von Sophia Lamprecht und Shirin Sommer
Zwei Studentinnen im Q-Team des Sommersemesters 2020 haben sich mit vor allem pädagogischen Fragen zum Thema Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949 gestellt. Fragen im Vorfeld des hier veröffentlichten Interview-Podcasts waren:
- Wie vermittelt man Funktionen von Kirche und Glauben, wie Erinnerung, Umgang mit eigener oder vergangener Schuld, Versöhnung an junge Menschen?
- Was ist die Rolle der Kirche in der erinnerungspolitischen Landschaft von Gedenkstätten, öffentlichem Gedenken und historischer Forschung?
- Ist kirchliche Aufarbeitung weiterhin beeinflusst von den ersten Phasen der Aufarbeitung und Verdrängung der 1950er Jahre?
Zweiter Podcast der Reihe ist ein Interview mit Frau Pfarrerin Marion Gardei, der Beauftragten für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Einen ersten Beitrag dieser Reihe finden Sie hier: Erinnerungskultur und Public History – Interview-Podcast
Frau Pfarrerin Marion Gardei pflegt ein eigenes Portal zu erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Themen:
https://www.erinnerungskultur-ekbo.de
Beispiel institutionelle Erinnerungskultur: Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, das Gespräch wurde im Corona-Sommer 2020 in Präsenz, allerdings mit großem Abstand in einem größeren Andachtsraum geführt. Daher ist die Tonqualität nicht optimal. Einige Aspekte des Themas haben sich Stand 2023 bereits deutlich weiterentwickelt.
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von Victoria Klärner, Vera Klauser Soldá und Henrik Scholle
Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten.
Matthäus 6,24
Die Kooperation von Kirche und Staat zur Zeit des Nationalsozialismus zeigt, dass dieses Bekenntnis nicht immer auch umgesetzt wurde. Beide Institutionen verband eine enge Kooperation; angesichts des Zitats wird somit ein gewisses Konfliktpotenzial deutlich. Obwohl die Zeit des Nationalsozialismus bis heute umfassend erforscht wurde und die Kenntnis über die systematische Verfolgung der Juden zum Allgemeinwissen zählt, ist das bezüglich der Zusammenarbeit von NS und Kirche nicht immer der Fall. Es gibt kaum ein Bewusstsein dafür, inwiefern und vor allem auch, dass die evangelische Kirche überhaupt in das System integriert war.
Diese Tatsache war ausschlaggebend für uns, das Thema als Einführung aufzubereiten, um eine Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesem häufig vernachlässigten Teil der Kirchengeschichte zu schaffen. Dabei haben wir uns bemüht, eine objektive und kritische Sichtweise einzunehmen und zudem eine besondere Art der Wissensvermittlung gewählt, um das Thema zugänglicher zu machen und von anderen Darstellungen abzuheben.
Wir, das sind übrigens: Victoria Klärner (Master Deutsche Literatur, HU), Vera Klauser Soldá (Master Deutsche Literatur, HU) und Henrik Scholle (Bachelor Geschichts- und Sozialwissenschaften, HU). Verantwortlich für Layout und grafische Gestaltung ist Johanna Groß (Bachelor Grafikdesign und Visuelle Kommunikation, HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft).
Broschüre: Schuld – Mitschuld – Unschuld. Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus (PDF, ca. 10MB)
Dieser Beitrag wurde leicht verändert und von seinem ursprünglichen Erscheinungsdatum 2022 auf 2023 datiert, nachdem die Broschüre nach langen Vorarbeiten als PDF-Version zur Verfügung stand.
Hildegard Ehrig – Porträt einer Mitarbeiterin der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin
von Victoria Klärner
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Nachweis der Anstellung Hildegard Ehrigs in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (ELAB 4/410)
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Die Geschichte orientiert sich an Namen. Jede Epoche und jedes Ereignis werden mit bestimmten Namen verbunden. Das gilt auch und vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus. In diesem Fall stehen die Namen nicht nur stellvertretend für eine bestimmte Zeit, sondern auch für eine große, unüberschaubare Gruppe von Menschen, die nicht bekannt sind und aus diesem Grund für ihre Taten nicht belangt werden können. Nachweisbar sind meist nur die grausamsten Einzeltäter, die Schreibtischtäter hingegen bleiben oft namenlos. Dass deren Taten nicht weniger folgenschwer waren, zeigt das Beispiel der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (KBS). Von 1935-1945 arbeiteten dort bis zu 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter[1] daran, die konfessionellen Verwandtschaftsverhältnisse der Berliner Bevölkerung aufzuschlüsseln. Was auf den ersten Blick vielleicht noch belanglos scheint, erwies sich als maßgebliche Informationsquelle für die systematische Verfolgung der Juden. Durch die intensiven genealogischen Nachforschungen konnten die jüdisch-stämmigen Bürger identifiziert und so die Verfolgung derselben entscheidend vorangebracht werden. Durch ihre aktive Zuarbeit hat die Kirche eine wesentliche Beihilfe zur folgenden Ausgrenzung geleistet.
Initiiert wurde das Vorhaben nicht etwa von nationalsozialistischer Seite – obwohl 1935 eine entsprechende Stelle eingerichtet wurde[2] – sondern von der evangelischen Kirche. Um die „Nichtarier“ ausweisen zu können, musste eine Auswertung der Kirchenbücher erfolgen, wodurch die Kirche schlagartig integraler Bestandteil und wichtige Säule des Staates wurde. Da es staatliche Personenstandsregister erst seit Mitte der 1870er Jahre (Preußen) gab, waren die Kirchenbücher von besonderer Bedeutung. Diese reichten deutlich weiter zurück und waren somit eine einmalige, dem Staat eigentlich nicht zugängliche Quelle.
Festgehalten wurden die Namen der Betroffenen in s. g. „Juden-„ bzw. „Fremdstämmigenkarteien“, welche die Abstammung und Konfession zurückreichend bis zu den Großeltern beinhaltete. Für die Erstellung dieser Karteien war die KBS verantwortlich. Im Gegensatz zum Leiter derselben, dem Theologen Karl Themel[3], waren die Namen der Angestellten bis vor kurzem noch unbekannt. Durch einen Zufallsfund wurde eine Tabelle mit 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entdeckt, die 1937 dort gearbeitet haben. Leider ist in der Liste jeweils nur der Nachname angegeben. Hier begann die Spurensuche.
Vom 24.4.1936 bis zum 1.6.1944 war ich bei der Berliner Stadtsynode. Dort war ich in der Abteilung „Kirchenbuchstelle Alt Berlin“ als sippenkundliche Sachbearbeiterin und im Büro tätig.[4]
Die Spuren führten zu Helene Frieda Minna Hildegard Ehrig, die hier in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1947 ihre Tätigkeit beschreibt. Als exemplarisches Beispiel soll sie einen Einblick hinter die Kulissen gewähren. Wer war Hildegard Ehrig? Wusste oder ahnte sie zumindest, welche Folgen ihre Arbeit haben würde?
Um sich ein Bild von ihr machen zu können, lässt man sie am besten zunächst selbst zu Wort kommen.
Ich, Hildegard Ehrig, geb. Gordes, bin am 3.9.1911 in Berlin geboren, als Tochter des Kaufmanns Alexander Gordes und seiner Ehefrau Frieda geb. Schierjott. Von 1917 ̶ 1926 besuchte ich die Volksschule und wurde am 24.3.1926 im Dom zu Berlin konfirmiert, wo ich auch von meinem vierten Lebensjahr an, den Kindergottesdienst besucht habe. Von Ostern 1926 bis zum Herbst 1927 besuchte ich die Kinderpflegerinnen Schule in Berlin Niederschönhausen und daran anschließend, dort und im Jugendheim Charlottenburg, den „Schulwissenschaftlichen Vorkursus“, ohne Fremdsprache, der mit einer Abschlussprüfung für die mittlere Reife vor dem Stadtschulamt im Herbst 1928 schloss. Durch Krankheit meiner Mutter blieb ich bis zum Mai 1931 zu Hause, um dann bis zum 21.12.1931 im Kinderhaus am Friedrichshain als Kinderpflegerin zu arbeiten. Durch meine Zugehörigkeit zum Burckhardthaus seit 1928 und meiner Mitgliedschaft zur Jugendschar der Domgemeinde entschloss ich mich, in der Domgemeinde der Gemeindeschwester in der Gemeindearbeit und besonders in der Arbeit an den Jungscharkindern zu helfen. Ferner nahm ich an verschiedenen Freizeiten und Rüsttagen vom Burckhardthaus teil.
Allein diese wenigen Zeilen reichen aus, dem zunächst konturlosen Namen ein Gesicht zu verleihen. Hildegard Ehrig scheint eine äußerst soziale und engagierte Person gewesen zu sein, die sich besonders für Kinder und Jugendliche einsetzte, sowohl beruflich als auch privat. Ebenso deutlich wird auch ihre Engagiertheit in der christlichen Gemeinschaft, die wohl in der Familie lag; der Vater war u. a. Helfer im Kindergottesdienst und auch die Mutter war in der Gemeinde aktiv. In einem Empfehlungsschreiben aus dem Jahr 1947 heißt es, Hildegard Ehrig wäre ein Mensch, „der persönlich fest im christlichen Glauben wurzelt. Ihr Elternhaus ist ein ausgesprochen christliches.“ Wie kommt nun ein Mensch, der die christlichen Gebote offensichtlich auch lebte, an eine solch menschenfeindliche Beschäftigung wie in der KBS? Die Antwort ist (leider): wir wissen es nicht. An dieser Stelle können nur Vermutungen aufgestellt werden; eine wäre, dass sie über ihre Gemeindearbeit an die Anstellung kam.[5]
Aus einem Zeugnis, das 1944 ausgestellt wurde, gehen ihre genauen Aufgaben in der KBS hervor:
Sie war zunächst bei der Verkartung der Berliner Kirchenbücher des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Nach Einrichtung der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin am 12. Oktober 1936 wurde sie als Sachbearbeiterin beschäftigt. Als solche ermittelte sie Eintragungen in den Berliner Kirchenbüchern und auch in schwierigem Falle genealogische Zusammenhänge Berliner Sippen. Auch mit allen vorkommenden Arbeiten im Büro sowie in der Photokopierabteilung war sie zu unserer vollen Zufriedenheit tätig.
Sie hatte demnach nicht nur einfache Büroarbeiten zu erledigen, sondern war am eigentlichen Vorhaben aktiv beteiligt und das auch langfristig, immerhin war sie fast so lange angestellt, wie die KBS existierte. So konnte sie die Strukturen und damit auch die Ziele derselben sicherlich erkennen. Auch ein Teil ihres Privatlebens schien in der KBS stattgefunden zu haben, schließlich lernte sie dort ihren Mann Kurt Ehrig kennen; das Paar heiratete am 23.05.1942. Aufgrund ihrer Schwangerschaft schied sie kurz darauf aus dem Dienst aus, in ihrem Zeugnis wird sie folgendermaßen beschrieben:
Bei mündlich vorgetragenen Anträgen zeigte sie im Verkehr mit dem Publikum stets freundliches, hilfsbereites Wesen. Frau Ehrig war pünktlich, gewissenhaft und sorgfältig in ihrer Arbeit und bewies im Betrieb stets gute Kameradschaft.
Nachdem sie die Geburt ihres Sohnes Jürgen Kurt Gustav Alexander Ehrig und das Kriegsende nicht in Berlin erlebt hatte, kam sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes am 14.11.1945 dorthin zurück. Kurz darauf starb auch ihr Sohn.
Seit dem Juli 1946 bis jetzt nähte ich kunstgewerbliches Spielzeug. Da mich diese Arbeit aber nicht befriedigt, wurde mir von befreundeter Seite empfohlen, in die Gemeindearbeit zu gehen und als Religionslehrerin zu wirken. Hierfür habe ich große Freudigkeit, da es mir sehr wichtig ist, dass unsere Jugend von gottesfürchtigen Lehrern in die heilige Schrift eingeführt wird.
Durch die Arbeit als Katechetin[6] konnte Hildegard Ehrig die Arbeit mit Kindern und ihren christlichen Glauben gekonnt miteinander vereinen. Im Jahr 1947 beendete sie ihre Ausbildung und arbeitete anschließend in zwei Weißenseer Grundschulen. Ganz am Ende ihres Lebenslaufs aus demselben Jahr finden sich die wohl interessantesten Zeilen der gesamten Akte:
Lebenslauf aus dem Jahr 1947 (ELAB 4/410)
Bemerken möchte ich noch, dass ich seit dem Herbst 1934 als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche angehöre.
Diese Aussage macht das Bild, welches bis dahin von ihr entstanden ist, um einiges komplexer und auch interessanter. Und zugleich wirft es Fragen auf: Wie weit ging ihre Mitgliedschaft? Hat sie vielleicht im Kleinen das Vorhaben der KBS manipuliert? Oder war diese Angabe womöglich nur eine Schutzbehauptung, um sich nach dem Krieg – wie viele andere – als regimekritisch zu präsentieren? Anhand einiger Verweise in ihrem Lebenslauf können zumindest mögliche Beeinflussungen hinsichtlich der Bekennenden Kirche ausgemacht werden. Sie war in der Berliner Domgemeinschaft engagiert, wurde dort getauft, konfirmiert und besuchte den Kindergottesdienst. In dieser Zeit waren Bruno Doehring und Georg Burghart dort als Domprediger tätig; beide waren zwar keine Mitglieder der Bekennenden Kirche, jedoch standen sie zumindest deren Ideen nahe, Doering trat zudem offen regimekritisch auf. Während Ehrigs späteren Engagements im Burckhardthaus[7] war Otto Riethmüller der Leiter desselben und überdies Mitglied der Bekennenden Kirche. Hinzu kam, dass das Haus in Dahlem stand, bekanntermaßen der Wirkungskreis von Martin Niemöller. Ferner hielt sie sich 1933 längere Zeit im Haus von Walter Braun auf, um sich um dessen erkrankte Frau zu kümmern. Der spätere Generalsuperintendent schrieb ihr nicht nur eine Empfehlung für die Ausbildung zur Katechetin, sondern war auch regimekritisch eingestellt. Zuletzt sei noch die spätere Bekanntschaft zu Helga Krummacher erwähnt, der Frau des Generalsuperintendenten Friedrich-Wilhelm Krummacher, welcher wiederum eng mit Otto Dibelius bekannt war. Doch das sind nur Überlegungen zu möglichen Einflüssen, die Nähe Hildegard Ehrigs zu diesem Kreis ist nicht bekannt. Durch das Fehlen entsprechender Unterlagen bzw. Belege, auf die sich solche Mutmaßungen stützen könnten, kann die Frage nach ihrer Mitgliedschaft nicht geklärt werden und auch Vermutungen in diese Richtung – selbst angesichts möglicher Bekanntschaften – gingen zu weit und wären reine Spekulation.
Namen können entscheidend sein – das wurde deutlich. Nicht nur heute sind sie für die Erforschung der Vergangenheit von Bedeutung, auch aus zeitgenössischer Sicht waren sie essenziell. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es auf Seiten der Täter häufig nur Einzelpersonen, die angeklagt wurden; angesichts dieser grausamen Einzeltäter konnten die Schreibtischtäter nur allzu leicht in der Gruppe untergehen und verschwinden. [8] Mit diesem Porträt wurde der Versuch unternommen, jene aus dem sicheren Dunkel der Anonymität herauszuholen und somit auch die kleinen Räder im Getriebe in den Blick zu nehmen und ihrer Funktion in der Maschinerie nachzugehen. Denn ohne diese kleinen, vielleicht auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Teile, konnte das Ganze nicht funktionieren. So auch in der KBS; jeder trug seinen Teil zum Funktionieren derselben bei – und somit auch zur Verfolgung einer Minderheit.
Auf der Suche nach den Tätern in der Kirche fokussiert man sich zunächst fast zwangsläufig auf die Deutschen Christen, immerhin war die antisemitische Ideologie dort programmatisch. Die Überlegung hingegen, dass genauso auch in der Bekennenden Kirche Täter zu finden sind, erscheint angesichts des dafür fast synonym gebrauchten Begriffs des Widerstands womöglich paradox – doch das ist es nicht. Zum einen zeigt sich genau an dieser Stelle die erfolgreiche kirchliche Geschichtsschreibung, die eine solche Engführung bis heute proklamiert.[9] Zum anderen hat die Forschung wiederholt gezeigt, dass sich Bekennende Kirche und Nationalsozialismus, und damit auch eine christliche Gesinnung und menschenfeindliche Handlungen, keinesfalls widersprechen mussten. Genauso auch bei der Überlegung, ob eine Frau, die kurz nacheinander Mann und Sohn verliert, sich für Kinder und Jugendliche engagiert, Spielzeug näht und tief in ihrem christlichen Glauben verwurzelt ist, als Täterin angesehen werden kann; die Antwort ist: ja. Einfach, weil das eine das andere nicht ausschließt. Was aus heutiger Sicht ein Widerspruch zu sein scheint, konnte im zeitgenössischen Kontext durchaus möglich sein. Im Fall der Bekennenden Kirche sollten nicht von wenigen engagierten Einzelpersonen Rückschlüsse auf eine ganze Gruppe gezogen werden. Die Gruppierung bewegte sich vielmehr zwischen Zustimmung, Kollaboration und vereinzeltem Widerstand. Wo Hildegard Ehrig ihren Platz in dieser Konstellation einnehmen würde, wäre durchaus interessant, bleibt aber vermutlich im Schatten der Vergangenheit verborgen. Vielleicht hat sie sich widersetzt, vielleicht hat sie nicht verstanden, wozu das alles führen wird, oder vielleicht handelte sie auch aus Überzeugung und versuchte diese später durch eine Schutzhandlung zu verbergen, wir wissen es nicht. Doch was wir wissen ist, dass sie einen Teil zur späteren Geschichte beigetragen hat.[10] Und um mit den Worten Hannah Arendts zu schließen: Niemand hat das Recht zu gehorchen.
Literaturempfehlungen zur Kirchenbuchstelle Alt-Berlin und zur Kirche im Nationalsozialismus:
Gailus, Manfred: Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten Reich«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.
Gailus, Manfred: Bruderkampf im eigenen Haus: Die evangelischen Pfarrer in Berlin und der Nationalsozialismus, in: Kirchliche Zeitgeschichte (2000), Vol. 13/1, Katholizismus und Protestantismus während der NS-Diktatur und in der Nachkriegszeit, S. 20-44.
Krogel, Wolfgang G.; Lachenicht, Gerlind u. a. (Hrsg.): Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden, Wichern 2008.
Lachenicht, Gerlind u. a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus, Evang. Landeskirchl. Archiv in Berlin (2013).
Sandvoss, Hans-Rainer: »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen…«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945, Berlin 2014.
Interessante (Online)-Ausstellungen und weiterführende Informationen zum Thema
Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Eine Wanderausstellung der Nordkirche 2016 – 2019, online verfügbar unter https://www.nordkirche-nach45.de/.
Unterwegs zur mündigen Gemeinde – Die Evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem (Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem), Ausstellung online verfügbar unter https://www.friedenszentrum-martin-niemoeller-haus.de/ausstellung/.
Widerstand aus christlichem Glauben, Informationen und Dokumente der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, online verfügbar unter https://www.gdw-berlin.de/home/.
Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus (Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte), interaktive Ausstellung online verfügbar unter https://de.evangelischer-widerstand.de/#/.
[1] Gemeint sind 32 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Tabelle angeführt werden, und der Leiter Karl Themel. Im Laufe der Recherche konnten noch zwei weitere Mitarbeiterinnen identifiziert werden.
[2] Die Reichsstelle für Sippenforschung (später Reichssippenamt) wurde 1935 gegründet und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Erstellung von Ariernachweisen. Letztere mussten im Rahmen des Berufsbeamtengesetzes vom April 1933 für bestimmte Berufe erbracht werden. Um den Beruf weiter ausüben zu können, musste die „arische“ Herkunft urkundlich durch einen Abstammungsnachweis belegt werden. (Vgl. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/N36YVVRG6K7MXKJKFQKRWCSBEN CBAH2P)
[3] Karl Themel (1890-1973) war Theologe, evangelischer Pfarrer und ab 1932 Mitglied der NSDAP. Zudem war er Mitbegründer und gehörte zum engsten Führungskreis der Deutschen Christen. Er initiierte die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin auf eigenes Bestreben und bekleidete hochrangige Kirchenämter. Nach 1945 war er weiterhin als Pfarrer tätig und wurde mit Aufgaben im Archiv- und Kirchenbuchwesen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (West-Berlin) betraut. (Vgl. Gailus, Manfred: Themel, Karl, in: Handbuch des Antisemitismus. Band 2: Personen, hrsg. v. Wolfgang Benz, Berlin u. a. 2009, S. 826f.)
[4] Alle hier angeführten Zitate und Bilder entstammen der Personalakte, welche im Evangelischen Landesarchiv Berlin unter der Signatur ELAB 4/410 zu finden ist. Darin befinden sich: Personalbogen, Fragebogen, handschriftlicher Lebenslauf 1947, Bescheinigung, handschriftlicher Lebenslauf 1948, Katecheten-Prüfung, Zeugnis über die Prüfung für das katechetische Lehramt, Bescheinigung, Zeugnis und drei Fotografien.
[5] In einem Dokument, das von Karl Themel im Jahr 1947 verfasst wurde, geht er auf die personelle Struktur der KBS genauer ein. „Während der Herstellung der Karteien 1936 wurden im Ganzen etwa 250 Personen als Zeitangestellte vom Stadtsynodalverband eingestellt und beschäftigt, der auch Tarifverträge abschloss. Sie rekrutierten sich meist aus den Kirchengemeinden, deren Kirchenbücher angegeben und verkastet waren. […] Vor Aufnahme der Arbeit der Kirchenbuchstelle im Herbst 1936 wurden aus den Verkartern die geeigneten Personen für das Stammpersonal von mir und Baer ausgesucht und vom Stadtsynodalverband als Dauerangestellte übernommen.“ (ELAB 1/1238)
[6] Katechetinnen und Katecheten unterrichteten Religion, vor allem an Grundschulen.
[7] Das Burckhardthaus war eine Einrichtung der Evangelischen Kirche in Berlin-Dahlem, die ab 1893 bestand und nach ihrem Gründer benannt wurde. Im Mittelpunkt stand das Engagement für Kinder, Jugendliche und vor allem für (junge) Frauen.
[8] Vgl. dazu: Paul, Gerhard: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ganz gewöhnlichen Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, hrsg. von ders., Göttingen 2002, S. 13-90.
[9] Nach 1945 betrieb die Kirche ihre eigene Geschichtsschreibung (Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte des Kirchenkampfes), übernahm so die Deutungshoheit über ihre eigene Rolle und schrieb die „Kirchenkampf“-Mythen fort, sodass sie sich in einem insgesamt positiven Licht darstellen konnte. Damit war sie durchaus erfolgreich, für viele Nachgeborenen war diese Haltung handlungsprägend und ist es mitunter auch heute noch. Die BK-Führungspersonen genossen lange Zeit einen hohen Stellenwert, der erst heute in Frage gestellt wird und zu heftigen Kontroversen und auch Generationskonflikten führt. (Vgl. u.a. Gailus, Manfred: Bruderkampf im eigenen Haus: Die evangelischen Pfarrer in Berlin und der Nationalsozialismus, in: Kirchliche Zeitgeschichte (2000), Vol. 13/1, Katholizismus und Protestantismus während der NS-Diktatur und in der Nachkriegszeit, S. 20-44; Sandvoss, Hans-Rainer: »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen…«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945, Berlin 2014.)
[10] Ehrigs Beschäftigung in der KBS erscheint wie eine Zäsur oder ein Fremdkörper in ihrem Lebenslauf; vor und nach ihrer Anstellung arbeite sie mit Kindern und engagiert sich in der Kirche. Sie steht so symbolisch für viele Karrieren und Kontinuitäten in der Kirche, die im NS in das System integriert waren, davor und danach aber normalen Beschäftigungen nachgingen.
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