zwischen Nagelstudio und Klettergeschäft, in dem belebten Stadtteil Berlin-Prenzlauer Berg, weist nichts auf eine Kapelle oder sonst einen besonderen Ort hin.
Foto: Kjell Pommerening
Seit Oktober 2023 gibt eine Stolperschwelle Auskunft über Menschen, die hier getauft und z. T. später deportiert und getötet wurden. Bis heute wissen die wenigsten, dass es im Nationalsozialismus Christen gab, die aus rassistischen Gründen verfolgt und ermordet wurden.
Foto: Johan Wagner
Aber was ist die Messiaskapelle?
Leider ist zurzeit ein Blick hinter das äußere Tor in den Hinterhof für die allgemeine Öffentlichkeit nicht möglich. Dort würde man auf eine kunstvoll mit Monden und Kreuzen verzierte Tür stoßen. Und im Innern ein Raum, der an einen Versammlungsort einer religiösen Gemeinschaft erinnert. Besonders fällt die hebräische Inschrift des hebräischen Gottesnamen, des Tetragramms auf. Wer hat sich dort wann versammelt? Was geschah an diesem Ort im Hinterhof?
Foto: Johan Wagner
Foto: Johan Wagner
Wie alles begann…
Durch das Emanzipationsedikt 1812 waren die preußischen Juden rechtlich zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ geworden. König Friedrich Wilhelm III. selbst wandte sich aber schon 3 Jahre später gegen die bürgerliche Gleichstellung seiner jüdischen Untertanen. Doch eine Gesellschaft zur Judenmission war ganz in seinem Sinne, da er dadurch hoffte, ausschließlich „christliche Untertanen“ zu bekommen.
Foto: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben/504517/19-jahrhundert/
1822 wurde die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter Juden“, die Berliner Judenmission, gegründet. Der Verein entstand aus der pietistischen Bewegung des 19. Jhs., entsprechend der Mission unter „Heiden“. Während die Heidenmission allgemein anerkannt war, hatte die Judenmission mit antisemitischen Vorurteilen zu kämpfen. Aber auch das alte Volk Israel habe, so die Vertreter der Judenmission, ein Recht auf Heil und das Evangelium – jetzt, da die gesellschaftlichen Schranken zwischen Juden und Christen gefallen waren und Juden qua Gesetz gleichberechtigt waren, umso mehr. Zusätzlich solle der Lebenswandel der Christen missionarisch wirken. Da die Aufgabe der Mission nicht von einzelnen Christen geleistet werden könne, sei es nötig, diese an Vereine zu delegieren, bzw. diese dabei zu unterstützen. (So im grundlegenden Aufsatz „Recht und Pflicht der Judenmission“ im „Nathanael“, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft ab 1885).
Schon 1827 hat Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis eines besonderen Gottesdienstes für die „Juden“ in Berlin gegeben, aber es fehlte lange an einem geeigneten Ort. 1902 konnte schließlich die Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 eingeweiht werden. Sie bot Platz für 100 Menschen.
Es handelte sich dabei nur um einen kleinen Kreis im Rahmen der Landeskirche. Denn die Mehrheit der Deutschen, auch der kirchlichen Kreise, war an einer Begegnung oder gar dem Dialog mit Juden nicht interessiert. Darum wurden die „getauften Juden“ immer mehr zu einer Sondergruppe, an deren Integration in die christliche Gemeinde kaum jemandem gelegen war.
In den Räumen in der Messiaskapelle wurde sonntäglich Gottesdienst gefeiert
Foto: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/NQM4DO6J6QI6NJOYZF2EQOHDVXY53I5L
Aber daneben spielte die Soziale Arbeit an konvertierten oder am Christentum interessierten Juden eine große Rolle. Seit Mitte des 19. Jhs. kamen viele junge Juden aus Osteuropa oder dem russischen Zarenreich nach Berlin, häufig ohne Geld und familiären Rückhalt. Sie waren oft auf Unterstützung angewiesen und waren dadurch, dass sie sich im „fortschrittlichen Berlin“ ihrem jüdischen Glauben aus dem Schtetl entfremdeten, für den christlichen Glauben aufgeschlossen.
Ein Anliegen der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ war es außerdem, Menschen in den Gemeinden – und wenn möglich auch darüber hinaus – jüdische Bräuche und Feste zu erklären und bekannt zu machen. Damit wollte sie dem Misstrauen und der wachsenden antisemitischen Stimmung in jener Zeit entgegenwirken.
Warum ließen sich Juden taufen?
Sowohl von kirchlicher als auch politischer Seite wurde unterstellt, die Juden ließen sich „nur“ taufen, um nicht als Juden benachteiligt oder verfolgt zu werden. Berichte von Täuflingen oder ihrer Nachkommen zeigen ein Spektrum unterschiedlichster Gründe: von relativer Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen oder christlichen Glauben, der Anpassung an den christlichen Partner oder die christliche Partnerin bis hin zum Versuch, durch die eigene Taufe oder die Taufe ihres Kindes bessere Chancen in der Gesellschaft zu erreichen – in der NS-Zeit sogar das Leben zu retten. Doch bilden diese äußerlichen Motive nicht alles ab. Wer wollte beurteilen, ob die Hinwendung zum christlichen Glauben „echt“, aus freien Stücken erfolgte? Der Dichter Jochen Klepper schreibt schon 1933 in sein Tagebuch, dass seine jüdische Frau Hanni sich taufen lassen wolle, aber nicht aus politischen Gründen konvertiere. Sie wisse, dass die Anmeldung zur Taufe politisch sinnlos sei. (Tagebuch „Unter dem Schatten seiner Flügel“ 13.Mai 1933). Denn von Seiten des NS-Staats war von Anfang an klar, dass die Taufe keine Auswirkung auf den „Rassenstatus“ hat: auch ein Getaufter blieb jüdisch, „nichtarisch“.
Dennoch erhielten in der Zeit zwischen 1933-41 über 700 jüdische Menschen in der Messiaskapelle Taufunterricht.
Die Taufen wurden – sicher in erster Linie aus theologischer Verantwortung, aber vielleicht auch um den Verdächtigungen vorzuwirken – nicht oberflächlich oder gar nur auf dem Papier vollzogen, sondern es gab einen mehrwöchigen Taufunterricht. Dies wird im Messiasboten, dem Gemeindebrief, ausführlich beschrieben.
Foto: Laura Steinbrück
Der Messiasbote, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft im Nationalsozialismus, gibt auch Zeugnis davon, wie die Verkündigung an Juden aussah: Pfarrer Knieschke knüpfte in seinen Predigten an Worte, Erzählungen und Feste des Judentums an. Er predigte im Wissen, dass Juden, anders als die Menschen, die von Missionsgesellschaften in fernen Ländern missioniert werden, schon eine gemeinsame Basis mit den Christen haben. Er nahm Verheißungen der Propheten auf und wies – wie die neutestamentlichen Apostel – darauf hin, dass diese in Jesus erfüllt seien. Im Messiasboten finden sich ebenfalls Zeugnisse von Getauften, die über ihren Weg von Judentum zum Christentum berichten. Auch wenn die Ausführungen im Messiasboten nicht mehr unserer Perspektive auf das Judentum, geschweige denn der theologischen oder homiletischen Sprache unserer Zeit entsprechen, wird die Überzeugung und Redlichkeit der Pfarrer und Mitarbeitenden sichtbar.
Im Frühjahr 1941 schloss der NS-Staat die Messiaskapelle, den Zufluchts- und Taufort so vieler Christen jüdischer Herkunft gewaltsam.
„Allein die Tatsache, dass Christen jüdischer Herkunft in der Zeit der Verfolgung die Tür der Messiaskapelle offenstand, dass Menschen jüdischer Herkunft hier weiter getauft wurden, macht die Messiaskapelle in gewisser Weise bereits zu einem Ort der Zuflucht.“ Und den Verfolgten wurde auch noch anders geholfen.“ Diejenigen, die im Bereich der Messiasgemeinde tätig waren, haben sich nicht von den Verfolgten abgewandt. Sie haben sie nicht nur seelsorgerlich begleitet, sondern mit konkreten Hilfeleistungen unterstützt. „Aber vielen konnte nicht geholfen werden. 86 der 700 getauften Menschen jüdischer Herkunft wurden deportiert, nur 2 davon überlebten.“ (Lachenicht in: und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus 2013. S.91f)
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Judenmission ihre Arbeit wieder auf, in der Kapelle trafen sich Überlebende und feierten Gottesdienst. Darüber ist kaum etwas bekannt und wäre es wert, weiter erforscht zu werden.
Doch die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ hatte sich überlebt und löste sich 1982 auf. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) distanzierte sich 1990 vollständig von der Mission an Juden.
Heute ist die Messiaskapelle ein „Nichtort“, ein kaum sichtbarer, fast vergessener Ort im Hinterhof. Die evangelische Kirche Berlin sieht die Erhaltung dieses Ortes als Gedenkort nicht als drängende Aufgabe an.
Foto: Kjell Pommerening
https://www.kkbs.de/messiaskapelle
„Nathanael“, die Zeitschrift der Gesellschaft und der Nachfolger, „Der Messiasbote“ sind zum Beispiel in der Staatsbibliothek zu Berlin einzusehen, allerdings ist dort eine Benutzung nur im Lesesaal möglich. Die „Permalinks“ der Staatsbibliothek lautet:
https://stabikat.de/Record/16759074X („Nathanael“)
https://stabikat.de/Record/167606131 („Der Messiasbote“)
Mittlerweile wurde auf diesem Blog ein weiterer Beitrag veröffentlicht, in dem die Staatsbibliothek zu Berlin eine Rolle im Sinne der Erinnerung an die Messiaskapelle spielt: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2024/05/05/was-uns-buecher-nicht-erzaehlen-der-lange-weg-der-bibliothek-der-gesellschaft-zur-befoerderung-des-christentums-unter-den-juden/
Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.
Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.
Seminarnummer: 0212165
Interessierte Studierende der Berliner und Potsdamer Universitäten sind aufgefordert, sich beim entsprechenden Kurs der Lernplattform der Humboldt-Universität einzuschreiben. Die Inhalte werden zeitnah auf das Sommersemester 2024 aktualisiert:
https://moodle.hu-berlin.de/enrol/index.php?id=121360
Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023
Das Seminar wird im Sommersemester 2024 dienstags, 10-12 Uhr, im Raum 5061 (5. OG) im Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität stattfinden, Friedrichstraße 191 (FRS191).
Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.
Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.
von Christine Stier
Schuld und Aufarbeitung in der evangelischen Kirche
Niemals zählte eine Partei in Deutschland mehr Mitglieder als die NSDAP. Von 1929/30 wählten immer mehr Deutsche die anfangs noch kleine Splitterpartei und traten ihr massenhaft bei, bis sie am Ende des Jahres 1944 fast neun Millionen Mitglieder zählte. (Gailus 2021, 9) Auch wenn sich nicht alle von ihnen aktiv an der Ermordung von Jüdinnen und Juden beteiligten, so bildeten diese Deutschen das Fundament und die Legitimation für die NS-Verbrechen. Zudem konnten viele Parteimitglieder auch nach dem Krieg in Beruf und Karriere einfach weitermachen, während das die meisten Opfer nicht konnten.
Es gibt in Deutschland eine breite Aufarbeitung und Erinnerungskultur. Sie fällt jedoch mitunter zu einseitig aus, jedenfalls dann, wenn wir mit großer Aufmerksamkeit vor allem der Widerstandskämpfer:innen gedenken oder uns voreilig in die Vorstellung einer vollständig geläuterten Nation flüchten. Das gilt gleichermaßen für die evangelische Kirche, die es keinesfalls dabei belassen darf, ihre eigene Vergangenheit nur im Licht Dietrich Bonhoeffers oder der Bekennenden Kirche zu spiegeln. Denn der Nationalsozialismus durchdrang ebenso sehr deren Strukturen, wie sich die Kirche selbst aktiv an der verbrecherischen Politik des Regimes beteiligte. So hat sie beispielsweise ihre Kirchenbücher für die sogenannten Ariernachweise geöffnet und damit der Verfolgung von Menschen jüdischer Abstammung Vorschub geleistet. Die Aufarbeitung dieses Kapitels in der evangelischen Kirche bekommt auch noch heute weniger Gewicht, als es angesichts seiner verheerenden Folgen für die Opfer angemessen wäre.
Karl Themel – vom Geistlichen zum Handlanger des NS-Regimes
Exemplarisch lässt sich mangelndes Schuldbewusstsein sowie eine defizitäre Aufarbeitung an dem Berliner Pfarrer Karl Themel (1890 – 1973) verdeutlichen. Dieser ist ein Musterbeispiel für einen nationalsozialistischen Christen, „dessen NS-Gläubigkeit im Laufe der Hitlerzeit stetig anwuchs und seine ererbten christlichen Glaubensanteile mehr und mehr verdrängte.“ (Gailus 2021, 94).
Schon im April 1932 trat Themel der NSDAP bei und gehörte im gleichen Jahr zu den führenden Gründungsmitgliedern der Deutschen Christen (DC). Seine Zustimmung zum Nationalsozialismus ist durch mehrere seiner Predigten, Artikel und Reden belegt. Außerdem zeichnete er sich schon vor 1933 als ein ungewöhnlich umtriebiger kirchlicher Aktivist aus, der sich auf vielen Gebieten weit über seine Kirchengemeinde hinaus betätigte. Seine große Aktivität, die ein hohes Maß an Arbeitsenergie verrät, schuf zahlreiche Querverbindungen und eröffnete ihm immer wieder neue Karrierechancen – persönliche Verbindungen zum „Reichsbischof“ Ludwig Müller und seine Zusammenarbeit mit Parteigenossen aus kirchlichen und staatlichen Institutionen. Manfred Gailus beurteilt das Ausmaß seiner Identifikation mit dem Nationalsozialismus als so weitgehend, dass sie im Zweifelsfall seine kirchlichen Bindungen und Verpflichtungen dominierte.
Durch Schreiben vom November 1934 bot er dem „Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern“ (zukünftige „Reichsstelle für Sippenforschung“) seine Mitarbeit an, dabei verwies er auf seine vielfältigen Qualifikationen als Historiker und Familienforscher, auf seine Vertrautheit mit den Berliner Kirchenbüchern, auf seine Partei- und DC-Verdienste und schließlich auf seine Kenntnisse „über Erblehre und Rassenkunde“. Explizit formulierte er den Wunsch, seine Kraft ehrenamtlich dem NS zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Kontakt entwickelte sich seit 1935 eine enge Zusammenarbeit zwischen Themel und einigen weiteren Parteigenossen und der durch den Historiker und fanatischen SS-Obersturmführer Kurt Mayer geleiteten „Reichsstelle für Sippenforschung“. Gemeinsam war ihnen das Ziel, die in den Berliner Kirchenbüchern enthaltenen familiengeschichtlichen Daten für die Zwecke nationalsozialistischer Rassenpolitik vollständig und systematisch verfügbar zu machen. 1936 war Themel Leiter der offiziell eingerichteten „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“ und in dieser Funktion maßgeblicher Akteur für eine staatlich-kirchliche Zusammenarbeit, die für die von antisemitischer Ausgrenzung Betroffenen schwerwiegende Folgen hatte. 1941 verfasste Themel eine Bilanz der Tätigkeit der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, in der er sich rühmt, dass in 2612 Fällen eine jüdische Abstammung entdeckt zu haben. (Gailus 2021, 93)
Eine Tendenz zu völkischen und antibolschewistischen Gedankengut lässt sich in Themels Lebenslauf bereits früh feststellen. In Verbindung mit einem ausgeprägten Karrierebewusstsein und die durch den politischen Umbruchbegünstigte Situation zu einem schnellen beruflichen Aufstieg, ist auch Themels Täter-Biografie nur eine unter vielen, wie man sei in der NS-Zeit beobachten kann. Doch was ist von der bewussten Anbiederung an den NS-Staat, den Themel bereits seit den frühen 1930er Jahren unternahm, nach 1945 übrig geblieben?
Aufarbeitung durch die Nachkriegskirchenleitung
Anhand eines Archivdokuments aus den frühen Nachkriegsjahren, mit der Anfrage des „Evangelischen Konsistoriums der Mark Brandenburg“ betreffend der Kirchenbuchstelle Alt Berlin an Karl Themel, wird nachvollziehbar, wie der ehemalige Leiter seine Rolle als treibende Kraft herunterspielte und die Tatsachen angesichts der veränderten politischen Situation zu seinen Gunsten beschönigte.
Mit dem Schreiben vom 1. Oktober 1946, welches das Konsistorium an Karl Themel mit Bitte um Antwort und Stellungnahme richtet, wird Themel zweifelsfrei als Leiter der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin während der nationalsozialistischen Herrschaft bezeichnet, der dem Großteil seiner „Zeit und Arbeitskraft diesem Amt widmete“. Das Konsistorium zweifelt also zu diesem Zeitpunkt keineswegs an Themels damaligen Engagement für dieses Amt. Es bittet ihn lediglich um Auskunft über die Struktur und Beschaffenheit der Kirchenbuchstelle und die genaue Beschreibung seiner Funktion und der zugehörigen Amtsbefugnisse als deren Leiter. Zudem möchte es wissen, wer Themels amtlicher Vertreter gewesen ist, wer diesen dazu bestellt habe und wer für das Personal zuständig gewesen sei und Entscheidungen über Anstellungen getroffen habe.
Themel beantwortet diese Anfrage, die ihn scheinbar erst Anfang 1947 erreicht, etwa drei Monate später mit einem für diesen Sachverhalt recht knappen Schreiben, indem er behauptet: „Meine Aufzeichnungen und Papiere sind vermutlich verbrannt, sodaß ich nur nach meinen Erinnerungen berichten kann.“ Zudem gestalteten sich, seiner Aussage nach, deutliche Antworten auf die Anfrage des Konsistoriums als schwierig, „da die Verhältnisse (…) in den verschiedenen Zeiten verschieden waren.“
Er beschreibt die Einrichtung der Kirchenbuchstelle als einen Wunsch des Archivamtes des Evangelischen Oberkirchenrats. Er selbst sei in den Ausschuss der Initiatoren gewählt worden, weil er „unter den anwesenden (sic!) der beste Kenner der Berliner Kirchenbücher war“ und von 1923 bis 1933 in seiner „Freizeit systematisch genealogische Forschungen betrieben hatte.“
Ganz so fremdbestimmt, wie Themel es darstellt, kam er allerdings nicht in diese Position. 1934 gab es einen Bruch in seiner bis dahin kirchlich-nationalsozialistischen Karriere: Er verlor in diesem Jahr die Reichsführerschaft bei der Inneren Mission (die heutige Diakonie) und seine Stelle beim Evangelischen Männerwerk. Genau an diesem Punkt bot er in einem Brief an die Reichsstelle für Sippenforschung seine Mitarbeit an. Anfangs allerdings ganz ohne die Legitimation des Evangelischen Oberkirchenrats, bildete Themel 1935 eine kirchliche Vorbereitungsgruppe und blieb in dieser Zeit in engem Kontakt mit der Reichsstelle für Sippenforschung, um über die Entwicklung seiner Arbeit zu berichten. (Gailus 2015, 203f.)
Am 12. Dezember 1936 wurde die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin feierlich eröffnet, die Themel als nebenamtlicher Leiter führte. Als seinen Stellvertreter hatte er den SS-Mann und befreundeten Parteigenossen Henry Baer eingesetzt. Die Mitarbeitenden rekrutierten sich vor allem aus kirchlichen Parteigenoss:innen, in Themels Worten stammten sie überwiegend „aus den Kirchengemeinden, deren Kirchenbücher abgegeben und verkastet (sic!) waren“. Die Richtlinien für die Verkartung der Kirchenbücher als Grundlage für die systematische rassenpolitische Auswertung, arbeitete Themel selbst aus, so beschreibt er es auch gegenüber dem Evangelischen Konsistorium. Die Überwachung der Arbeit erfolgte durch seinen Stellvertreter und durch ihn selbst, „soweit mein Pfarramt mir Zeit ließ“, denn bis zum 30. Juni 1942 arbeitete er als hauptamtlicher Pfarrer der Luisenstadtgemeinde. (Gailus 2015, 207).
Themel betont an mehreren Stellen, dass seine Tätigkeit für die Kirchenbuchstelle nur nebenberuflicher Art sei und dass sein Stellvertreter sowie die Sachbearbeiter überwiegend selbstständig arbeiteten.
„Ich griff nur in Beschwerdefällen und möglichst wenig ein, um die Arbeitsfreudigkeit meiner Mitarbeiter nicht zu lähmen. Da ich im Höchstfall 2-3 Stunden im Betrieb anwesend war habe ich auch meinem Stellvertreter, der sehr gewissenhaft und zuverlässig war, in seinen Anordnungen weitgehend Selbstständigkeit gelassen.“
Der Überzeugung des Konistoriums, dass Themels Einsatz vor allem der Arbeit in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin galt, widerspricht er vehement:
„Die im dortigen Schreiben vom 7.1.1947 vertretene Auffassung, daß ich den weitaus größten Teil der Zeit und Arbeitskraft diesem Amt gewidmet habe, ist unrichtig.“
Faktencheck und Verdachtsmomente
Faktisch gesehen, muss sein dortiges Engagement jedenfalls ausgereicht haben, dass er im Jahr 1938 eine Beförderung zum nebenamtlichen Konsistorialrat mit dem Referat Kirchenbuch und Archivwesen erhielt und damit eine Leitungsposition im Konsistorium innehatte. (Gailus 2015, 107) Überhaupt lässt sein Verhalten während der NS-Zeit einen ganz anderen Schluss zu, als seine Selbstauskunft suggerieren will: Karl Themel gab sich eigentlich nie zufrieden mit dem einfachen Pfarramt in seiner Gemeinde. Seine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen völkischen und NS-nahen Vereinen lässt vermuten, dass der langjährige Pfarrer seine Zukunft im staatlichen Dienst sah, während sein Amt in der Luisenstadt-Gemeinde ihm wahrscheinlich in erster Linie ein festes Einkommen sichern sollte.
Auffällig sind seine frühe und intensive Beschäftigung mit Themen der sozialen Aufgaben von Kirche, aktuelle Fragen der sozialen Gesetzgebung in Deutschland und des Sozialismus. Seit 1931 war er nebenamtlicher „Sozialpfarrer“ von Berlin. Zudem engagierte er sich an vorderster Stelle im kirchlichen Kampf gegen die Freidenkerbewegung und die Arbeiterparteien. In den letzten Jahren der Weimarer Republik profilierte er sich als Antibolschewismusexperte und verfasste in diesem Kontext kirchliche Schulungsbroschüren wie „Lenin anti Christus“ (1931) – „Aufklärung einer verführten Arbeiterschaft“. Nach eigenen Angaben kam er in diesen Jahren mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus in Berührung.
Im April 1942 engagierte er sich zudem in der „Arbeitsgemeinschaft für die ausländischen Arbeiter auf Berliner Friedhöfen“, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem Arbeitskräftemangel auf Gemeindefriedhöfen durch den Einsatz von Zwangsarbeitern abzuhelfen. (Erinnerungsorte gestalten. Gedenkstätte für die NS-Zwangsarbeiter des kirchlichen Friedhofslagers Berlin-Neukölln, 2.Aufl. 2014)
Der Umgang der Nachkriegskirchenleitung mit Karl Themel – eine Rehabilitierung?
Am 2. Dezember 1948 hatte die Berliner Kirchenleitung entschieden, Karl Themel aus dem Amt zu entfernen, doch das Berufungsverfahren kam etwa ein halbes Jahr später zu einem viel milderen Urteil und ließ die Versetzung des Pfarrers in ein anderes Amt zu. Die Begründung dieses Urteils verdeutlicht, dass die Kirchenleitung nicht über alles Bescheid wusste, was Themel als nebenberuflicher „Sippenforscher“ in der NS-Zeit betrieb, „ (…) und zwar aus einer vielfach zu beobachtenden Mischung aus Nichtwissenkönnen und Nichtwissenwollen“, wie Manfred Gailus urteilt. (Gailus 2001, 447) Nach Kriegsende wurde Themel also zunächst disziplinarisch zurückgesetzt, konnte sein Amt als Pfarrer aber weiter fortführen. Nach seinem Übertritt in die Pensionierung übernahm er die ehrenamtliche Stelle als Archivleiter und Experte für Kirchenbuchwesen im Raum der Kirche Berlin-Brandenburgs. (Vgl. Gailus 2021, 93f.)
Wie war es möglich, dass Karl Themel angesichts seiner Arbeit für das NS-Regime im Amt bleiben durfte und auch nach dem Krieg eine Karriere machen konnte? Was tat die Nachkriegskirchenleitung in diesem Fall und warum entschied sie sich nicht für eine dauerhafte Amtsenthebung des ehemaligen Leiters der Kirchenbuchstelle?
Der Historiker Gailus ist der Ansicht, dass die kirchliche Leitung hinsichtlich der Person Themels wesentlich mehr hätte unternehmen können. Schon eine Befragung der Mitarbeitenden des Konsistoriums hätte ausgereicht, Entscheidendes über die Vergangenheit des Pfarrers in Erfahrung zu bringen. Dass Themel ein deutlicher Anhänger des nationalsozialistischen Regimes war und karrierebewusst genug, sich dem NS-Staat auch außerhalb des kirchlichen Amtes anzudienen, lässt sich zudem anhand seiner Biografie ohne weiteres nachverfolgen.
Literatur
Gailus, Manfred, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder Verlag, Freiburg 2021.
Gailus, Manfred, Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933-1945, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Böhlau Verlag, Köln 2001.
Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.
Seminarnummer: 60313
Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023
Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.
Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.
Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.
von Sophia Lamprecht und Shirin Sommer
Zwei Studentinnen im Q-Team des Sommersemesters 2020 haben sich mit vor allem pädagogischen Fragen zum Thema Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949 gestellt. Fragen im Vorfeld des hier veröffentlichten Interview-Podcasts waren:
- Wie vermittelt man Funktionen von Kirche und Glauben, wie Erinnerung, Umgang mit eigener oder vergangener Schuld, Versöhnung an junge Menschen?
- Was ist die Rolle der Kirche in der erinnerungspolitischen Landschaft von Gedenkstätten, öffentlichem Gedenken und historischer Forschung?
- Ist kirchliche Aufarbeitung weiterhin beeinflusst von den ersten Phasen der Aufarbeitung und Verdrängung der 1950er Jahre?
Zweiter Podcast der Reihe ist ein Interview mit Frau Pfarrerin Marion Gardei, der Beauftragten für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Einen ersten Beitrag dieser Reihe finden Sie hier: Erinnerungskultur und Public History – Interview-Podcast
Frau Pfarrerin Marion Gardei pflegt ein eigenes Portal zu erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Themen:
https://www.erinnerungskultur-ekbo.de
Beispiel institutionelle Erinnerungskultur: Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, das Gespräch wurde im Corona-Sommer 2020 in Präsenz, allerdings mit großem Abstand in einem größeren Andachtsraum geführt. Daher ist die Tonqualität nicht optimal. Einige Aspekte des Themas haben sich Stand 2023 bereits deutlich weiterentwickelt.
Podcast: Play in new window | Download