Archiv für Schlagwort Erinnerungskultur

Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik (SoSe 2024)

Kastanienallee 22 bei openstreetmap.org – noch kein Hinweis auf die Messiaskapelle, allerdings gibt es nunmehr in der deutschsprachigen Wikipedia einen Hinweis auf die „Stolperschwelle“ vor der Kastanienallee 22: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Berlin-Prenzlauer_Berg

Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.

Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.

AGNES-Einschreibeseite

Seminarnummer:  0212165

Interessierte Studierende der Berliner und Potsdamer Universitäten sind aufgefordert, sich beim entsprechenden Kurs der Lernplattform der Humboldt-Universität einzuschreiben. Die Inhalte werden zeitnah auf das Sommersemester 2024 aktualisiert:

https://moodle.hu-berlin.de/enrol/index.php?id=121360

Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023

Das Seminar wird im Sommersemester 2024 dienstags, 10-12 Uhr, im Raum 5061 (5. OG) im Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität stattfinden, Friedrichstraße 191 (FRS191).

Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.

Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.

Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik (WiSe 2023/24)

Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.

AGNES-Einschreibeseite

Seminarnummer: 60313
Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023

Der Bildschirmdruck zeigt einen Ausschnitt des Kartendienstes openstreetmap.org, bei der Kastanienallee 22 findet sich noch kein Hinweis auf die Messiaskapelle
Kastanienallee 22 bei openstreetmap.org – noch kein Hinweis auf die Messiaskapelle | Contains information from openstreetmap.org, which is made available here under the Open Database License (ODbL, https://opendatacommons.org/licenses/odbl/1-0/). JPG-Export erstellt am 5.10.2023.

Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.

Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.

Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.

5. Oktober 2023 | Veröffentlicht von Johan Wagner | Kein Kommentar »
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Erinnerungskultur und aktueller Stand kirchlicher Aufarbeitung – Interview-Podcast

von Sophia Lamprecht und Shirin Sommer

Zwei Studentinnen im Q-Team des Sommersemesters 2020 haben sich mit vor allem pädagogischen Fragen zum Thema Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949 gestellt. Fragen im Vorfeld des hier veröffentlichten Interview-Podcasts waren:

  • Wie vermittelt man Funktionen von Kirche und Glauben, wie Erinnerung, Umgang mit eigener oder vergangener Schuld, Versöhnung an junge Menschen?
  • Was ist die Rolle der Kirche in der erinnerungspolitischen Landschaft von Gedenkstätten, öffentlichem Gedenken und historischer Forschung?
  • Ist kirchliche Aufarbeitung weiterhin beeinflusst von den ersten Phasen der Aufarbeitung und Verdrängung der 1950er Jahre?

Zweiter Podcast der Reihe ist ein Interview mit Frau Pfarrerin Marion Gardei, der Beauftragten für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Einen ersten Beitrag dieser Reihe finden Sie hier: Erinnerungskultur und Public History – Interview-Podcast

Frau Pfarrerin Marion Gardei pflegt ein eigenes Portal zu erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Themen:

https://www.erinnerungskultur-ekbo.de

Beispiel institutionelle Erinnerungskultur: Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, das Gespräch wurde im Corona-Sommer 2020 in Präsenz, allerdings mit großem Abstand in einem größeren Andachtsraum geführt. Daher ist die Tonqualität nicht optimal. Einige Aspekte des Themas haben sich Stand 2023 bereits deutlich weiterentwickelt.

Blinde Kontinuitäten in Vergangenheit, Gegenwart…und Zukunft?

Anlässlich der Debatte um Max Friedlaender – die Erinnerungskultur der evangelischen Kirche auf dem Prüfstand

von Victoria Klärner

Karteikarte aus der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (Quelle: Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, ELAB, Bild 455 TK 3444)

Konstant bedeutet, verlässlich und authentisch zu sein. Das ist erst einmal nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil, so werden die Erwartungen stets erfüllt und es gibt keine unangenehmen Überraschungen; so weit, so gut. Beziehen sich diese Kontinuitäten jedoch auf eine anhaltend bruchstückhafte und einseitige Darstellung der eigenen Vergangenheit, die sich auch deutlich in der Erinnerungskultur niederschlägt, ist ein solch positives Urteil wohl nicht angebracht. Gemeint ist in diesem Fall die Aufarbeitung der evangelischen Kirche, welche das Engagement der Institution zur Zeit des Nationalsozialismus nur allzu gern verschweigt bzw. beschönigt darstellt. Dabei ist eine umfassende Erinnerungskultur sowohl von individueller als auch kollektiver Bedeutung[1]; hat sie doch eine identitätsstiftende Wirkung, wie Aleida Assmann betont:

Mithilfe von Erinnerungskulturen stärken Gruppen ihre Identität, bestätigen sie ihre Werte […].[2]

Wenn aber diese Identität auf einer unvollständigen Darstellung der Geschichte beruht, vermittelt das ein falsches Bild und zeigt damit wiederum ein typisches Merkmal der deutschen Erinnerungskultur – das Ausblenden entscheidender Wahrheiten der Vergangenheit.[3] Im Falle der evangelischen Kirche führt(e) die einseitige Überlieferung dazu, dass heute viele Theologiestudenten und kirchliche Mitarbeiter die Vergangenheit ihrer eigenen Institution nicht kennen. Ein grober Fehler der Erinnerungskultur, in der – wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht – nur allzu gern der eigene widerständische Charakter und bekannte Namen wie Niemöller oder Bonhoeffer hervorgehoben werden. In diesem Glanz – der ohne Frage bedeutenden Persönlichkeiten – wird aber gleichsam verschwiegen, dass es sich dabei um wenige Einzelpersonen handelte. Eine umfassende und organisierte kirchliche Widerstandsbewegung, als welche sie häufig pauschal dargestellt wird, existierte nicht. Vielmehr war die Kirche direkt in das System integriert und maßgeblich daran beteiligt, dass die Nationalsozialisten Einblick in die genealogische Vergangenheit der einzelnen Mitglieder erhielten und so gezielt die jüdisch-stämmigen herausfiltern konnten. Auch rassistische und antisemitische Äußerungen seitens kirchlicher Amtsträger waren keine Seltenheit – die nationalsozialistische Weltanschauung war auch in den Köpfen und Taten der Protestanten präsent. Diese, angesichts der Vergangenheit unumgängliche Aufarbeitung wurde von der Kirche jedoch nur teilweise und wenn, in Form einer zu eigenen Gunsten ausgelegten Darstellung geliefert. Außenstehende haben für die Erinnerungskultur weit mehr erreicht als die evangelische Kirche selbst.[4]

Und auch wenn sich einmal die Gelegenheit bietet, dieser Verdrängung der Geschichte ein positives und selbstkritisches Beispiel entgegenzusetzen, schafft es die Kirche, sich wiederholt in einem wenig schmeichelhaften Licht zu präsentieren.

Vergangenheit

Max Friedländer in seinem Arbeitszimmer, ca. 1920-1930; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Ottilie Kasper

Max Friedlaender wurde 1852 in Brieg in Schlesien geboren, studierte Musikwissenschaften und Gesang und hatte sich im Laufe seines Lebens besonders um das deutsche Volkslied verdient gemacht. Sein durchaus beeindruckender Lebensweg soll hier jedoch nicht Thema sein. Vielmehr ist es Friedlaenders religiöse Zugehörigkeit, die Anlass zur Debatte bot. Zwar wurde er als Jude geboren, konvertierte aber in den 1890er Jahren zum Christentum und wurde somit Protestant. Im Rahmen des nationalsozialistischen Systems galt er jedoch weiterhin als Jude und erhielt 1936 in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin eine eigene Namenskartei, ebenso wie seine Frau Alice (geb. Politzer, getauft 1904).[5] Friedlaender selbst war von der Judenverfolgung zwar nicht mehr direkt betroffen – er starb 1934 – Verwandte von ihm jedoch schon.

Es gab folglich bereits in der Vergangenheit große Unterschiede zwischen religiöser Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibung.

Gegenwart

Am 8. Oktober 2021 wurde auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf die Urne von Henry Thomas Hafenmayer beerdigt. Die Brisanz dieser Tatsache ist gleich doppelt begründet; zum einen handelte es sich bei diesem Mann um einen bekennenden Holocaustleugner und zum anderen wurde er auf der Grabstätte von Friedlaender beigesetzt. Dass Gräber nach einer gewissen Zeit wieder vergeben werden, ist üblich, jedoch in diesem Fall aufgrund der religiösen Zugehörigkeit Friedlaenders im Kontrast zur Gesinnung des Beigesetzten erwartungsgemäß durch die Presse gegangen.

Die Kirche reagierte mit einem durchinszenierten Bild (Quelle/Link: Twitter-Account Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz), das den Bischof Christian Stäblein mit einer Kippa auf dem Kopf am Grabstein von Max Friedlaender zeigt. Auf den ersten Blick könnte es vielleicht als übliche Darstellung im Sinne der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde gedeutet werden, doch wenn es am selben Tag heißt, Friedlaender sei Protestant gewesen, überwiegt doch der Eindruck eines inszenierten und gezielt öffentlichkeitswirksamen Bildes. Auf einer eigens für den Themenkomplex Friedlaender eingerichteten Seite der EKBO[6] heißt es in einem Frage/Antwort-Schema genauer: „Er war jüdischer Herkunft und trat in den 1890er Jahren zum evangelisch-lutherischen Glauben über. Er wurde 1934 als evangelischer Christ bestattet.“ Und weiter: „Die Freigabe für Henry Thomas Hafenmayer erfolgte auf Basis des Bestattungsregisters, das Max Friedlaender mit evangelischer Konfession führte.“ Wie kann es sein, dass Friedlaender offiziell offensichtlich als Protestant angesehen wird, sich der Bischof aber mit Kippa ablichten lässt und so den Eindruck vermittelt, ersterer wäre jüdisch gewesen? Hinzu kommt eine fragwürdige Aussage desselben in einer offiziellen Pressemeldung: „Als evangelische Kirche haben wir die erste und vornehmste Aufgabe, an der Seite der jüdischen Geschwister zu stehen.“[7] An der Aussage selbst ist nichts auszusetzen, der Kontext stellt sie jedoch in ein zweifelhaftes Licht. Hier scheint es an Sensibilität für die eigene Vergangenheit und Bewusstsein für die offensichtliche Verdrängung derselben zu mangeln.

Wiederholt werden, neben der mangelnden Sensibilität, die Fehler der Erinnerungskultur und das Missverhältnis der Kirche zu ihrer eigenen schuldhaften Vergangenheit deutlich. Die Kirche hat Schuld auf sich geladen, indem den Forderungen der Nationalsozialisten zur Mithilfe an der Verfolgung Unschuldiger bereitwillig nachgekommen wurde. Nun macht sich die Kirche zum zweiten Mal schuldig, indem dies nicht lückenlos aufgearbeitet wird.[8] Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist der Leser eines Presseberichts über die Friedlaender-Debatte womöglich weniger „erschüttert und fassungslos“, als es Bischof Stäblein bei einem Besuch der Grabstätte auf dem Südwestkirchhof war. Weiter führte er an, dass er „ […] alles daran setzen [möchte], diese Schändung des Grabes von Max Friedlaender aufzuarbeiten.“

Zukunft?

Angesichts der vergangenen Bestrebungen zur gewissenhaften Aufarbeitung sollte diese Aussage womöglich mit einer gesunden Skepsis betrachtet werden; zugleich wird sie von Zweifeln an der Ernsthaftigkeit des Vorhabens begleitet.

In Anbetracht der Berichte aus Vergangenheit und Gegenwart sind die systematischen Kontinuitäten in der Erinnerungskultur der evangelischen Kirche eindeutig zu erkennen. Das Beispiel Max Friedlaenders ist dafür exemplarisch. Die Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung und Fremddarstellung ist offensichtlich; erschreckend – aber zugleich auch bekannt – ist die sowohl sprachlich als auch historisch fehlende, kritische Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen „jüdisch“ und „evangelisch“, die augenscheinlich in diesem Fall stets zugunsten der Argumentation ausgelegt wurden und werden. Friedlaender wäre Protestant gewesen, aus diesem Grund sei die Vergabe der Grabstätte an einen Holocaustleugner im Grunde gestattet; hinzu kommt, dass er „1934 als evangelischer Christ bestattet [wurde].“[10] Letzteres stimmt nicht wirklich, er mag zwar so bestattet worden sein, galt aber laut Gesetz als „jüdisch“, u. a. zu sehen an seiner Karteikarte, und war so eigentlich auch für die Kirche kein Protestant. Hier fehlt wiederholt eine Kontextualisierung in der Argumentation der Kirche.

Eine ehrliche und vor allem selbstkritische Erinnerungskultur ist längst überfällig; auch wenn sich damit zugleich von der zwar bequemen, aber auch historisch inkorrekten wie subjektiven Engführung von Bekennender Kirche und Widerstand verabschiedet werden muss – die Kirche muss sich endlich vollends zu ihrer Schuld bekennen.


[1] Aleida Assmann schreibt dazu: „Individuelles Erinnern ist also in den größeren kulturellen Rahmen kollektiven Erinnerns eingebunden, womit die Voraussetzung für eine kollektive Identität geschaffen werden, die die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlägt.“ (Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 3. erweiterte und aktualisierte Auflage, München 2020, S. 29)

[2] Ebd., S. 32.

[3] Ebd., S. 40.

[4] Hier ist besonders auf Manfred Gailus hinzuweisen, der zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema Evangelische Kirche und Nationalsozialismus veröffentlicht hat. Vor allem seine Ergebnisse zur Kirchenbuchstelle Berlin und deren Leiter Karl Themel sind besonders hervorzuheben.

[5] Für nähere Informationen zur Kirchenbuchstelle siehe Artikel Aus dem sicheren Dunkel der Anonymität: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/14/aus-dem-sicheren-dunkel-der-anonymitaet/.

[6] Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO): https://www.ekbo.de/no_cache/start/themen/beisetzung-auf-der-ehemaligen-grabstaette-von-max-friedlaender.html

[7] Aus einer Pressemitteilung vom 14. Oktober 2021, Bischof Christian Stäblein: https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/1._WIR/06._Bischof/B.Z._Kolumne_St%C3%A4blein/211014_Grabstelle_Max_Friedl%C3%A4nder__003_.pdf

[8] Näheres zum Themenkomplex Schuld(frage) und Kirche finden Sie hier: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/05/04/296/

[9] Ebd.

[10] Info-Seite der EKBO: „Wer war Max Friedlaender?“: https://www.ekbo.de/no_cache/start/themen/ beisetzung-auf-der-ehemaligen-grabstaette-von-max-friedlaender.html

Update 5/2023: Twitter-Einbindung/Foto-Link modifiziert, Schlagworte ergänzt

2. Mai 2022 | Veröffentlicht von Victoria Klärner | Kein Kommentar »
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Baptisten im „Dritten Reich“

Baptisten gehören zu den evangelischen Freikirchen und haben als wohl größten Unterschied zu anderen evangelischen Konfessionen die Glaubenstaufe, d.h. es werden keine Babys oder kleine Kinder, sondern nur Jugendliche und Erwachsene, die sich bewusst dafür entscheiden, getauft.

Als zwei Baptistinnen haben wir, Cora und Lea, im Rahmen dieses Projektes in unserer eigenen Vergangenheit nachgeforscht. Uns hat die Frage beschäftigt, wie sich unsere Glaubensgeschwister in der NS-Zeit verhalten haben und wie sich unsere wie auch andere Baptistengemeinden positioniert haben. Die Ergebnisse unserer Nachforschungen wollen wir allen Interessierten in drei Podcast-Folgen vorstellen. Für jede unserer Folgen haben wir uns Interviewpartner eingeladen, die uns von ihren eigenen Nachforschungen berichten.

Natürlich liegt es bei unserem Thema nahe, Zeitzeugen zu befragen, die damals in Baptistengemeinden waren. In den Vorbereitungen für unsere erste Folge sind wir jedoch schnell auf das Problem gestoßen, dass Zeitzeugen kaum noch anzutreffen sind. Deswegen führen wir ein Zeitzeugengespräch aus zweiter Hand – wir haben uns Thilo Maußer eingeladen, Pastor der Baptistengemeinde in Brandenburg an der Havel, der uns von einem Zeitzeugengespräch berichtet, dass er selbst vor über zwanzig Jahren geführt hat. Mit ihm sprechen wir über Widerstand und Akzeptanz gegenüber der NS-Politik – wie war die allgemeine Haltung der Baptisten in Berlin und Brandenburg im Allgemeinen zum NS-Regime?

Podcast 1: Die Haltung der Baptistengemeinden zum Nationalsozialismus


Thema unserer zweiten Folge ist die vorherrschende Einstellung der Baptisten ihren jüdischen Mitmenschen sowie auch ihrer Glaubensgeschwister jüdische Abstammung gegenüber. Mit dem Pastor i.R. Roland Fleischer reden wir über die vorherrschende Einstellung der Baptisten ihren jüdischen Mitmenschen und auch ihrer Glaubensgeschwister jüdischer Abstammung gegenüber. Hierfür betrachten wir Einzelbiografien von Gemeindemitgliedern. Unser Gast forscht seit einigen Jahren zum Verhältnis von Baptisten und Juden und untersucht den Antisemitismus innerhalb der Baptistengemeinden. Wir benutzen in dieser Folge die Begriffe „Judenchristen“ und „Judenmission“, die auch in der NS-Zeit seitens der Nazis gebraucht wurden. Die NS-Bewertungen wollen wir damit aber natürlich nicht zum Ausdruck bringen, denkt euch die Begriffe beim Hören also bitte mit Anführungszeichen.

Rolands Zusammenstellung von Einzelbiografien findet ihr hier: Judenchristliche Mitglieder in Baptistengemeinden (theologisches-gespraech.de)

Podcast 2: Das Verhältnis von Juden und Christen in den Baptistengemeinden


In der dritten und damit letzten Folge unseres Podcasts betrachten wir den Prozess der Aufarbeitung der NS-Zeit und wie sich die Kirche und damit auch die Baptistengemeinden nach 1945 ihrer Vergangenheit stellten. Mit unserem Gast Prof. Dr. Andrea Strübind, die ihre Dissertation über den Bund der Baptistengemeinden im „Dritten Reich“ verfasste, sprechen wir über die Fragen nach der Verantwortung, der Schuld und dem Verständnis von Opfern und Tätern. Und vor allem: wie geht Aufarbeitung in unserer heutigen Zeit, und was bedeutet sie für unsere Generation?

Podcast 3: Die Aufarbeitung der NS-Zeit in den Baptistengemeinden

Wir wollen an dieser Stelle all unseren engagierten Interviewpartnern danken und auch unseren Dozenten, die uns beim Projekt stetig unterstützt und beraten haben. Dank geht auch an Herr Dr. Hansjörg Buss, der im Entwurfsstadium wissenschaftliche Beratung für diese Podcast-Reihe geleistet hat.

Wir hoffen, die Podcast-Reihe hat euch gefallen und vielleicht auch ermutigt selbst nachzuforschen und eure Familien- und auch Kirchengeschichten zu untersuchen und aufzuarbeiten.

„Neue Anfänge nach 1945?“

Vom 13. Januar bis zum 28. Februar 2022 ist in der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ die Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen“ zu sehen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland hat sie erstellt. Im doppelten Sinne beispielhaft macht die Schau die Verstrickung der Kirche in den Nationalsozialismus transparent.

(c) „Neue Anfänge nach 1945“ – Ausstellung der Nordkirche

Die Ausstellung dokumentiert den sogenannten Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die Institution als auch das Verhalten einzelner geraten in den Blick. Klar wird: Neben tatsächlichen Neuanfängen ist ein Ausblenden realer Schuld erkennbar, etwa durch kirchliche Unterstützung für NS-Verbrecher in der jungen Bundesrepublik oder die zögerliche Aufarbeitung eigener Verfehlungen in der NS-Zeit. Die nationalprotestantische Mentalität hatte den Nationalsozialismus gefördert, wurde jedoch nach 1945 nicht thematisiert. Wie wirkmächtig blieb der Nationalprotestantismus in der jungen Bundesrepublik? Darauf versucht die Ausstellung Antworten.

Sechs Themenfelder erwarten die Besucher:innen: Heimatvertriebene, Flüchtlinge und ‚Displaced Persons‘; Antisemitismus und neue Begegnungen; NS-Täter und Kriegsverbrecher im Schutz der Kirche; Streit um Schuld und Mitverantwortung; Haltung zu Krieg und Wiederaufrüstung; Antikommunismus und Diffamierungen.

Es gibt drei live gestreamte, ca. 45minütige, digitale Veranstaltungen jeweils donnerstags, 18 Uhr, im Beiprogramm der Ausstellung.

13. Januar, 18 Uhr: Eröffnung mit Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche, per Videogrußwort), Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Akademie der Nordkirche und Prof. Dr. Stefanie Endlich, Kuratorin der Ausstellung gemeinsam mit Monica Geyler-von Bernus und Beate Rossié

3. Februar, 18 Uhr: Die Journalistin Sigrid Hoff befragt Dr. Stephan Linck zu den Ausstellungsinhalten

10. Februar, 18 Uhr: Vorstellung der Dissertation von Beate Rossié „Kirchenbau in Berlin 1933-1945“
Im Gespräch mit Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur der EKBO und Beate Rossié

Die Ausstellung ist vom 13. Januar 2022 bis zum 28. Februar 2022 zu sehen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße 13 – 14, 10785 Berlin-Tiergarten, 1. Etage, Sonderausstellungsbereich.
https://www.gdw-berlin.de/home/

Öffnungszeiten
Mo – Fr 9 – 18 Uhr
Sa, So und an Feiertagen 10 – 18 Uhr
Änderungen vorbehalten. Information unter Telefon: 030/26 99 50 – 00

13. Januar 2022 | Veröffentlicht von Johan Wagner | Kein Kommentar »
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„Wie ein Dankeschön oder wie eine Entschuldigung“

Die Geschichte einer Familiengeschichte

von Lea Essers

Anfang der 2000er Jahre begann die evangelische Kirche mit der Aufarbeitung ihrer Rolle in der Geschichte des Nationalsozialismus. Neben der Kirchenbuchstelle1, die Teil wissenschaftlicher2 und kircheninterner Recherchen war, gehörte auch die Messias-Kapelle dazu. Dort befand sich seit ihrer Einweihung 1902 die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“, umgangssprachlich die Judenmission. Dort sollten Juden zum Christentum konvertiert werden. Im Nationalsozialismus konnte das mitunter lebensrettend sein. In den 1930er Jahren wird die Messias-Kapelle und die zugehörige Segenskirche zum wichtigsten Taufort für Personen jüdischer Herkunft3, denn ab 1935 war die Taufe von Juden und Jüdinnen „auf eigene Verantwortung“, viele Kirchen tauften sie nicht mehr. Doch in der Segenskirche wurde weiter getauft – unter anderem Familie Kuhnt.

Im Sommer 1934 heiraten Cäcilie und Walter Kuhnt gegen den Willen von Walters Eltern. Sie wollen nicht, dass ihr Sohn eine Jüdin heiratet. Das Paar ist dennoch glücklich. Zwei Jahre später kommt ihr Sohn Gerhard Kuhnt zur Welt. Zwei weitere Jahre später Renate Kuhnt. Sie wird heiraten und den Ehenamen Steinert annehmen. 76 Jahre später vertraut Renate Steinert Gerlind Lachenicht ihre Familiengeschichte im Rahmen von Recherchen zu Christen und Christinnen jüdischer Herkunft verschiedener Berliner evangelischer Gemeinden an1. Die Geschichte der Familie Kuhnt wurde bisher noch nicht öffentlich erzählt, denn vor einer Veröffentlichung fürchtete Renate Steinert sich 2006.

Die Segenskirche (heute Stadtkloster Segen) in Berlin Prenzlauer Berg. (Foto: Lea Essers)

Gerlind Lachenicht sprach über mehrere Monate mit Renate Steinert über ihre Familiengeschichte. Aus ihren Erzählungen und den zahlreichen Dokumenten und Fotos, die sie Frau Lachenicht zur Verfügung gestellt hat, entsteht eine Broschüre. 80 Seiten über die Geschichte der Familie. Über Renates Eltern, deren Eltern und Geschwister. Viele Verwandte der mütterlichen Seite der Familie überleben den Holocaust nicht.
Auf die Frage, wie es zu der Broschüre gekommen ist, antwortet Frau Lachenicht: „Das war wie ein Dankeschön oder wie eine Entschuldigung“. „Ich hatte das Gefühl, ich lasse die Menschen alleine. Ich habe alles aufgewühlt und dann bin ich wieder weg. Und was ist dann? Deshalb hatte ich das Bedürfnis, das alles aufzuschreiben“. Sie war sich nicht sicher, ob sie etwas falsch macht, ob Renate Steinert die Gespräche helfen. Die Broschüre, die sie für Renate Steinert erstellte, wurde in der Familie herumgereicht. Sie wurde dem Sohn, den Enkeln zum Lesen gegeben. „So konnte sich wenigstens die Familie damit auseinandersetzen“. Innerhalb der Familie schaffte sie Gesprächsmöglichkeiten. In der Broschüre vermischen sich die Perspektiven von Renate Steinert und Gerlind Lachenicht. Den Text schrieb Gerlind Lachenicht, die Bildunterschriften sind von Renate Steinert, die auch Gerlind Lachenichts Text als faktisch richtig bestätigt hat. „Mama und Papa 1934“ steht unter einem Foto. Zu sehen ist das glückliche Paar bei der Hochzeit.

Wer kann Zeugnis ablegen?

Gerlind Lachenicht fragt sich, ob es möglich ist, dass sie Zeugnis ablegt, stellvertretend für eine Zeitzeugin und die vielen weiteren, deren Geschichten sie gesammelt hat. Dieser Artikel soll ein Versuch sein. Die Geschichte der Zeitzeugin Renate Steinert und ihrer Familie, die eigentlich noch viel umfangreicher ist, vermittelt durch das Gespräch mit Gerlind Lachenicht und der von ihr erstellten Broschüre.

Cäcilie Kuhnt und die Kinder werden 1938 in der Segenskirche evangelisch getauft. Die Eltern haben wohl vorher bei Walters Gemeinde, der Eliaskirche in Ostberlin, um die Taufe gebeten, doch die wollen Juden und Jüdinnen nicht taufen. Sie wenden sich an die Messias-Kapelle, die die Judenmission beherbergt. Dort muss Cäcilie Kuhnt einen sechsmonatigen Taufunterricht besuchen, bevor sie kurz vor ihren Kindern in der dazugehörigen Segenskirche getauft wird, denn die Messias-Kapelle hat kein Taufbecken. Gerlind Lachenicht und ehrenamtliche Mitstreiter_innen ermittelten, dass 704 Menschen auf dem Weg der Messias-Kapelle getauft wurden, mindestens 84 von Ihnen wurden in Konzentrationslagern getötet2. Taufpatinnen für Cäcilie und die Kinder sind Walters Mutter und Schwester. Sie leben im gleichen Haus in Ostberlin. In der vierten Etage Walters Eltern und Schwester, in der Wohnung gegenüber Cäcilies Bruder mit seiner Familie. In der Ersten Etage lebt Renate Kuhnt mit ihrem Bruder und ihren Eltern.

Die Deportationen der Verwandten beginnen

1941 wird Renate Kuhnts Großmutter deportiert. Sie wird in Lodz ermordet. Für Renate Kuhnt ein harter Schlag. Ihre Eltern bewahren ihre Möbel und Habseligkeiten auf. Ihr großer Esstisch stand noch 2006 in der Wohnung der Steinerts. Er passe zwar eigentlich nicht in die Wohnung, aber sie könne sich einfach nicht von ihm trennen.

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Steinert in Ostberlin. (Foto: Lea Essers)

1943 wird auch die Familie von Renates Onkel deportiert. Ihre Tante liegt im Wochenbett mit dem zwei Monate alten Sohn. Die Gestapo bietet ihr an, vorerst mit dem Baby in der Wohnung zu bleiben zu dürfen. Für sie keine Option. Sie lässt sich nicht von ihrer Familie trennen und geht mit. Sie alle werden in Auschwitz ermordet.
Während der Deportation ihres Onkels stehen Renate Kuhnts Großeltern väterlicherseits im Flur. Ihr Großvater sagt: „Die aus dem ersten Stock muss auch weg.“ Er meint Renates Mutter. Das Verhältnis zu Walter Kuhnts Familie ist gebrochen. Nur zu seinem Bruder und dessen Frau besteht noch eine gute Beziehung.

Später wird Renate Steinert die Namen ihres Onkels und seiner Familie auf der Website von Yad Vashem suchen. Den Namen ihres kleinen Cousins findet sie nicht. „Als hätte es ihn nie gegeben“. Doch sein Name war falsch eingetragen, auch er hat dort einen Eintrag.

Im Luftschutzkeller sitzt Renate mit ihrer Familie auf Holzbänken. Will sie zu ihren Großeltern, die auf Sofas weiter hinten sitzen, hält ihre Mutter sie auf. Später dürfen sie nicht mehr in den Luftschutzkeller. Erst sitzen sie auf der Treppe zum Keller, dann bleiben sie in der Wohnung im ersten Stock. Walter Kuhnt baut eine Vorrichtung zur Abdunkelung. Dahinter dürfen sie sogar etwas Licht anmachen.

Weil Walter sich weigert, sich von Cäcilie scheiden zu lassen, kommt er 1944 in ein Arbeitslager. Alle Männer, die dort arbeiteten, blieben standhaft. Zwei überlegen, sich doch scheiden zu lassen. „Aber dann hätten sie die anderen totgeschlagen“, erinnerte sich Renate Steinert an die Erzählung ihres Vaters. Fünf Monate ist er dort, bis zum Ende des Krieges. Renate Kuhnt, ihr Bruder und ihre Eltern überleben. Gerlind Lachenicht beschreibt in ihrer Broschüre Cäcilies vorzeitige Alterung. Die Verfolgung und der Verlust von 43 Familienmitgliedern haben an ihr gezehrt.

Durch die frühe evangelische Taufe der Kinder wird die Ehe der Eltern als „privilegierte Mischehe“ kategorisiert. Auf Gerlind Lachenichts Frage, ob sie das Gefühl hatte, ihre Familie sei in irgendeiner Form „privilegiert“ gewesen, antwortet Renate Steinert: „Na klar. Wir waren ja nicht in Auschwitz“.

Ungerechtigkeit nach 1945

Nach dem Krieg ziehen sie vom Hinter- ins Vorderhaus, ebenso wie Walter Kuhnts Eltern. Die beiden Familien nähern sich wieder an. Renates Bruder Gerhard Kuhnt zieht vor dem Mauerbau nach Westberlin. Renates Mutter Cäcilie Kuhnt möchte im Osten bleiben. „Zu viele Nazis“ sind ihr im Westen.
Renate Kuhnts Eltern werden beide als Opfer des Faschismus anerkannt. Walter wird gefragt, was er für den Aufbau des neuen Staates leisten möchte. Als er sich weigert, in die SED einzutreten, wird ihm sein Status als Verfolgter aberkannt. Er sei nur fünf Monate im Arbeitslager gewesen. Unter sechs Monaten würde im Einzelfall entschieden. Walters Ehrenrente fällt weg, durch einen Unfall kann er nicht mehr arbeiten. Seine Psyche verschlechtert sich. Mitte der 60er Jahre begeht er Suizid.
Auch Cäcilie Kuhnts psychische Gesundheit verschlechtert sich nach dem Nationalsozialismus immer weiter. Renate Kuhnt kümmert sich um ihre Mutter. Sie braucht jedoch größere Unterstützung und geht in eine psychiatrische Klinik.

Später heiratet Renate Kuhnt, nimmt den Namen Steinert an und bekommt einen Sohn. Ihr Leben lang ist sie in ihrer evangelischen Kirchengemeinde sehr engagiert. Dort wissen einige Personen von ihrer jüdischen Herkunft, aber niemand kennt ihre gesamte Geschichte. Bei der Recherche zu Christen jüdischer Herkunft, bei denen Freiwillige in den evangelischen Gemeinden Berlins die Taufbücher durchsuchen, stößt eine Freiwillige auf einen bekannten Namen. Sie kennt Renate Steinert persönlich, fragt, ob sie sich mit dem Arbeitskreis über ihre Familiengeschichte unterhalten möchte. Sie stimmt zu. In den folgenden Monaten trifft sie sich mehrmals mit Gerlind Lachenicht, zeigt ihr Dokumente, Fotos, erzählt ihr von ihren Erfahrungen. Sie habe einen besonderen Zugang zu Renate Steinert gehabt, sagt Gerlind Lachenicht. Sie kam von der Kirche, das gibt einen Vertrauensvorschuss.

Geschichten dem Vergessen entreißen

Die Geschichte von Renates Familie ist nicht die einzige, die Gerlind Lachenicht recherchiert und unveröffentlicht gelassen hat. Sie wünscht sich, dass diese Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Doch viele der Betroffenen hatten und haben immer noch Angst vor der Veröffentlichung ihrer Geschichten, so wie Renate Steinert vor ihrem Tod.
Doch wie gestaltet man das Erinnern ohne Zeitzeug_innen? Renate Steinert ist nicht mehr am Leben, doch ihre Geschichte wurde weiter getragen. Auch wenn sich durch die Vermittlung die Geschichte durch verschiedene Perspektiven färbt, so ist es dennoch wichtig, die Geschichten nicht unerzählt zu lassen. Als Erinnerung an das Leid, vor dem sich Renate Steinert noch ihr ganzes Leben lang fürchtete. Um ihre Geschichte dem Vergessen zu entreißen.

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1 Zur Geschichte der Kirchenbuchstelle und ihrer Mitarbeiter_innen siehe auf diesem Blog z.B. https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/14/aus-dem-sicheren-dunkel-der-anonymitaet/ (16.07.2021)

2 Siehe z.B. Manfred Gailus (Hg.) (2015) „Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933-1945“. Göttingen: Wallstein Verlag.

3 Zur Geschichte der Messias-Kapelle siehe https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/gedenkort-messiaskapelle-2/ (16.07.2021)

4 Teile dieser Recherchen wurden hier veröffentlicht: Hildegard Frisius, Marianne Kälberer, Wolfgang Krogel, Gerlind Lachenicht und Frauke Lemmel (Hg.) (2008) „Evangelisch getauft, als Juden verfolgt“, Berlin: Wichern Verlag.

5 Zur Geschichte des Arbeitskreises Christen jüdischer Herkunft siehe https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/ (16.07.2021)

16. Juli 2021 | Veröffentlicht von l.essers@campus.tu-berlin.de | 1 Kommentar »
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Erinnerungskultur und Public History – Interview-Podcast

von Sophia Lamprecht und Shirin Sommer

Zwei Studentinnen im Q-Team des Sommersemesters 2020 haben sich mit vor allem pädagogischen Fragen zum Thema Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949 gestellt. Fragen im Vorfeld des hier veröffentlichten Interview-Podcasts waren:

  • Wie vermittelt man Funktionen von Kirche und Glauben, wie Erinnerung, Umgang mit eigener oder vergangener Schuld, Versöhnung an junge Menschen?
  • Was ist die Rolle von Symbolen und Bauwerken im Bereich Public History und Erinnerungskultur?
  • Wie leitet man eine Reise in die Vergangenheiten gut und spannend an, ohne zu sehr zu vereinfachen oder sich zu verzetteln?

Erster Podcast der Reihe ist ein Interview mit Frau Hana Hlásková, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektsteuerin der Bildungsarbeit der Stiftung Garnisonkirche Potsdam. Das nicht nur, aber auch erinnerungskulturelle Projekt ist umstritten, Kritiker:innen haben beispielsweise einen Internet-Lernort über die Geschichte des Bauwerks und die Debatten darüber gestartet:

http://lernort-garnisonkirche.de

Aus Sicht der Initiator:innen stellt sich die Zielrichtung naturgemäß anders da als von Kirtiker:innen eingeschätzt, hilfreich sind in dieser Hinsicht die „Leitgedanken“ der Stiftung Garnisonkirche:

https://garnisonkirche-potsdam.de/das-projekt/leitgedanken/

Interessant aus Sicht des Q-Team-Themas ist die Online-Ausstellung von 1918-1945:

https://wissen.garnisonkirche.de/online-ausstellung/1918-1945/

Beispiel Garnisonkirche: Hana Hlásková, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektsteuerin der Bildungsarbeit der Stiftung Garnisonkirche Potsdam, das Gespräch wurde im Corona-Sommer 2020 per Video-Konferenz geführt. Daher ist die Tonqualität nicht optimal. Einige Aspekte des Themas haben sich Stand 2021 bereits deutlich weiterentwickelt.

Interview mit Hana Hlásková – Teil 1
Interview mit Hana Hlásková – Teil 2

„Trauer, Ehrung und Schuld“ – Gedächtnismale für Opfer der NS-Diktatur und des 2. Weltkrieges in Berliner evangelischen Kirchengemeinden

von Lisa Wodinski und Margot Desplanches

Für eine Online-Ausstellung über das Tool StoryMap wurden 42 Gedächtnismale ermittelt, die von Berliner evangelischen Kirchengemeinden aufgehängt bzw. errichtet wurden und die den Opfern des 2. Weltkrieges und der NS-Diktatur gewidmet sind.

Neun Gedächtnismale werden in der Online-Ausstellung exemplarisch vorgestellt. Sie zeugen von Trauer um im 2. Weltkrieg gefallene Angehörige oder andere Opfer der NS-Zeit, Ehrung besonderer Persönlichkeiten des Widerstands und Bekenntnissen zu Schuld, die die Kirche auf sich geladen hat.

Die Online-Ausstellung soll zeigen, wie vielfältig sich das Gedenken in evangelischen Gemeinden Berlins gestaltet, und einen interdisziplinären Denkanstoß darstellen. Sie wurde von einer Theologie- und einer Geschichtsstudentin als interdisziplinäres Projekt erstellt. Vorrangiges Ziel ist es, einen ersten Überblick über Gedächtnismale der Nachkriegszeit in Berliner evangelischen Kirchengemeinden zu geben und damit zum Weiterdenken anzuregen.

Update Oktober 2021:

Unsere Online-Ausstellung findet auch Erwähnung auf der Seite der Gemeinde Schlachtensee, der Erinnerungskultur in der EKBO und des Ausbildungsportals für den ordinierten Dienst in der EKBO. Auch im Gemeindebrief der Luisenkirche findet sich ein Artikel.

25. April 2021 | Veröffentlicht von Lisa Wodinski | Kein Kommentar »
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