Antisemitismus

Die Familie Blumenthal

Eine Recherche von Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig

Bei Recherchen zu jenen evangelischen Berlinern, die während des Nationalsozialismus als Juden verfolgt wurden, sind wir auf eine Liste der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gestoßen. Diese Liste, die auf die Historikerin Gerlind Lachenicht zurückgeht und unter folgendem Link aufrufbar ist (https://www.landeskirchenarchivberlin.de/wp-content/uploads/2009/12/mk-deportationsliste.pdf) führt die Namen der Menschen, die in der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg getauft und nach den pseudowissenschaftlichen Kriterien der Nürnberger Gesetze von 1935 als Juden markiert, verfolgt und anschließend deportiert wurden. Nur zwei der 86 Deportierten überlebten den Holocaust. Auf dieser Liste erscheint der Name Blumenthal gleich sieben Mal. Dabei handelt es sich um eine Kernfamilie von 6 Mitgliedern und Max Blumenthal, den wir als Bruder von Walter vermuten. Die beiden Eheleute Walter Blumenthal und Else geb. Joseph stehen über den Kindern Johann Wolfgang Maximilian, Knut Jürgen Norbert, Gerhard Friedrich Karl, sowie Christa Irene Eleonore Blumenthal, die alle 1934 getauft wurden. Aus der Liste können wir entnehmen, dass sie am 1.11.1941 in das Ghetto Łódź deportiert wurden. An diesem Tag ging der sog. IV. Transport nach Łódź. Im Folgenden sehen wir ein Täterdokument, nämlich einen Teil der Deportationsliste der Gestapo, auf dem auch die Familie Blumenthal verzeichnet ist. Hier steht neben Namen, Geburtsdatum, Adresse auch die Berufsbezeichnungen der Deportierten. Wolfgang, Jürgen und Gerhard werden in diesem als Schüler bezeichnet, Christa als Kind. Ihren Namen sind die Zwangsnamen  „Israel“ respektive  „Sara“ beigefügt, was eine weitere Maßnahme der Nationalsozialisten zur Rassifizierung und Homogenisierung der diversen jüdischen Lebenswelten war. 

Quelle: Archiwum Państwowe w Łodzi, 278, Nr. 1170 (Kopie des USHMM, RG-15.083, Reel 263); Archiv des ITS

Das folgende Dokument ist Ausschnitt der Liste der  „Eingesiedelten“, die vermutlich von der jüdischen Ghettoverwaltung erstellt wurde und der Familie Blumenthal eine gemeinsame Unterkunft zuweist. Ihre Adresse im Ghetto wird ebenfalls auf dem Dokument geführt, ist aber nur schwer zu entziffern. Auch hier wird wieder die Berufsbezeichnung der Familienmitglieder geführt. Bemerkenswert ist hier, dass Walter als Beamter ausgewiesen wird. In dem Dokument der Gestapo wird er als Angestellter aufgeführt. Wenn es sich hier nicht bloß um unterschiedliche Bezeichnung für dieselbe Tätigkeit handelt, gibt dieser Unterschied Hinweis auf den beruflichen Einschnitt, den der sogenannte Arierparagraph, also das  „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 für jüdische Beamte wie Walter Blumenthal bedeutet hat.1

Archiwum Państwowe w Łodzi, 278, Nr. 1171 (Kopie des USHMM, RG-15.083, Reel 263)

Nach der Annexion Westpolens durch NS-Deutschland wurde in Łódz das zweitgrößte jüdische Ghetto während der Zeit des Nationalsozialismus eingerichtet. Auf nur vier Quadratkilometern wurden zum Zeitpunkt der Deportation der Familie Blumenthal mehr als 160.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen eingepfercht2. Laut den Chronisten des Ghettos wurden, um die im Zuge der im Oktober 1941 beginnenden Massendeportationen aus dem Altreich sowie Österreich und Böhmen neu angekommenen Menschen unterzubringen, die Schulen im Ghetto geschlossen und als Wohnräume umfunktioniert. Über die genauen Lebensbedingungen der Familie Blumenthal können wir nur mutmaßen, doch muss die Deportation ins Ghetto, trotz der schrecklichen antisemitischen Diskriminierung und Verfolgung, die die Familie bereits in Berlin erlebte, ein traumatischer Einschnitt gewesen sein. Das Ghetto in Łódź war im Armenviertel Bałuty eingerichtet worden, in der die Strom- und Gasversorgung nur unzureichend war. 90% der Wohnungen verfügten über keine Sanitäreinrichtungen und als im November 1941, dem Deportationsdatum der Blumenthals, die Überbevölkerung des abgeschlossenen Lagers ihren Höchststand erreichte, waren die Bedingungen schlichtweg katastrophal. Die tschechischen Überlebenden Věra Arnsteinová und Mája Randová berichteten:

„Fäkalien flossen den Bürgersteig entlang. Bei der Ankunft fanden wir Hinterhöfe vor, die voller Müll waren. Bałuty bestand aus Stein- und Holzhäusern mit großen Höfen, die untereinander verbunden und völlig verwahrlost waren. Erst als eine Epidemie drohte und die Deutschen Angst vor Infektionen hatten, ließen sie den Müll wegräumen. Es drohten Cholera, Gelbsucht, Typhus. Für Mutters Kleider tauschten wir Waschschüsseln und Kübel ein, um existieren zu können. Laufend gingen aus dem Ghetto die ersten Transporte ab, und niemand wusste, wohin. Reihenweise starben Menschen an Hunger und Krankheiten. Wir zogen in eine freigewordene Wohnung um – vier Personen in einem Zimmer mit zwei Pritschen, Tausende Wanzen, derer man nicht Herr wurde. (…) Wanzen. Flöhe, Kleiderläuse. Bei der Essenausgabe lange Schlangen, und man konnte beobachten, wie die Läuse von einem zum anderen sprangen. Die Läuse übertrugen Flecktyphus. Für die ausgehungerten und erschöpften Menschen war es schrecklich schwer, im Winter für tägliche Hygiene zu sorgen. Als wir ankamen, teilte man uns irgendeine Rübensuppe aus. Wir konnten sie nicht essen, aber die Einwohner bettelten darum. Bald haben auch wir sie geschluckt. Die ganzen Jahre war der Hunger im Ghetto am schlimmsten, vor Hunger starben Alte und Junge.“3

Die Deportationen, von denen Věra Arnsteinová und Mája Randová berichten, gingen ins Vernichtungslager Kulmhof in Chełmno am Ner. Seit Oktober 1941 wurde dieses vom “Sonderkommando Lange” errichtet, dessen Leiter SS- Hauptsturmführer Herbert Lange war. Dessen Sonderkommando war seit 1940 mit der Ermordung tausender polnischer Pflegeanstaltspatienten betraut, die in dafür umfunktionierten LKWs vergast wurden, bevor das Kommando im Dezember 1941 mit Mordaktionen an Juden und Sinti und Roma im dafür eingerichteten Vernichtungslager Kulmhof begann. Bis zum Mai 1942 werden aus dem Ghetto Łódź 55.000 Menschen ins 55 Kilometer entfernte Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort in den Gaswagen des “Sonderkommando Lange” ermordet. Darunter war im Mai 1942 auch die Familie Blumenthal. Das Gedenkbuch “Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945” verzeichnet als Todestag für Else, Jürgen, Gerhard und Christa den 09. Mai 1942. Walter und Johann Israel wurden fünf Tage später, am 14. Mai 1942 nach Chełmno deportiert und dort im Vernichtungslager Kulmhof ermordet.

Vermögenserklärung und Einziehungsverfügung der Familie Blumenthal

Vermögenserklärung Walter Blumenthal. Quelle: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Nr. 3923, Bl. 8

Die kurz vor der Deportation zwangsweise auszufüllenden Vermögenserklärungen und Einziehungsverfügungen der Familie Blumenthal geben nicht nur Aufschluss über das nach Jahren der rechtlichen Ausgrenzung verschwindend geringe finanzielle und materielle Vermögen der Familie, sondern es lassen sich auch weitere Informationen über die Familie und den bürokratischen Umgang des NS-Regimes mit Deportierten herauslesen. Die Vermögenserklärung musste die Familie Blumenthal Ende 1941 wahrscheinlich noch in ihrer Wohnung ausfüllen und mit in das Sammellager Levetzowstraße bringen.4 Dort wurden den einzelnen Familienmitgliedern die Einziehungsverfügungen ihres Vermögens am 30.10.1941, einen Tag vor der Deportation, überreicht. Damit konfiszierte der NS-Staat in seiner rassistisch-antisemitischen Logik „volks- und staatsfeindliches Vermögen”.5 Die Sammellager wie das Lager in der Levetzowstraße waren Orte der Gefangennahme, in denen Verfolgte umittelbar vor der Deportation zusammengepfercht und registriert wurden. Sie waren der Ausgangspunkt für den Weg in die Ermordung für viele Verfolgte. Hier wurden sie auch durch die Vermögenserklärungen, ihres letzten Hab und Gut beraubt. Das Sammellager Levetzowstraße war als vorübergehendes Sammellager von 1941-1943 in Betrieb. Inhaftierte verblieben dort nur wenige Tage, bis sie deportiert wurden.6 In den Vermögenserklärungen mussten Angaben zu Mobiliar, Schmuck, Kleidung, Wertpapieren etc. gemacht werden. Der Familie war bis auf 20 Reichsmark Bargeld und einiger weniger Möbel- und Kleidungstücke nichts mehr geblieben. Einzig Mietschulden über mindestens 150 Reichsmark aus vorherigen Wohnverhältnissen der Familie stechen heraus. Alle Mitglieder der Familie hatten eine Vermögenserklärung auszufüllen. Auch für die zu diesem Zeitpunkt vierjährige Christa Irene Eleonore musste eine solche Erklärung ausgefüllt werden. Die Absurdität der NS-Bürokratie wird in dieser Vermögenserklärung besonders deutlich, da eine Vierjährige außer „div. alte Wäschestücke u Kinderkleidung [sic]“7 keine Vermögenswerte anzugeben hatte. Auf der ersten Seite jeder Vermögenserklärung mussten persönliche Daten, darunter auch die Konfession angegeben werden. Aufgrund der Taufe aller Familienangehörigen im Jahre 1934 trugen die Blumenthals hier evangelisch ein und wurden trotzdem in der Logik des Nationalsozialismus als Jüdinnen und Juden verfolgt.
Weitere Dokumente im Anhang der Akte der Vermögenserklärungen im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam zeichnen ein Bild der institutionellen Verstrickung der Deportation der Blumenthals. Von mehreren Seiten werden ausstehende finanzielle Zahlungen angemahnt. Nachdem die Beschlagnahmung der Zweizimmerwohnung Berlin N.O. 55, Treskowstr. 34 I aufgehoben wird, stellt die Deutsche Bau- und Grundstücksaktiengesellschaft am 06.10.42 einem Antrag auf Erstattung der Sanierungskosten über 316,39 Reichsmark für Malerarbeiten, die der Vormieter Blumenthal zu zahlen hätte. Das städtische Energieversorgungsunternehmen Bewag stellt am 29.05.42 eine „Meldung über evakuierte Juden”8 und fordert 11,27 Reichsmark ein.

Rest-Schuld Beleg Bewag. Quelle: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Nr. 3923, Bl. 106

Das Wohnungsunternehmen GEHAG will noch 1943 Mietrückstände in Höhe von 179,92 Reichsmark für den „evakuierten Juden Walter-Israel Blumenthal”9 aus dem Einzug des Vermögens der Familie Blumenthal gedeckt sehen. Verantwortlich für die Bearbeitung dieser Anträge war die Vermögensverwertungsstelle beim Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg, die als Sonderdienststelle geschaffen wurde. Sie verwaltet das Eigentum der Deportierten und arbeitet dabei eng mit der Gestapo zusammen.10 Erst im Dezember 1944 endet laut den Akten des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam die bürokratische Verarbeitung der zu diesem Zeitpunkt schon lange in Chełmno ermordeten Familie Blumenthal.

Forderung nach Deckung von Mietrückständen. Quelle: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Nr. 3923, Bl. 102

Max Blumenthal

Max Blumenthal, am 22. März 1899 in Berlin geboren und mutmaßlicher Bruder von Walter Blumenthal, wurde ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Gegensatz zur Mehrzahl der nach Auschwitz-Birkenau deportierten Menschen, die unmittelbar nach Ankunft in den Krematorien des Lagers ermordet wurden, wurde Max Blumenthal im Lager registriert. So befinden sich in der Datenbank der Gedenkstätte Auschwitz Informationen zu ihm. Unter anderem sind dort erkennungsdienstliche Fotos, die im Zuge seiner Registrierung aufgenommen wurden und ihn in Häftlingskleidung zeigen, online abrufbar. Diese Fotos zeigen Max Blumenthal nach jahrelanger Verfolgung, unmittelbar nach seiner Deportation nach Auschwitz-Birkenau. Sie sind die einzigen Fotos, die wir von Max Blumenthal ausfindig machen konnten und sind unter Zwang und Gewaltmaßnahmen aufgenommen worden. Da sie mitnichten eine Selbstrepräsentation von Max Blumenthal zeigen, evoziert ihre Verwendung hier auch ethische Fragestellungen. Schließlich sind diese Fotos nicht nur das letzte Bild von ihm vor seiner Ermordung, sondern gleichsam Beweismaterial für die dehumanisierende  Behandlung, die ihm zuteilwurde. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, dieses unter Zwang aufgenommene Bild von ihm hier zu veröffentlichen. 

Copyright: Archive of the Auschwitz-Birkenau State Museum

Zuzüglich zu seinem Bild teilt die Gedenkstätte Auschwitz mit, dass Max Blumenthal am 24. April 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.

Im Lager erhielt er die Häftlingsnummer 32595. Die Gedenkstätte teilt außerdem mit, dass sein Tod am 27. Mai 1942 mit vermeintlicher Herzwassersucht begründet wurde – eine der gängigen Begründung für das Versterben von KZ-Häftlingen. Dahinter verbergen sich Misshandlung, Unterernährung und Erschöpfung als Todesursache. 

Mithilfe einer Auflistung des International Tracing Service ITS (Teil des Internationalen Roten Kreuz) von 1965 konnten wir nachvollziehen, dass Max Blumenthals Häftlingsnummer im April 1942 vergeben wurde. Mithilfe des “Kalendariums der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau”, dem Standardwerk der polnischen Historikerin Danuta Czech, konnten wir nachvollziehen, dass Max Blumenthal mit 61 weiteren Häftlingen in einem sog. Sammeltransport nach Auschwitz kam. Von wo aus dieser Sammeltransport kam, ist nicht ersichtlich, doch handelt es sich hierbei um keine großangelegte Deportation des Reichssicherheitshauptamt (RSHA).11

  1. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung/arierparagraph#:~:text=Der%20%22Arierparagraph%22&text=April%201933%20das%20%22Gesetz%20zur,Beamten%20und%20Angestellten%20j%C3%BCdischen%20Glaubens.
    ↩︎
  2. https://www.holocaustliteratur.de/deutsch/Chronologie-zur-Geschichte-des-Gettos/
    ↩︎
  3.  https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/ghetto-litzmannstadt/
    ↩︎
  4.  Nakath, Monika u. a. Aktenkundig: „Jude!“ : Nationalsozialistische Judenverfolgung in Brandenburg 1933 – 1945 ; Vertreibung – Ermordung – Erinnerung. Berlin: be.bra wissenschaft, 2010, S.41-44
    ↩︎
  5. BLH, 36A (II) 3923; Blumenthal, Walter; 1941-1944 (Akte), Bl. 16.
    ↩︎
  6. Dinkelaker, Philipp. Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Berlin: Metropol, 2017, S.11-12
    ↩︎
  7. BLH, 36A (II) 3923; Blumenthal, Walter; 1941-1944 (Akte), Bl. 71.
    ↩︎
  8. Ebenda, Bl. 106.
    ↩︎
  9. Ebenda, Bl. 102.
    ↩︎
  10. Nakath, Monika u. a. Aktenkundig: „Jude!“ : Nationalsozialistische Judenverfolgung in Brandenburg 1933 – 1945 ; Vertreibung – Ermordung – Erinnerung: Berlin: be.bra wissenschaft, 2010, S.41-44
    ↩︎
  11. Czech, Danuta. Das Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945. Hamburg: Rowohlt, 1989, S. 202 ↩︎
26. Juli 2025 | Veröffentlicht von V. Budinger, K. Eckardt, Y. Heinz, L. Ludwig | Kein Kommentar »
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Die Familie Fuss

eine Recherche von Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig

Die Liste der von Gerlind Lachenicht zusammengetragenen deportierten Täuflinge führt insgesamt sieben Mitglieder der Berliner Familie Fuss auf. Nach deren Geburtsjahr aufgezählt sind das Emma Fuss (*1867, geb. Mossler), ihre Töchter Johanna (*1892) und Frieda (*1894), ihr Sohn Hugo (*1899) und dessen Frau Wally (*1900, geb. Cohn), ihr zweiter Sohn Erwin (*1905), sowie Wally und Hugos gemeinsame Tochter Ingeborg (*1927), Emmas Enkelin. Frieda und Wally wurden deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet. Auch Emma (1943, Theresienstadt) und ihre Tochter Johanna (1942, Rigaer Ghetto) wurden deportiert und ermordet.

Überleben in der Illegalität: Hugo und Ingeborg Fuß

Bekannt sind indes einige Stationen im Leben des gelernten Buchhalters Hugo Fuss, welches aus zwei Akten hervorgeht, die sich in den Arolsen Archiven fanden, genauer in drei Dokumenten: Alle drei, so scheint es, haben als ausstellende Instanz die  französische Besatzungsmacht („Fiche Individuelle“1, „Fiche Provisoire“). Beim dritten handelt es sich um das besonders ausführliche „Demande d’Assistance“, zu dt. „Hilfegesuch“, welches Fragen zur wirtschaftlichen Situation Hugos stellt sowie nach dessen gewünschter Ausreise in einen Drittstaat fragt. Alle drei Dokumente stammen aus dem Jahr 1948.     

Hugo Fuss überlebte die nationalsozialistische Diktatur und entging dabei der Deportation mehrmals nur knapp. Vor der NS-Diktatur und auch noch bis ins Jahr 1938 hinein war er bei dem Berliner Filmunternehmen UFA als Buchhalter beschäftigt. Als er dort aus antisemitischen Gründen entlassen wird, arbeitet er kurze 2 Monate für die Konkurrenz, die Firma Paramount, allerdings für 70h/ Woche, was zu Spekulationen über die Arbeitsbedingungen einlädt; bis ihm dort ebenfalls aus antisemitischen Gründen gekündigt wird. Er selbst beschreibt dies mit dem Wort „Rasseverfolgung“. Für die Jahre 1940-43 gibt Hugo im Hilfegesuch an, bei einer Firma namens „Ostdeutscher Schrotthandel“ gearbeitet zu haben und versieht diese Tätigkeit mit der Notiz „Zwangsarbeit“. Blickt man auf die Chronologie der systematischen Entrechtung und Verfolgung der Berliner Juden und Jüdinnen, stimmen diese Angaben mit der ab Oktober 1940 reichsweit stattfindenden verstärkten Verpflichtung von Jüdinnen_Juden zur Zwangsarbeit überein. Zwischen dem 27. Februar und dem 5. März 1943 werden im Zuge der sogenannten „Fabrik-Aktion“ die allermeisten der in Zwangsarbeit verbliebenen Berliner Juden und Jüdinnen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.

An dieser Stelle sei bemerkt, dass eine Quelle existiert, die auf einem Interview des US-amerikanischen Historikers James F. Tent mit dem Berliner Politiker, Journalist und „Mischlingskind“ Hanns-Peter Herz beruht. In dem kurzen Abschnitt in Tents Buch zu Herz‘ Verfolgungsgeschichte verweist der Autor auf die Kontakte von dessen Vater zu dem sich in der „Bekennenden Kirche“ engagierenden protestantischen Pfarrer Otto Dibelius2. Dieser soll ihm einen Job bei der Schrottfirma verschafft haben, die sich im „Geheimen (…) zu einem sicheren Zufluchtsort für einige aus rassischen und politischen Gründen verfolgte Deutsche entwickelt“3 hat. Folgt man dieser Quelle und geht man davon aus, dass es sich um eine Arbeitsstelle handelt, welche den dort Beschäftigten relativen Schutz vor Verfolgung bot, erscheint der Schrotthandel und der Vermittler Otto Dibelius in einem widerständigen Licht gegenüber dem Regime. Folgt man jedoch Hugo Fuss‘ Notiz „Zwangsarbeit“, welche von ihm im Hilfegesuch möglicherweise auch strategisch mit Blick auf mögliche Entschädigungsforderungen und die prekäre Nachkriegssituation so formuliert wurde, ergibt sich daraus ein anderes Bild. Es können aus den vorliegenden Quellen keine eindeutigen Belege für die eine oder die andere Lesart erbracht werden. Interessant wäre an der Stelle eine weitergehende Beschäftigung mit dem „Ostdeutschen Schrotthandel“.

Für die nachfolgende Zeit, vom 28.03.1943 bis zum 27.04.1945 gibt Hugo an, wegen „Rasseverfolgung” in Berlin illegal gelebt zu haben. Zu letzterem Zeitpunkt hatte die Rote Armee bereits erhebliche Teile Berlins unter ihre Kontrolle gebracht, Adolf Hitler sollte drei Tage später Selbstmord begehen. Ab dem 01.06.1945 arbeitet er wieder bei der UFA. Im Hilfegesuch (Demande d’Assistance), welches er am fünften Jahrestag der Deportation seiner Frau Wally 1948 ausfüllt, gibt er zunächst seine Tochter Ingeborg als Begleitperson an, ihr Name wurde jedoch durchgestrichen. Gerlind Lachenichts Liste der in der Messiaskapelle Getauften enthält die Notiz, dass Ingeborg deportiert wurde. Dem widersprechen unsere aktuellen Erkenntnisse möglicherweise. Falls sie deportiert wurde, hat sie das Lager überlebt und ihren Weg zurück zu ihrem Vater gefunden. Im DP-Pass von Hugo Fuß findet sich ein Hinweis, dass sie 1948 nach England ausgereist ist. Dies lässt sich durch ein Naturalisation Certificate des Britischen Nationalarchivs bestätigen4. Demnach wurde sie am 28.4.1949 in London eingebürgert und hat somit überlebt. Das Dokument legt die Vermutung nahe, dass sie im London National Hospital als Krankenschwester gearbeitet hat. Im Rahmen unseres Seminars konnten wir dieser Spur nicht weiter nachgehen. Es wäre aber denkbar, dass sich über diesen Weg herausfinden lässt wie ihr weiterer Lebensweg sich gestaltete und ob es möglicherweise sogar lebende Nachfahren von Ingeborg gibt.

Hugo Fuß beziffert die ihm 1940 wegen Verfolgung abgenommenen Besitztümer auf 6000 Reichsmark und fordert sie somit zurück. Unterstützung in Form von Geld bekommt er jedoch von keiner der offiziellen Stellen bis mindestens Juni 1948, er gibt darüber hinaus an, ausreisen zu wollen („England, U.S.A, Canada, Palestine“). Danach verliert sich seine Spur für uns im Rahmen dieser Seminararbeit. Zur weiteren Recherche sind möglicherweise die Displaced Persons Nummer (DP Index Card: G 0 449626) bzw. die Ausweisnummer (173 157) hilfreich.

Mögliches Gedenken an Familie Fuss – eine Stolpersteinverlegung?

Die von uns zusammengetragenen Informationen eröffnen die Möglichkeit, um einigen Mitgliedern der Familie Fuß durch die Verlegung von Stolpersteinen zu gedenken. Wir möchten dies hiermit anregen und stellen die nötigen Informationen hier nochmals zur Verfügung5

NameWohnortDeportationsdatumTodesort & Datum/ überlebt
Emma Fuß (geb. Mossler)Paracelsusstraße 45, Pankow17.06.1943unbekannt, Theresienstadt
Johanna FußParacelsusstraße 45, Pankow15.08.1942unbekannt (Ghetto Riga)
Frieda FußEintrachtstraße 5, Pankow24.08.1943unbekannt (Auschwitz)
Hugo FußSteegerstr. 14, Pankow-/-überlebt
Wally Fuß (geb. Cohn)“ “01.03.1943unbekannt (Auschwitz)
Erwin FußRitterstr. 64, Kreuzberg??überlebt (?)
IngeborgSteegerstr. 14, Pankow??überlebt, Auswanderung nach London
  1. zur Ambivalenz und dem christlichen Antisemitismus Dibelius‘ vgl. https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/tag/tag-von-potsdam/ ↩︎
  2. Tent, James F.: Im Schatten des Holocaust: Schicksale deutsch-jüdischer »Mischlinge« im Dritten Reich: Böhlau Verlag, Köln 2007 ↩︎
  3. https://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C11925835 ↩︎
  4. der letzte selbstgewählte Wohnort der Familienmitglieder ließ sich nicht mit letzter Sicherheit bestätigen. Die Adressen in der Liste von Lachenicht stimmen teilweise nicht mit denen aus der Gedenkliste in „Jüdische Lebenswege“ von Inge Lammel (2007) überein ↩︎

Über die Autoren

Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig studieren Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

25. Juli 2025 | Veröffentlicht von V. Budinger, K. Eckardt, Y. Heinz, L. Ludwig | Kein Kommentar »
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Die Deportierten- und Taufliste der Messiaskapelle – Ein fragmentarischer Versuch der Biografiearbeit und viele lose Enden

eine Recherche von Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig

Einleitung

Im Rahmen des diesjährigen Seminars haben wir versucht, mehr über das Leben und die Schicksale der in der Messiaskapelle getauften sogenannten “Christen jüdischer Herkunft” herauszufinden. Mit dieser Bezeichnung waren Personen gemeint, die christlich getauft waren, aufgrund der Nürnberger Gesetze aber dennoch als Juden rassifiziert und somit aus ihren Gemeinden ausgeschlossen und verfolgt wurden. Mindestens 86 der über 700 Jüdinnen und Juden, die zwischen 1933-1940 in der Berliner Messiaskapelle und der Segensgemeinde1 getauft worden sind, wurden in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur zwei von ihnen überlebten. Wir konnten bei unserer Recherche unter anderem auf die Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft aufbauen, die Gerlind Lachenicht im Rahmen der Erinnerungsarbeit der EKBO 2007/2008 zusammengestellt hat2. Weiterhin haben wir die Tauflisten der Messiaskapelle, sowie der Segensgemeinde, erstellt von Lachenicht und einem ehrenamtlichen Team, für unsere Recherche ausgewertet3.

Innenraum der Messiaskapelle, wie er in der NS-Zeit genutzt worden sein könnte, künstlerisch umgesetzt von Lara Maria Carrà: @lara_carra_art, Credits: (c) Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Die “Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft”

Um die individuellen Schicksale dieser Verbrechensgeschichte nachzuvollziehen, griff Gerlind Lachenicht bei ihrer Recherche auf die Taufbücher der Segensgemeinde zurück, in deren Gemeindegebiet die von der “Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden” unterhaltene Messiaskapelle lag. Neben üblichen personenbezogenen Daten wie Name, Geburtsdatum, Taufpfarrer und Taufpat*innen war in diesen ebenfalls die vorherigen Konfessionen der Täuflinge verzeichnet. Mithilfe des Taufbuches war es Lachenicht also möglich zu rekonstruieren, welche der Mitglieder der Segensgemeinde vom Judentum zum Christentum konvertierten4. Durch Publikationen zur Thematik, dem Findbuch der internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sowie über die Suchfunktionen des Gedenkbuchs des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland gelang es ihr herauszufinden, dass 86 der rund 700 konvertierten Christen der Segensgemeinde im Nationalsozialismus als Juden und Jüdinnen verfolgt und in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Von zwanzig der 86 als Juden/Jüdinnen verfolgten Mitglieder der Segensgemeinde sind sowohl Sterbedatum als auch der Sterbeort bekannt. Von zwölf ist nur der Sterbeort bekannt und von vier Gemeindemitgliedern ist lediglich der Todestag bekannt. Von drei Mitgliedern wissen wir, dass sie den Suizid wählten, der immer von tiefer Verzweiflung zeugt und angesichts der drohenden Vernichtung möglicherweise eine Restmöglichkeit von Selbstbestimmtheit bedeutete. Von 41 ist zumindest der Deportationsort und das Deportationsdatum bekannt. Laut Lachenichts Recherche wurden achtzehn von ihnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Und auch die anderen Deportationsziele waren Vernichtungsorte oder Ghettos, die sukzessive liquidiert wurden. Insgesamt wissen wir nur von zwei Mitgliedern der Segensgemeinde jüdischer Herkunft, die den antisemitischen Vernichtungswahn ihrer Landsleute überlebten.

Gedenken an die Täuflinge

Zwar gab und gibt es von Seiten der evangelischen Landeskirche vereinzelte Gedenkveranstaltungen zum Erinnern an die Ermordeten und 2023 wurde auch eine “Stolperschwelle” vor der ehemaligen Messiaskapelle errichtet, doch scheint ein personenbezogenes institutionalisiertes Gedenken kaum stattzufinden. Dies wird unter anderem durch eine Recherche auf der Website der Stolpersteine bewusst, die ergibt, dass lediglich 16 der 86 Deportierten Stolpersteine gewidmet sind: Immerhin einer der prominentesten, sichtbarsten und niedrigschwelligsten Erinnerungspraktiken zu Opfern des Nationalsozialismus. Diese Leerstelle zu beheben, schien uns ein dringliches Anliegen. Im Gegensatz zu vielen Mitgliedern jüdischer Gemeinden Zentral- und Osteuropas, die ohne vorherige namentliche Registrierung mitsamt ihrer gesamten Gemeinden von deutschen SS-Männern, Polizisten sowie deren lokalen Kollaborateuren vor Ort erschossen wurden, war uns unklar, warum im Fall der als Juden ermordeten Täuflinge der Messiaskapelle kein pesonenspezifisches Gedenken stattfindet, wo die Namen doch bekannt sind. Dass dies nicht an mangelnder Initiative sondern an einer geringen Quellenlage liegt, realisierten wir, als wir anfingen, einige der Deportierten über das Gedenkbuch der deutschen Opfer des Nationalsozialismus des Bundesarchivs zu recherchieren. Nach einer weiterführenden Recherche wurde uns jedoch bewusst, dass bereits 15 Jahre vergangen sind, seitdem Gerlind Lachenicht diesen ersten wichtigen Schritt zur Erinnerung an jene Verfolgtengruppe ging. Der anhaltende Trend genealogischer Forschung inklusive der dazugehörigen Internetforen sowie die zunehmende Digitalisierung unterschiedlicher Archivbestände, ermöglichen weitere und tiefergehende Recherchen, als noch zur Zeit von Lachenichts Forschung denkbar war. Aus diesen ersten Überlegungen und Recherchen hat sich sukzessive das Anliegen entwickelt, Lachenichts Forschung weiterzuführen und, wo möglich, ein personenspezifisches Gedenken in Form von Stolpersteinen zu initiieren. Den Vorteil dieser Form individuellen Gedenkens sehen wir darin, den Subjektstatus der Deportierten öffentlich zu affimieren, deren Ermordung die letzte Konsequenz der Negation ihres Subjektstatus war. Die Verlegung von Stolperstein sehen wir daher als einen ersten Schritt in die richtige Richtung.

Gedenken als Narration

So notwendig wir Gedenken auch finden, wissen wir auch von dessen entlastender Funktion. Diese Ambivalenz von Gedenken wurde auch in der vielbeacheten Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands bewusst, als er sagte, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung hieße. Hiermit meinte Weizsäcker aber nicht die überlebenden Juden und Jüdinnen, sowie die Hinterbliebenen der Toten, sondern die Deutschen, die unter einer unaufgearbeiteten Vergangenheit litten. Betroffene und Skeptiker der deutschen Erinnerungskultur kritisieren seit jeher, wie Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Massenverbrechen eher der kollektiven Selbstvergewisserung dient, als eine kritische und darin selbstreflexive Aufarbeitung der Geschichte zu evozieren. Und selbst bei legitimen Formen von Gedenken, das weder instrumentell, noch selbstbeweihräuchernd ist, sondern ausschließlich dazu dient, die Toten dem Vergessen zu entziehen sowie die Wiederholung einer ähnlichen Tat zu verhindern, besteht eine Problematik, die einer jeden Form von Gedenken inhärent ist. Wo ein Ereignis so schwer wiegt, dass es bestehende Gewissheiten radikal in Frage stellt, ein Ereignis emotional so belastend ist, dass die psychische Integration nur schwerlich gelingt, dieses skandalöse Ereignis über die Menschen hinauswächst, so dass sie es keinem vorhandenen Sinnzusammenhang mehr zuordnen können, zeigt sich umso dringlicher das menschliche Bedürfnis nach einem Narrativ. Sozial ausgehandelt und wechselseitig bestätigt, soll es dazu dienen, das Unverständliche handhabbar zu machen und materialisiert sich oftmals in Denk-, Mahn oder anderen Erinnerungszeichen. Ein Problem daran hat Peter Eisenmann, Architekt des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas, erkannt und das von ihm entworfene Denkmal als Ort ohne feststehende Bedeutung bezeichnet. Wer in dem zentralen Holocaustdenkmal am Brandeburger Tor einen imposanten Friedhof erkennt, sich an die berühmten Luftaufnahmen des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau erinnert sieht, im Stelenfeld ein Labyrinth vermutet, das die Wirren des Holocausts repräsentieren soll, der wird sich von Eisenmanns zurückhaltender Assoziation des Stelenfeldes als wogendes Ährenfeld enttäuscht zeigen.5 Hinter dieser dezenten Deutungsebene steht jedoch die wohlüberlegte Erkenntnis, dass die Shoah durch kein traditionelles Denkmal repräsentiert werden kann. Das Denkmal soll demnach nicht auf die Shoah verweisen, sondern eine Erfahrung der Verunsicherung evozieren, die Raum- und Zeitbedingungen herkömmlicher Denkmäler transzendiert.6 Hinter diesem Ansatz stand die Befürchtung Eisenmanns, dass ein herkömmliches Denkmal, welches eine konkretere Bildsprache verwendet und zudem mit einer klaren Deutung versehen ist, der Shoah ein Zeichen gibt, sie vereindeutigen und so möglicherweise einen Schlussstrich mit der Beschäftigung des nationalsozialistischen Massenverbrechen befördern würde. Diese Überlegungen Eisenmanns aufgreifend und vor dem Hintergrund neuer Recherchemöglichkeiten, wollen wir die aktualisierten Forschungsergebnisse zu den verfolgten Menschen der Segensgemeinde nicht bloß veröffentlichen, sondern ebenso dazu animieren, diese Recherche weiterzuführen. In Form einer erweiterbaren Datenbank wollen wir auch zukünftiger Generationen die Möglichkeit und die Plattform dieses Blogs geben, um die historische Forschung fortzuführen, die für ein adäquates Gedenken notwendig ist. Diese werden wir nach Fertigstellung hier verlinken.

Zur Vorgehensweise

Wir haben die Namen auf der Liste der Deportierten systematisch abgeglichen mit den Archiven der jeweiligen Todesorte (mittlerweile Gedenkstätten), um weitere Informationen über das Leben der betreffenden Personen zu erhalten. Dabei fiel auf, dass zu vielen der Namen kaum weitere Archivinformationen zu finden waren. So waren von den 20 nach Auschwitz deportierten im dortigen Archiv überhaupt nur 5 der Namen vermerkt – vermutlich, weil in Auschwitz nur rund ein Viertel der Insassen überhaupt registriert wurde, bevor sie ermordet wurden. Weitere Verzeichnisse, in denen wir nach Informationen und Querverweisen gesucht haben, waren die Vermögenserklärung im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA, Potsdam), Wiedergutmachungserklärungen und das Findbuch im Landesarchiv Berlin (LAB), das Gedenkbuch des Bundesarchivs, die Datenbanken der verschiedenen Gedenkstätten, das Archivportal des Bundesarchivs JMB, verschiedene Genealogie-Archive (Ancestry und Geni), Google Books / Scholar, der Suchdienst des Deutschen Rotes Kreuzes, die Arolsen Archives, sowie weitere öffentlich zugängliche Informationen, z.B. vereinzelte Wikipedia-Einträge.  

Zu einigen Personen auf der Deportiertenliste gibt es bereits biographische Recherchen auf diesem Blog, sowie auf folgender Seite: https://www.kkbs.de/biografien

Wir haben es uns darüber hinaus zur Aufgabe gemacht, im Rahmen des Seminars zu versuchen, biographische Informationen zu weiteren deportierten Personen zu recherchieren, um möglicherweise eine Grundlage für weitere Stolpersteinverlegungen oder andere Formen des Gedenkens zu schaffen. Wir haben uns, eher einem spontanen Impuls folgend, mit zwei Familien, den Familien Fuss und Blumenthal beschäftigt, in der Hoffnung, hier ergiebigere Informationen zusammen tragen zu können.

Weiterführende Informationen über Stationen im Leben der beiden Familien finden sich hier:

Familie Fuss
Familie Blumenthal

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Liste der Archive und Datenbanken

  • Ancestry (ancestry.de)
  • Archivportal-D – Deutsch Digitale Bibliothek (archivportal-d.de)
  • Archiv Zwangsarbeit (zwangsarbeit-archiv.de)
  • Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution
  • Base (Uni Bielefeld)
  • Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Vermögenserklärungen)
    • blha-recherche.brandenburg.de/volltextsuche.aspx
  • Evangelische Kirche
    • Archeon (Taufbücher)
    • Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (NS-Akten)
  • Gedenkbuch Bundesarchiv (bundesarchiv.de/gedenkbuch/)
  • Google Books / Scholar 
  • Institut für Geschichtswissenschaften HU Berlin
    • geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/nuetzliche-links-fuer-studierende/quellen-deutsche-geschichte-im-20-jahrhundert-schwerpunkt-nationalsozialismusen
  • Jüdisches Museum Berlin & Website (jmberlin.de/recherchen-zur-familiengeschichte)
  • Private Genealogie (geni.com)
  • Suchdienst des Deutschen Roten Kreuz
  • United States Holocaust Memorial Museum Washington (ushmm.org)
  • Yad Vashem Archive
  1. heute Stadtkloster Segen: https://ekpn.de/vier-kirchen/stadtkloster-segen/ ↩︎
  2. Eine etwas ältere Variante der Liste ist hier abrufbar: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/wp-content/uploads/2009/12/mk-deportationsliste.pdf) ↩︎
  3.  Listen veröffentlicht in: Frisius et al.: Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden. Wichern Verlag, Berlin 2008
    ↩︎
  4. Paradoxerweise verwendete die rassistische Sippenforschung Karl Themels im Nationalsozialismus ebenfalls die Taufbücher, um konvertierte Jüdinnen und Juden verfolgen zu können. (vgl. https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2023/11/17/karl-themel-pfarrer-nationalsozialist-sippenforscher/)

    ↩︎
  5. vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/holocaust-mahnmal-fast-wie-ein-wogendes-getreidefeld-1195981.html (zuletzt abgerufen am 03.06.2025) ↩︎
  6. vgl. Benjamin, Andrew: Memorial to the murdered Jews of Europe, in: Blurred Zones. Ivestigations of the Interstitial. Eisenman Architects 1988-1998, New York (2003) ↩︎

Über die Autoren

Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig studieren Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

Update 8/2025: Korrektur interne Links auf Familie Fuss/Blumenthal

22. Juli 2025 | Veröffentlicht von V. Budinger, K. Eckardt, Y. Heinz, L. Ludwig | Kein Kommentar »
Veröffentlicht unter Allgemein

Erinnern heute | Kirche im Spannungsfeld – Forschendes Lehren als ein aussichtreicher Ansatz?

Konferenz aus den Arbeiten mehrerer X-Student Research Groups im Themenfeld Kirche in Berlin und Brandenburg, 1914-1949

Am Freitag, 18. Juli 2025, findet an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Konferenz statt. Im Mittelpunkt der Konferenz steht forschendes Lehren als ein Ansatz, das Erinnern – insbesondere an die NS-Zeit – neu zu denken. Der Geschichtswissenschaftskreis des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz richtet die Konferenz gemeinsam mit PD Dr. Benno Nietzel, Lehrstuhlvertretung Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus und Johannes Kellner (Verein zum Erhalt der Gedenkstätte für das NS-Zwangsarbeiterlager Berliner Kirchengemeinden e. V.) aus.

Im Verlauf der Konferenz wird es unter anderem um forschendes Lehren als Methode gehen, mit der wir den Gegenwartsbezug in der Erinnerungsarbeit erhöhen können. Auch soll es um studentische Perspektiven auf neue Lehrveranstaltungsformate gehen.

Aus der Ankündigung:

Gelingt es uns in der kirchlichen Erinnerungsarbeit, auch „schwierige Geschichte“ nach der Zeitzeugenschaft in eine „Zeugenschaft der Orte“ zu transferieren, um keinen gesellschaftlichen Gedächtnisschwund zu erleiden? Wir beleuchten Mosaiksteine der Geschichte der Kirche in Berlin und Brandenburg von 1914 bis 1949 und damit einen oft vergessenen Teil der europäischen Erinnerungskultur.

Bei Interesse an der Konferenz kontaktieren Sie bitte telefonisch Dr. Johan Wagner, siehe: Impressum Geschichtswissenschaftskreis des Konsistoriums, Blog bei hypotheses.org

Zwischen Liebe, Anpassung, Ausgrenzung und „Rassenhass“ – das Leben des Otto Neubieser

von Katharina Tauschwitz

Versuch einer visuellen Darstellung
Das Bild zeigt den Versuch, Otto Neubieser visuell darzustellen. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Seine Person soll sinnbildlich für alle anderen Opfer stehen, dessen Geschichte unbekannt ist. Das Bild wurde mittels Künstlicher Intelligenz (KI) mit dem Programm ChatGPT erstellt.

Sie haben einen Namen, doch nicht immer ein Gesicht. Sie sind nicht nur Opfer des Holocaust, sondern auch der Anonymisierung und des Vergessens. Doch sie sind alle eins – Menschen. Menschen mit einer eigenen Geschichte, die so individuell ist wie ihr Leben und Leiden nach der nationalsozialistischen „Machtübergabe“[1] im Jahre 1933. Die Schicksale der unzähligen Opfer dürfen nicht vergessen werden. Einerseits, um uns und folgende Generationen zu mahnen, die Geschichte nicht zu wiederholen. Andererseits, um zu versuchen, den Opfern ihre Menschlichkeit und Würde post mortem wenigstens ein Stück weit zurückzugeben. Otto Neubieser ist einer von denjenigen, deren Geschichte es zu erzählen gilt.[2]

Otto Neubieser wurde als erstes Kind von Siegmund und Flora Neubieser, geb. Markewitz, am 24.03.1908 geboren. Es folgten seine Brüder James Jacob (*1912) und Robert (*1915). Während sein Vater Siegmund als Tischler arbeitete, erlernte Otto das Handwerk des Maschinenschlossers und war in diesem auch tätig. Doch was unterschied sie von anderen Familien? – Familie Neubieser galt als jüdisch. Seit der ,,Machtübergabe an die Nationalsozialisten’’ verfolgten und entrechteten die neuen Machthaber die Jüdinnen und Juden in NS-Deutschland. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Verfolgung und Entrechtung durch die sogenannten Nürnberger Gesetze aus dem Jahre 1935, nach denen die jüdische Bevölkerung ihre politischen Rechte aufgrund der ihnen vom Regime zugeschriebenen Abstammung verloren hatte. Darüber hinaus war es ihnen unter anderem verboten, die Ehe oder intime Verhältnisse mit Nichtjuden einzugehen. Als „Volljude“ galt nach der rassistischen Definition der Nürnberger Gesetze, wem in seinem Stammbaum mindestens drei jüdische Großeltern nachgewiesen werden konnten.[3] Ottos Vater stammte von einen evangelischen ,,deutschen” Vater und einer jüdischen Mutter ab. Die Eltern seiner Mutter waren beide jüdisch. Otto war somit nach nationalsozialistischem Recht ,,Volljude”.

Der nationalsozialistische Antisemitismus war im Gegensatz zu früheren Formen des Antijudaismus nicht an die Religion der Großeltern, sondern an die jüdische Abstammung gebunden, was es unmöglich machte, das Stigma abzulegen. Aus einer Glaubensgemeinschaft konnte man austreten, jedoch konnte man seinen Familienstammbaum nachträglich nicht verändern.[4] Dennoch versuchte sich Familie Neubieser vom Makel des „Jüdischseins“ zu lösen, indem sie sich für eine Taufe entschieden. Die Berliner Messiaskapelle – eine Missions-Einrichtung der evangelischen Kirche – entwickelte sich in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Taufort für Jüdinnen und Juden.[5] Dies war zur Zeit des Nationalsozialismus nicht selbstverständlich, denn viele evangelische Gemeinden versagten Jüdinnen und Juden nicht nur die Taufe, sondern schlossen auch bereits getaufte Mitglieder jüdischen Ursprungs vom Gemeindeleben aus. Die Messiaskapelle blieb auch nach 1933 ein Taufort für Jüdinnen und Juden.[6] Aus welchem Grund sich die Familie Neubieser dort taufen ließ, lässt sich anhand der Quellen nicht rekonstruieren. Einerseits ist es möglich, dass sie aus Glaubensfragen zum Christentum konvertierten, andererseits kann es auch möglich gewesen sein, dass sie sich dadurch erhofften, der rassistischen Ausgrenzung und Verfolgung durch das NS-Regime zu entkommen. Was auch immer sie zu dieser Entscheidung  bewegte, es änderte nichts an ihrem jüdischen Status im Sinne der NS-Rassenideologie, der sie zu Bürgern „minderen Rechts“ degradierte. Laut Taufeintrag fand die Taufe der Familienmitglieder am 1.3.1936 statt. Sie erhielten alle das Sakrament von Pfarrer Knieschke. Wenn auch kurzzeitig gehörte Familie Neubieser so der Segensgemeinde[7] an und war Teil der christlichen Gemeinschaft – bis die Berliner Gestapo alle Familienmitglieder bis auf Otto am 24.10.1941 nach Łódź deportierte.

Es stellt sich nun die Frage: Warum trennte sich Otto von seiner Familie? Der Grund ist schön und doch bitter zugleich. Im Jahre 1934 lernte Otto in einem Lokal die junge Frau Elisabeth Englisch kennen. Was zunächst freundschaftlich begann, endete in einer Liebesbeziehung zwischen den beiden. So kam es, dass Otto ihr Weihnachten 1935 das Aufgebot machte, sie zu heiraten. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass Otto im Gegensatz zu Elisabeth drei jüdische Großeltern hatte und somit als „Volljude“ im Sinne der Nürnberger Gesetze galt. Es folgte daher nicht nur das Verbot der Eheschließung, sondern auch das Verbot, die Liebesbeziehung fortzuführen. Allen Verboten zum Trotz entschied sich das Paar, ihre Liaison aufrechtzuerhalten.

Selbst als Elisabeth 1938 Berlin verließ und zu ihrer Mutter nach Oberschlesien zog, riss der Kontakt der beiden nicht ab. Vielmehr schrieben sie sich stetig Briefe und Otto besuchte sie sogar an ihrem neuen Wohnsitz. Obwohl sie beide wussten, dass ihre Beziehung verboten war, waren sie nicht bereit, sich voneinander loszusagen. Sie hatten einander zu gern, um eine Trennung akzeptieren zu können. Elisabeth habe sogar vorgeschlagen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der „Jude“ liebte die „Nichtjüdin“ und die „Nichtjüdin“ liebte den „Juden“. Was als schöne und romantische Liebesbeziehung zweier Menschen begann, entwickelte sich zu einem Verfahren im Jahre 1939 gegen Otto, welcher der „Rassenschande“ bezichtigt wurde.[8]

Otto, der sich aufgrund der Namensänderungsverordnung nun Otto Israel[9] nennen musste, wurde in Berlin verhaftet und befand sich ab dem 16.10.1939 im Gerichtsgefängnis Charlottenburg. Es fand eine Verhandlung statt, die Otto nicht entlasten konnte. Er gab sogar zu, eine Liebesbeziehung mit Elisabeth zu führen. Auch sie stand vor Gericht für ihre gemeinsame Liebe ein und gab an, mit Otto in einer emotionalen und körperlichen Beziehung zu sein. Schließlich wurde Otto zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er am 15.2.1940 im Zuchthaus Luckau antrat. Ein Gnadengesuch seiner Eltern wurde im August 1941 abgelehnt, da Otto sich seiner Strafe gegenüber gleichgültig zeigte. Die Justiz war sich nicht sicher, ob Otto die Tat nicht wiederholen würde. Ob sich Otto und Elisabeth jemals wiedergesehen haben, lässt sich anhand der Quellen nicht beantworten. Fest steht jedoch, dass Otto am 11.10.1941 entlassen und dem Polizeigefängnis Berlin überstellt wurde. Am 13.1.1942 wurde Otto mit über 1000 anderen Jüdinnen und Juden nach Riga deportiert. Der genaue Umstand seines Todes ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass Otto Neubieser dem Holocaust zum Opfer gefallen ist. Er ist damit einer von unzähligen Schicksalen, über die nur wenig bekannt ist.

Alles, was Otto und Elisabeth taten, war ihre Liebe zu leben und dies allen Widrigkeiten zum Trotz. Weder die Gesellschaft noch diskriminierende Gesetze konnten sie davon abhalten, sich zu lieben. Am Ende führte ihn dies ins Zuchthaus und von dort aus in die Deportation. Sein Leben, welches sich mithilfe der archivierten Dokumente rekonstruieren lässt, liest sich, wie eine tragische Liebesgeschichte. Dies scheint auf den ersten Blick auch so zu sein. Es muss jedoch bei jeder Biographieforschung beachtet werden, dass die Dokumente nur Hinweise über das Leben eines Menschen enthalten. Sie dokumentieren lediglich einen Bruchteil seines Daseins. Es bleiben viele Fragen offen, auf die wir keine Antwort haben. Die Gefahr besteht darin, zu viel aus den Schriftstücken herauszulesen und ein Leben zu skizzieren, welches so nie gelebt worden ist. Auch in Bezug auf Otto lässt sich daher nicht sagen, ob er sich überhaupt als ,,Jude” identifizierte und welche Eigenschaften ihn als Person ausmachten. Genauso wenig geben uns die Akten Aufschluss darüber, wie die Gesellschaft dieser Tage wirklich über Otto dachte. Wir kennen lediglich die Gerichtsakten, die Otto als Juden im Sinne der NS-Ideologie stigmatisierten. Auch wenn spätestens seit den Nürnberger Gesetzen Jüdinnen und Juden ausgegrenzt und diskriminiert wurden, bleibt offen, welche Erfahrungen Otto jenseits der staatlichen Diskriminierung machte und welche Ereignisse die erlebte Realität dieser historischen Figur prägten. Vielmehr könnten sie ihn auch als einen Teil ihrer Gesellschaft wahrgenommen haben. Wie es tatsächlich gewesen ist, kann heutzutage niemand sagen.

Was sich anhand der Quellen durchaus sagen lässt: Zwar ist er ausgegrenzt worden, aber er hat sich versucht, in die christliche Gemeinschaft einzufügen. Zudem wurde Otto als ,,Jude’’ wegen seiner familiären Herkunft stigmatisiert und ein Opfer des NS-Staates, aber genau weil er eben dieser Otto Neubieser gewesen ist, wurde er von seinen Mitmenschen geliebt.

Über die Autorin:

Katharina Tauschwitz studiert MA Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.


[1] Schulz und Bracher verwenden den Terminus „Polykratie“ für die Anfangsphase der NS-Diktatur. Beide machen auch deutlich, dass der politische Systemwechsel 1933/34 keine „Machtergreifung“ in einem aktivistischen Sinn gewesen ist, bei der die Hitler-Bewegung gegen starke Widerstände der tonangebenden Eliten die Schalthebel der politischen Macht an sich gerissen habe, sondern eine „Machtübergabe“. Hierzu siehe: Rüdiger Hachtmann: Polykratie – Ein Schlüssel zur Analyse der NS-Herrschaftsstruktur?, in: Docupedia – Zeitgeschichte, online unter: https://docupedia.de/zg/Hachtmann_polykratie_v1_de_2018 (20.10.2024).

[2] Für diesen Versuch, das Leben von Otto Neubieser darzustellen, wurden folgende Dokumente genutzt: Evangelischer Kirchenkreis Berlin Mitte: ,,Getauft und deportiert”, online unter: https://www.kkbs.de/messiaskapelle/getauft-und-deportiert (20.10.2024); Bundesarchiv: Eintrag “Otto Neubieser”, in: Memorialbook.Victims of the Persecution of Jews under the National Socialist Tyranny in Germany 1933 – 1945, online unter: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/en1126525 (20.10.2024); Gerlind Lachenicht: Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft, die zwischen 1933-1940 in der Messiaskapelle getauft wurden (ausführliche Liste über Gerlind Lachenicht abrufbar, gekürzte Liste online unter: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/wp-content/uploads/2009/12/mk-deportationsliste.pdf (20.10.2024); Arolsen Archives: Karteikarten und Personalakte des Zuchthaus Luckau, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/12123502 (20.10.2024); Arolsen Archives: Akte von Neubieser, Otto, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/12102271 (20.10.2024); Arolsen Archives: Dokumente mit Namen ab Natt, Kallmann, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/11250209 (20.10.2024).

[3] Vgl. Michael Ley: ,,Zum Schutze des deutschen Blutes…’’. ,,Rassenschande’’- Gesetze im Nationalsozialismus, Bodenheim b. Mainz 1997, S. 77.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. Lea Essers: „Wie ein Dankeschön oder wie eine Entschuldigung“. Die Geschichte einer Familiengeschichte, online unter: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/16/wie-ein-dankeschoen-oder-wie-eine-entschuldigung/ (20.10.2024).

[6] Vgl. ELAB: Gedenkort Messiaskapelle, online unter: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/gedenkort-messiaskapelle-2/ (20.10.2024).

[7] Die Taufen in der Messiaskapelle wurden der nahe gelegenen Segensgemeinde zugerechnet. Die zugehörige Kirche war die Segenskirche im Prenzlauer Berg, heute das Stadtkloster Segen, vgl. ebd.

[8] Der außereheliche Verkehr zwischen Juden und ,,arischen” Personen wurde mit Zuchthaus oder Gefängnis zwischen einem und 15 Jahren bestraft. Die Strafe betraf nur Männer und hierbei war gleichgültig, ob sie jüdisch oder nicht waren; mehr siehe hier: Michael Ley: ,Zum Schutze des deutschen Blutes…’’. ,,Rassenschande’’- Gesetze im Nationalsozialismus, Bodenheim b. Mainz 1997, S. 79 – 81.

[9]Mehr dazu siehe: https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/schicksalsjahr-1938/258895/ab-heute-heisst-du-anders/ (20.10.2024).


Beitrag im Blog auf hypotheses.org

Auf einem neu gegründeten Blog auf hypotheses.org wurde kürzlich ein Beitrag zur Messiaskapelle veröffentlicht: Der „Taufverdacht“ und das Konsistorium der Mark Brandenburg

Aus dem Text:

Vor der ehemaligen Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 im Stadtteil Prenzlauer Berg liegt seit dem 6. Oktober 2023 eine der wenigen Stolperschwellen in Berlin. Darauf ist das Wort „Taufort“ zu lesen. In diesem Beitrag geht es nicht so sehr nur um den Ort, vielmehr um die Gedankenfigur des „Taufverdachts“. Ich finde diese Wortschöpfung aktuell bei den üblichen Suchmaschinen im Internet nicht, finde es allerdings passend, um die evangelische Grundhaltung gegenüber der Taufe jüdischer Menschen nach ihrer staatlichen Emanzipation in unseren Landen zu beschreiben.

Zu dem Beitrag auf hypotheses.org: https://kircheimns.hypotheses.org/47

hypotheses.org ist ein Blogportal für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Das deutschsprachige Portal wird von OpenEdition und der Max Weber Stiftung (Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland) bereitgestellt. Der Blog “Kirche im NS – Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949” auf hypotheses.org wird getragen vom Geschichtswissenschaftskreis des Konsistoriums. Das Konsistorium ist die Oberbehörde der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.


Instagram-Post zu Ruth Wichmann anlässlich des Aktionstags gegen Antisemitismus

künstlerische Nachempfindung der Messiaskapelle, Kastanienallee 22 in Berlin-Prenzlauer Berg im Jahr 1937
Beispiel einer Instagram-Kachel, erarbeitet von Jonas Hauck, künstlerisch umgesetzt von Lara Maria Carrà: @lara_carra_art, Credits: (c) Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Im Rahmen eines Forschungsseminars zu Kirche im Nationalsozialismus, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik sind verschiedene Projekte entstanden, die die Geschichte der Berliner Messiaskapelle erzählen.

Eines davon ist das Einzelschicksal der getauften Jüdin Ruth Wichmann geb. Heine, die in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und schließlich in den Gaskammern von Bernburg a. d. Saale ermordet wurde.

Die wenigen Originaldokumente zeigen, wie bruchstückhaft ihr Leben der Nachwelt erhalten geblieben ist. Mit Hilfe einer Künstlerin wurden realitätsnahe Gemälde angefertigt, die sie und die beiden Orte, die die Erinnerung an sie prägen, darstellen.

Weitere Projekte, die im Rahmen des Seminars zur Messiaskapelle durchgeführt wurden, sind auf diesem Blog zu finden.

Die Dokumentation und Recherche erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, dem Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin und dem Landesarchiv Berlin.

Künstlerin der Bilder ist Lara Maria Carrà: @lara_carra_art

Das Projekt wurde erarbeitet von Jonas Hauck.

Der Instagram-Post findet sich auf dem Instagram-Kanal der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:

https://www.instagram.com/gemeinsam_ekbo/p/C9O6ZjghEWm/?hl=de&img_index=1

#history #messiaskapelle #religion #berlin #prenzlauerberg #erinnerungskultur #niemalsvergessen #gedenken #erinnerung #stolpersteine #gedenkstätteravensbrück #bernburg #forschung #taufe #jüdin

Was uns Bücher nicht erzählen – Der lange Weg der Bibliothek der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden

von Laura Steinbrück

Wie es sich angefühlt haben muss, als am 11. November 1938 die Büroräume der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ (kurz: „Gesellschaft“) von Nationalsozialisten gestürmt und demoliert wurden, kann man heute kaum mehr nachempfinden. Für die „Gesellschaft“ war das Ereignis im Rahmen der Novemberpogrome einschneidend und sollte eine Vorahnung auf die kommenden Jahre liefern. Schon zuvor hatte die Vereinigung der „Deutschen Christen“ ihre ablehnende Haltung gegenüber der Judenmission deutlich gemacht. Die „Gesellschaft“ setzte sich aber genau für diese ein. In der Messiaskapelle in Prenzlauer Berg wurde noch lange nach der Machtübergabe an Adolf Hitler Taufunterricht angeboten und Juden:Jüdinnen der Eintritt in das Christentum ermöglicht. In den Räumen der Gesellschaft befand sich auch eine umfassende Bibliothek, die für den Unterricht genutzt wurde. [1] Die Verfügung zur Schließung des Vereins und zum Einzug des gesamten Vermögens überraschten die „Gesellschaft“ als Folge nicht. Trotzdem waren die Konsequenzen gravierend: Im Frühjahr 1941 besetzte die Gestapo die Geschäftsstelle und beschlagnahmte jegliches Inventar.[2] Die dazugehörige Verfügung zum Einzug des Vermögens geht von einem Bibliotheksbestand der „Gesellschaft“ von ca. 2.000 Büchern aus.[3]

Möglicherweise habe der Einspruch des damaligen Pfarrers Wilhelm Knieschke dazu beigetragen, die Staatspolizei davon abzuhalten, diese Bücher auf dem direkten Weg zu vernichten.[4] In den folgenden Jahren blieb die Kapelle geschlossen, dem Pfarrer Knieschke wurde die Arbeit verboten.

Doch was passierte mit der Bibliothek? Noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges ging der wiedergegründete Verein von einem Verlust der Bibliothek aus. Die Bücher galten als verschwunden. War diese Befürchtung berechtigt?

Tatsächlich wurden die Bücher nicht verbrannt, sondern an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin übergeben. Zynischerweise wurden dort in der Annahmestelle am 19. Juni 1941 die ersten Bücher der „Gesellschaft“ von den Archivar:innen im Zugangsbuch für „Geschenke“ vermerkt – dabei handelte es sich jedoch lediglich um 40 Titel. Beinahe ein ganzes Jahr später, im März 1942, folgten 320 weitere Exemplare. Das lag daran, dass die Staatsbibliothek von der Anzahl der eingehenden Bücher überlastet war, da sie zur zentralen Verteilstelle für alle beschlagnahmten Bücher des Reiches aufstieg.[5] Gleichzeitig hatte auch das fortschreitende Kriegsgeschehen Auswirkungen auf die Arbeit der Annahmestelle. Bestände wurden auseinandergerissen, Bücher an scheinbar sicherere Orte gebracht oder einfach an andere Institutionen weitergegeben.[6] So verlor sich auch der Rest der Bibliothek aus der Messiaskapelle im Kriegsgewirr – in der Staatsbibliothek wurden die Bücher nie offiziell angenommen. Die verzeichneten Bücher der „Gesellschaft“ in der Staatsbibliothek verblieben dort erst einmal, ohne dass sie Beachtung fanden. Und das nicht nur bis zum Ende des Krieges, sondern weit darüber hinaus. Erst in den 2000er-Jahren begann die Staatsbibliothek, sich systematisch mit ihren Beständen auseinanderzusetzen, um mögliches NS-Raubgut ausfindig zu machen. Im November 2007 wurde dafür vor Ort eine Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und -forschung eröffnet. Die dortigen Provenienzforscher:innen stießen in diesem Zusammenhang auf genau jene Vermerke im Zugangsbuch der Staatsbibliothek, die 65 Jahre zuvor dort verzeichnet wurden und auf den ursprünglichen Besitzer der Bücher die „Gesellschaft“ verweisen. Im September 2010 erfolgte die Restitution der ausfindig gemachten Bücher an das Berliner Missionswerk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der offiziellen Rechtsnachfolge der „Gesellschaft“, die nach ihrer Wiedergründung im Jahr 1948 noch bis 1982 bestand.[7] Im selben Jahr veröffentlichte Michaela Scheibe als damals stellvertretende Leiterin der Abteilung Historische Drucke einen Artikel über den Restitutionsprozess im Bibliotheksmagazin. Durch den Artikel wurde auch die Landes- und Universitätsbibliothek in Hamburg auf die Zwangsschließung und Beschlagnahmung der Bücher der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden aufmerksam.[8]

Auch in der Universitätsbibliothek Hamburg werden seit 2010 Überprüfungen der Bestände in Hinblick auf ihre Provenienz vorgenommen. Und tatsächlich wurden die Archivar:innen im Oktober 2010 auf vier Bücher aufmerksam, die ebenfalls den Stempel der „Gesellschaft“ auf ihren Titelseiten verzeichneten. Die entdeckten Bücher hatten bereits einen langen Weg hinter sich: Von der Annahmestelle der Staatsbibliothek waren diese anscheinend noch während des Krieges an die „Reichstauschstelle“ für Bücher weitergegeben worden. Diese war 1926 als Teil der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet worden, jedoch seit 1934 als eigenständige Dienststelle tätig. Die Reichstauschstelle war damit beauftragt, Bibliotheken im Deutschen Reich beim Erwerb verloren gegangener oder durch den Krieg beschädigten Bücher zu unterstützen. Ihr Bestand setzte sich aus meist angekauften Büchern aus den Ostgebieten,[9] aber genauso aus beschlagnahmten Büchern von Einzelpersonen und Bibliotheken zusammen. Viele Bibliotheken nutzten das Angebot der Reichstauschstelle, so auch die Landesbibliothek in Hamburg. Von dort waren die vier betreffenden Bücher 1943 in die Bestände der Universitätsbibliothek gelangt. Im Juni 2011 wurden auch diese an das Berliner Missionswerk übergeben.

Zuletzt wurden im August 2016 fünfzehn weitere Bücher an das Missionswerk restituiert. Diese waren während des Krieges an das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ weitergegeben worden. Seit 1936 besaß das Reichsinstitut eine Forschungsabteilung zur „Judenfrage“, welche vor allem nationalsozialistisches, pseudowissenschaftliches Propagandamaterial herausgab. Nach Ende des Krieges kamen die betreffenden Bücher erst 1982 zurück in den Besitz der Staatsbibliothek.

Die ca. 400 restituierten Bücher stehen heute im Magazin der gemeinsamen Bibliothek der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Berliner Missionswerks in Berlin Friedrichshain. Der Großteil jedoch gilt als verloren, wurde wahrscheinlich im Kriege zerstört, zumindest aber auseinandergerissen und weit über das Land verteilt.[10] Mit dem Verlust der Bibliothek ist auch viel Wissen über die damalige Vereinigung und ihre Arbeit verloren gegangen. Durch die Bestände der Bibliothek ließe sich ablesen, mit welchen Themen sich die „Gesellschaft“ befasste, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit setzte, aber auch, welche Inhalte sie außerhalb der Judenmission beschäftigte. So überrascht noch heute die Diversität der verbliebenen Bestände. Sie zeigt auf, dass sich die „Gesellschaft“ auch mit der politischen Lage der Juden:Jüdinnen in Europa auseinandersetze, zeitgenössische Abhandlungen über das Juden- und Christentum und philosophische und praktische Auseinandersetzungen mit dem Zionismus besaß. Darüber hinaus beschäftigte sie sich auch mit Palästina als religiöser Heimatstädte für Juden:Jüdinnen und Christen:Christinnen. Der Bestand beeindruckt auch heute noch mit umfangreichen Materialien für die Judenmission, so sticht zum Beispiel ein Neues Testament heraus, welches auf Jiddisch übersetzt wurde. Auch umfasst die Bibliothek Lehrbücher, die extra für den Taufunterricht jüdischer Taufanwärter:innen verfasst wurden. Dass der Verein die Restitution einiger seiner Bibliotheksbestände nicht mehr miterlebte, zeigt auf, wie langwierig solche Verfahren sein können. Gleichzeitig besteht aber auch Hoffnung, dass in Zukunft noch weitere Bücher der ehemaligen Messiaskapelle entdeckt werden können. Da die „Gesellschaft“ heute nicht mehr besteht, kann sie auch ihren Verlust der Bibliothek nicht mehr anklagen und auch keine weiteren Recherchen zum Verbleib der Bücher anstellen. An dieser Stelle ist der Einsatz von engagierten Einzelpersonen und Institutionen gefragt, um nicht zuletzt das bis ins 21. Jahrhundert bestehende Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus aufdecken und im möglichen Umfang beseitigen zu können.

Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.

Update 7/2025: Orthographische Korrektur


[1] Der genaue Umfang dieser Bibliothek kann heute nicht mehr ermittelt werden. Allerdings kann nachvollzogen werden, dass die „Gesellschaft“ in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich mindestens 1.000 Mark für die Anschaffung neuer Publikationen vorsah. Vgl. evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, bisher online nicht aufgelistete Akten der „Gesellschaft“, die 2010 an das Archiv restituiert wurden.

[2] Der genaue Zeitpunkt der Schließung ist unklar. Das evangelische Landeskirchliche Archiv in Berlin und Michaela Scheibe verweisen auf den 23. Januar. Die Verfügung der Geheimen Staatspolizei und auch Pfarrer Wilhelm Knieschke nennen den 18. April 1941. Ein möglicher Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Zeitangaben ist, dass bereits im Januar die Räumlichkeiten der Kapelle durch die Gestapo geschlossen wurden, eine offizielle Verfügung aber erst Monate später folgte. Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz. In: Gesellschaft für Exilforschung (Hrsg.): Bibliotheken und Sammlungen im Exil. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 29/2011. edition text + kritik, S. 188 und Knieschke, W.: Nathanael, S. 13.

[3] Verfügung der Gestapo vom 18. April 1941 aus dem Archiv der ev. Landeskirche in Berlin, ELAB 1/1113: „Zu den eingezogenen Vermögen gehören insbesondere: […] e) Die Bibliothek mit ca. 2000 Büchern“.

[4] Allerdings war Kniesches Einspruch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausschlaggebend für die Übergabe der Bücher an die Staatsbibliothek. Vielmehr war es auch eine Anordnung des Reichsministeriums für Finanzen, beschlagnahmte Schriften, insbesondere jüdische und hebräische Literatur, an die Staatsbibliothek zu übergeben. Dabei dürfte auch die räumliche Nähe der Büroräume der Gesellschaft zur Annahmestelle der Staatsbibliothek begünstigend auf die Übergabe eingewirkt haben. Vgl. Knieschke, W.: Nathanael. Ein kleiner Bericht zur Missionsarbeit am Volke Israel, S. 13. und Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek. Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. K. G. Saur 2008, S. 2f.

[5] Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz, S. 182.

[6] Vgl. Ebd. S. 188.

[7] Noch lange nach 1945 hielten große Teile der evangelischen Kirche am Konzept der Judenmission fest. Erst mit den 1980er-Jahren trat die Kirche in eine neue Phase der Reflektion des Nationalsozialismus und der Shoah ein. Die Thematik blieb aber umstritten. Trotzdem dienten diese Debatten beispielsweise als Ausgangspunkt für den Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ der evangelischen Kirche der DDR aus dem Jahr 1990. In dieser bekennt sich die Kirche zum Staat Israel, gegen den Antisemitismus und gegen das Konzept der Judenmission. Vgl. Pavlush, T.: Kirche nach Auschwitz zwischen Theologie und Vergangenheitspolitik. Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchen beider deutschen Staaten mit der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Peter Lang 2015, S.107.

[8] Informationen aus direktem Kontakt mit Anneke de Rudder, Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

[9] Der „Ankauf“ von Büchern und Bibliotheken war meist auch von einem Zwang geprägt, den die Staatspolizei auf „Verkäufer“ ausübte. In der Provenienzforschung stellt sich daher auch die Frage, inwiefern solche „Kaufverträge“ heute rechtmäßig sind. Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 1.

[10] Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 158.

[11] Die Standortbezeichnung „Judenmission“ stammt noch aus der historischen Systematik, welche bei Entstehung der Bibliothek erarbeitet wurde und auf den Sonderbestand der restituierten Bücher hinweist. Eine Überarbeitung der Archivsystematik mit ihren Bezeichnungen ist bereits vom aktuellen Bibliotheksleiter angedacht.

Über die Autorin

Laura Steinbrück studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

Was geschah im Hinterhof?                          

von Kristina Schnürle

Wenn man die Kastanienallee entlanggeht, kann man über der Haustür des Gebäudes mit der Nummer 22 eine Inschrift in altertümlichen Lettern lesen: „Messiaskapelle“. Zwischen Nagelstudio und Klettergeschäft, in dem belebten Stadtteil Berlin-Prenzlauer Berg, weist nichts auf eine Kapelle oder sonst einen besonderen Ort hin.

Foto: Kjell Pommerening

Seit Oktober 2023 gibt eine Stolperschwelle Auskunft über Menschen, die hier getauft und z. T. später deportiert und getötet wurden. Bis heute wissen die wenigsten, dass es im Nationalsozialismus Christen gab, die aus rassistischen Gründen verfolgt und ermordet wurden.

Foto: Johan Wagner

Aber was ist die Messiaskapelle?

Leider ist zurzeit ein Blick hinter das äußere Tor in den Hinterhof für die allgemeine Öffentlichkeit nicht möglich. Dort würde man auf eine kunstvoll mit Monden und Kreuzen verzierte Tür stoßen. Und im Innern ein Raum, der an einen Versammlungsort einer religiösen Gemeinschaft erinnert. Besonders fällt die hebräische Inschrift des hebräischen Gottesnamen, des Tetragramms auf. Wer hat sich dort wann versammelt? Was geschah an diesem Ort im Hinterhof?

Foto: Johan Wagner

Foto: Johan Wagner

Wie alles begann

Durch das Emanzipationsedikt 1812 waren die preußischen Juden rechtlich zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ geworden. König Friedrich Wilhelm III. selbst wandte sich aber schon 3 Jahre später gegen die bürgerliche Gleichstellung seiner jüdischen Untertanen. Doch eine Gesellschaft zur Judenmission war ganz in seinem Sinne, da er dadurch hoffte, ausschließlich „christliche Untertanen“ zu bekommen.

Foto: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben/504517/19-jahrhundert/

1822 wurde die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter Juden“, die Berliner Judenmission, gegründet.  Der Verein entstand aus der pietistischen Bewegung des 19. Jhs., entsprechend der Mission unter „Heiden“. Während die Heidenmission allgemein anerkannt war, hatte die Judenmission mit antisemitischen Vorurteilen zu kämpfen. Aber auch das alte Volk Israel habe, so die Vertreter der Judenmission, ein Recht auf Heil und das Evangelium – jetzt, da die gesellschaftlichen Schranken zwischen Juden und Christen gefallen waren und Juden qua Gesetz gleichberechtigt waren, umso mehr. Zusätzlich solle der Lebenswandel der Christen missionarisch wirken. Da die Aufgabe der Mission nicht von einzelnen Christen geleistet werden könne, sei es nötig, diese an Vereine zu delegieren, bzw. diese dabei zu unterstützen. (So im grundlegenden Aufsatz „Recht und Pflicht der Judenmission“ im „Nathanael“, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft ab 1885).

Schon 1827 hat Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis eines besonderen Gottesdienstes für die „Juden“ in Berlin gegeben, aber es fehlte lange an einem geeigneten Ort. 1902 konnte schließlich die Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 eingeweiht werden. Sie bot Platz für 100 Menschen.

Es handelte sich dabei nur um einen kleinen Kreis im Rahmen der Landeskirche. Denn die Mehrheit der Deutschen, auch der kirchlichen Kreise, war an einer Begegnung oder gar dem Dialog mit Juden nicht interessiert. Darum wurden die „getauften Juden“ immer mehr zu einer Sondergruppe, an deren Integration in die christliche Gemeinde kaum jemandem gelegen war.

In den Räumen in der Messiaskapelle wurde sonntäglich Gottesdienst gefeiert

Foto: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/NQM4DO6J6QI6NJOYZF2EQOHDVXY53I5L

Aber daneben spielte die Soziale Arbeit an konvertierten oder am Christentum interessierten Juden eine große Rolle. Seit Mitte des 19. Jhs. kamen viele junge Juden aus Osteuropa oder dem russischen Zarenreich nach Berlin, häufig ohne Geld und familiären Rückhalt. Sie waren oft auf Unterstützung angewiesen und waren dadurch, dass sie sich im „fortschrittlichen Berlin“ ihrem jüdischen Glauben aus dem Schtetl entfremdeten, für den christlichen Glauben aufgeschlossen.

Ein Anliegen der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ war es außerdem, Menschen in den Gemeinden – und wenn möglich auch darüber hinaus – jüdische Bräuche und Feste zu erklären und bekannt zu machen. Damit wollte sie dem Misstrauen und der wachsenden antisemitischen Stimmung in jener Zeit entgegenwirken.

Warum ließen sich Juden taufen?

Sowohl von kirchlicher als auch politischer Seite wurde unterstellt, die Juden ließen sich „nur“ taufen, um nicht als Juden benachteiligt oder verfolgt zu werden. Berichte von Täuflingen oder ihrer Nachkommen zeigen ein Spektrum unterschiedlichster Gründe: von relativer Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen oder christlichen Glauben, der Anpassung an den christlichen Partner oder die christliche Partnerin bis hin zum Versuch, durch die eigene Taufe oder die Taufe ihres Kindes bessere Chancen in der Gesellschaft zu erreichen – in der NS-Zeit sogar das Leben zu retten. Doch bilden diese äußerlichen Motive nicht alles ab. Wer wollte beurteilen, ob die Hinwendung zum christlichen Glauben „echt“, aus freien Stücken erfolgte? Der Dichter Jochen Klepper schreibt schon 1933 in sein Tagebuch, dass seine jüdische Frau Hanni sich taufen lassen wolle, aber nicht aus politischen Gründen konvertiere. Sie wisse, dass die Anmeldung zur Taufe politisch sinnlos sei. (Tagebuch „Unter dem Schatten seiner Flügel“ 13.Mai 1933). Denn von Seiten des NS-Staats war von Anfang an klar, dass die Taufe keine Auswirkung auf den „Rassenstatus“ hat: auch ein Getaufter blieb jüdisch, „nichtarisch“.

Dennoch erhielten in der Zeit zwischen 1933-41 über 700 jüdische Menschen in der Messiaskapelle Taufunterricht.

Die Taufen wurden – sicher in erster Linie aus theologischer Verantwortung, aber vielleicht auch um den Verdächtigungen vorzuwirken – nicht oberflächlich oder gar nur auf dem Papier vollzogen, sondern es gab einen mehrwöchigen Taufunterricht. Dies wird im Messiasboten, dem Gemeindebrief, ausführlich beschrieben.

Foto: Laura Steinbrück

Der Messiasbote, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft im Nationalsozialismus, gibt auch Zeugnis davon, wie die Verkündigung an Juden aussah: Pfarrer Knieschke knüpfte in seinen Predigten an Worte, Erzählungen und Feste des Judentums an. Er predigte im Wissen, dass Juden, anders als die Menschen, die von Missionsgesellschaften in fernen Ländern missioniert werden, schon eine gemeinsame Basis mit den Christen haben. Er nahm Verheißungen der Propheten auf und wies – wie die neutestamentlichen Apostel – darauf hin, dass diese in Jesus erfüllt seien. Im Messiasboten finden sich ebenfalls Zeugnisse von Getauften, die über ihren Weg von Judentum zum Christentum berichten. Auch wenn die Ausführungen im Messiasboten nicht mehr unserer Perspektive auf das Judentum, geschweige denn der theologischen oder homiletischen Sprache unserer Zeit entsprechen, wird die Überzeugung und Redlichkeit der Pfarrer und Mitarbeitenden sichtbar.

Im Frühjahr 1941 schloss der NS-Staat die Messiaskapelle, den Zufluchts- und Taufort so vieler Christen jüdischer Herkunft gewaltsam.

 „Allein die Tatsache, dass Christen jüdischer Herkunft in der Zeit der Verfolgung die Tür der Messiaskapelle offenstand, dass Menschen jüdischer Herkunft hier weiter getauft wurden, macht die Messiaskapelle in gewisser Weise bereits zu einem Ort der Zuflucht.“ Und den Verfolgten wurde auch noch anders geholfen.“ Diejenigen, die im Bereich der Messiasgemeinde tätig waren, haben sich nicht von den Verfolgten abgewandt. Sie haben sie nicht nur seelsorgerlich begleitet, sondern mit konkreten Hilfeleistungen unterstützt. „Aber vielen konnte nicht geholfen werden. 86 der 700 getauften Menschen jüdischer Herkunft wurden deportiert, nur 2 davon überlebten.“ (Lachenicht in: Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus 2013. S.91f)

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Judenmission ihre Arbeit wieder auf, in der Kapelle trafen sich Überlebende und feierten Gottesdienst. Darüber ist kaum etwas bekannt und wäre es wert, weiter erforscht zu werden.

Doch die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ hatte sich überlebt und löste sich 1982 auf. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) distanzierte sich 1990 vollständig von der Mission an Juden.

Heute ist die Messiaskapelle ein „Nichtort“, ein kaum sichtbarer, fast vergessener Ort im Hinterhof. Die evangelische Kirche Berlin sieht die Erhaltung dieses Ortes als Gedenkort nicht als drängende Aufgabe an.

Foto: Kjell Pommerening

https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/gedenkort-messiaskapelle-2/

https://www.kkbs.de/messiaskapelle

„Nathanael“, die Zeitschrift der Gesellschaft und der Nachfolger, „Der Messiasbote“ sind zum Beispiel in der Staatsbibliothek zu Berlin einzusehen, allerdings ist dort eine Benutzung nur im Lesesaal möglich. Die „Permalinks“ der Staatsbibliothek lautet:

https://stabikat.de/Record/16759074X („Nathanael“)

https://stabikat.de/Record/167606131 („Der Messiasbote“)

Mittlerweile wurde auf diesem Blog ein weiterer Beitrag veröffentlicht, in dem die Staatsbibliothek zu Berlin eine Rolle im Sinne der Erinnerung an die Messiaskapelle spielt: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2024/05/05/was-uns-buecher-nicht-erzaehlen-der-lange-weg-der-bibliothek-der-gesellschaft-zur-befoerderung-des-christentums-unter-den-juden/

Update 7/2025: Vervollständigung Literaturnachweis.

Antisemitismus von vorgestern und heute

von Johan Wagner

„DIE WEISSE ROSE“ als „Claim“ für „Querdenker“-Sticker – antisemitisch? (c) J. Wagner

„DIE WEISSE ROSE“ als „Claim“ für Querdenker-Sticker, die im Straßenraum von Berlin des Jahres 2022 auftauchen. Ist das Antisemitismus? Sicher ist: Antisemitismus in den sozialen Medien nimmt in Europa derzeit stark zu, eine Studie der Europäischen Union ermittelte zwischen den Vor-Pandemiemonaten Januar und Februar 2020 und dem Pandemiejahr 2021 eine siebenfache Steigerung von antisemitischen Schlagworten in französischsprachigen Sozialmedien-Accounts, eine sogar 13-fache Steigerung in deutschsprachigen Sozialmedien-Accounts (vor allem im Messengerdienst Telegram).[1] Wie starken Anteil daran hat religiös motivierter Antisemitismus und was hat dies mit unzureichend aufgearbeiteter Versagensgeschichte der Kirche zu tun? Gibt es auch deshalb immer wieder antisemitische Vorfälle auch im kirchlichen Bereich?[2] Auch dieser Blogbeitrag kann zu diesen schwierig zu beantwortenden Fragen nur Anhaltspunkte liefern, die gleichwohl den Vorteil haben, dass Sie weiterhin insbesondere in der Region Berlin-Brandenburg präsent erscheinen. Es gibt Hinweise, dass christlich-religiös motivierte alte Vorurteile in der Pandemie vermehrt sichtbar werden. So zitiert die genannte Studie eine französische, fundamentalistisch-christliche Facebook-Seite mit einem wütenden Angriff auf die vermeintlichen Verschwörer hinter der Pandemieentwicklung und der Eindämmungsmaßnahmen: „[…] ihre [die der „Juden“, JW] Impfstoffe voll von […] Unreinheiten aller Arten.“[3] Im Zusammenhang der Corona-Proteste spricht der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg, Michael Blume im Experteninterview einer weiteren Studie von einem „libertären Antisemitismus“.[4] Die Autor:innen halten in der Studie fest, dass Christ:innen keine prägende Stellung in der „Querdenken“-Bewegung eingenommen haben.[5]

Antisemitismus bleibt ein Thema,
zu dem es stapelweise „Lesestoff“ gibt. (c) J. Wagner

Ein anonymer Brief von 1933

Im Zentrum dieses Blogbeitrags steht ein anonymer Beschwerdebriefs vom Totensonntag 1933.[6] Alle Kirchen- und Partei-Gremien und auch prominente Vertreter werden in dem anonymen Schreiben angegriffen und beleidigt.

Erste Seite des anonym verfassten Beschwerdebriefs, ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“.

Sogar der „Reichsbischof“, der mit „Herr Reichsbischof !“ adressiert wird, wird hart kritisiert:

„Im selben Augenblick, da der stellvertretende Führer [Rudolf] Heß diesen Programmpunkt [eines „positiven Christentums“] demonstrativ verließ um gegen Sie, Herr Reichsbischof (trotz Ihres Dementis) zu agititeren und proklamierte daß in Deutschland hinfort jeder nach seiner Fasson selig werden könne, daß Religion, wie z. Zt. der Marxistenherrschaft, wieder Privatsache sei, brachen die Schranken, die nur künstliche waren […].“[7]

Gegen Ende wird der „Reichsjugendführer“, Baldur von Schirach, frontal attackiert:

„Was soll aus unserer Jugend werden unter der Führung des Gottlosen, der sich Baldur von Schirach nennt, in Wirklichkeit aber „Fritz Moll“ heißen soll. Ein politischer Hochstapler. […]“[8]

Nur der abgesetzte Generalsuperintendent der Kurmark, Otto Dibelius, wird als Beispiel der Standhaftigkeit gegenüber der Tagespolitik und dem Duckmäusertum sowie der Überzeichnung nationalsozialistisch-christlicher Doppelgläubigkeit gewählt.

„Und so wie mit [Joachim] Hossenfelder [Pfarrer und einer der führenden „Deutschen Christen“] ist es mit fast all den anderen Bischöfen, Pröbsten und Prälaten. Nicht ihre Eignung hat diese Herren ge- und befördert, sondern ihre Parteizugehörigkeit und ihr großes Maul, während man verdiente und hochqualifizierte Männer wie D. Dibelius und viele andere in der brutalsten Weise hinauswarf.“[9]

Es ist dem kurzen Format eines Blogbeitrags geschuldet, dass von dieser Eloge auf Dibelius eine direkte Überleitung auf den „Tag von Potsdam“ folgt, einer der Tiefpunkte in seiner Biographie. Persönlichkeiten sind – wie auch lieux de mémoire – oft vielschichtig. Die Knappheit erfordert hier eine Konzentration auf eine oft unterrepräsentierte Seite des späteren ersten Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.

Ein umstrittener „hochqualifizierter“ Mann

Otto Dibelius ist umstritten, weil er antisemitische Positionen lange vertreten hat. Dafür steht auch der „Tag von Potsdam“, bei dem die Garnisonkirche Potsdam als preußischer Erinnerungsort für die zeremonielle Auftaktveranstaltung eine wichtige Rolle spielte. Vor der Konstituierung des am 5. März 1933 gewählten Reichstags hielt hier Adolf Hitler als Reichskanzler seine Regierungserklärung. Zuvor hatte bei einem evangelischen Gottesdienst in St. Nikolai Dibelius gepredigt und sich im Sinne der Zwei-Regimente-Lehre hinter die Vorstellung „nationaler Einheit“ gestellt.[10]

Der Wiederaufbau des Garnisonkirchen-Turms ist wegen des „Tages von Potsdam“ umstritten. Im Vordergrund zu sehen sind die Dekorationselemente der Turmspitze. Heute sollen sie einladen zur differenzierenden Erinnerung an ambivalente deutsche Geschichte. Dies hat auch das Potential einer zeitgemäßeren Erinnerung an Otto Dibelius. Am Bauzaun finden sich Plakate der Kampagne https://tut-der-seele-gut.info, darunter„Antisemitismus schadet der Seele“. (c) J. Wagner

Gleichzeitig erscheint er weiterhin als selbsternannter Bischof und Kämpfer für die westliche freiheitliche Welt im Kalten Krieg als Symbol in Berlin. So wird der Lichteffekt eines Kreuzsymbols auf dem Berliner Fernsehturm im Berliner Volksmund als „Dibelius‘ Rache“ bezeichnet.[11] Im diesem Licht lautet die Leitfrage:

Inwieweit waren antisemitische Positionen innerkirchlich Normalität, dass Otto Dibelius als innerkirchliche Opposition zu übersteigertem nationalsozialistischen Reformeifer à la Joachim Hossenfelder fungieren konnte?[12]

Die Beziehung von Antisemitismus und Protestantismus ist auch fast 90 Jahre nach dem anonymen Brief etwas, dass sich zu betrachten lohnt. 2019 wurde von den Evangelischen Akademien in Deutschland die Broschüre „Antisemitismus und Protestantismus. Impulse zur Selbstreflektion“ herausgebracht. Darin heißt es, es sei „zu fragen, welche Fundamente protestantischer Weltdeutung und Identität dazu geführt haben, dass der Protestantismus zum tragenden Milieu des modern werdenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert werden konnte.“ Mit Michael Wildt möchte ich ergänzen und zuspitzen: „Ich befürchte, dass wir uns mittlerweile erinnerungspolitisch gemütlich und selbstzufrieden eingerichtet haben im Zivilisationsbruch.“[13] Es geht mir in diesem Blogbeitrag nicht in der Umkehrung der antisemitischen Unreinheits-Fantasterei: Nicht um eine Idealvorstellung, was ein Generalsuperintendent 1933 am „Tag von Potsdam“ hätte predigen können. Sondern um ein genaues Schauen auf die Geschichte. Und darum, dass an umstrittene Figuren nicht einseitig erinnert wird. Otto Dibelius steht in einer Nationalprotestantismus-Tradition. Er war geprägt von einem Übergang von religiösem Antijudaismus zum „rassistischen Vorbehalt“ im 19. Jahrhundert.[14] Im „Umbruchjahr 1933“ stand er wie Viele nicht grundsätzlich gegen die NS-staatliche Gewalt. „Die Kirche dürfe, so meinte Dibelius [in seiner Predigt am „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933] unter Verweis auf Luther, der ‚rechtmäßigen staatlichen Gewalt‘ nicht in den Arm fallen, wenn sie das tue, wozu sie berufen sei. Wenn der Staat gegen die Feinde der staatlichen Ordnung vorgehe, dann möge er in Gottes Namen seines Amtes walten.“[15]

Diese Haltung ist also am Totensonntag 1933 vorbildlich:

„Ist es überhaupt noch möglich, die Bewegung [der „Deutschen Christen“, JW] zu retten, nur dadurch, daß sofort diese üblen Gesellen samt und sonders hinausgetan werden und ein Mann die Leitung übernimmt, der etwas kann und aufgrund überragender Fähigkeiten imstande ist, aus dem Chaos zu retten, was zu retten ist. Wir haben nur einen und das ist der Generalsuperintendent Dibelius. [Hervorhebung im Original]“[16]

Antisemitismus als Normalfall

Abschließend bleibt die Frage nach der innerkirchlichen Normalität des Antisemitismus schon zu Beginn der NS-Zeit und im Vorfeld. Viel passierte, um herauszufinden, wer den Brief geschrieben hatte. Dabei ging es nicht um eine antisemitische oder „philosemitische“ Einstellung, sondern um die Frage, wie sehr bereits eine „Doppelgläubigkeit“ (Manfred Gailus) an evangelische und nationalsozialistische Glaubensgrundsätze Maßstab der Dinge war.[17] Was sagt es über das Konsistorium aus, dass eine solche Philippika aufwändige Nachforschungen hervorrief?[18]

Weitere Recherchen und kritische Blicke auch auf Führungsfiguren der Bekennenden Kirche, in deren Tradition die Evangelische Kirche in Deutschland gleichwohl zu recht sieht, sind notwendig. Gerade vor dem Hintergrund eines neu aufflammenden Antisemitismus bleibt die Feststellung, dass es bei diesen Blicken darum gehen muss eine glaubensmäßige Unterfütterung der NS-Herrschaft zu verstehen. Manfred Gailus schreibt von einem „radikalisierten religiösem Fanatismus“.[19] Dieser Wahn wirkt bis in unsere heutige, pandemische Zeit.


[1] Europäische Kommission, Institute for Strategic Dialogue, The Rise of Antisemitism online during the pandemic. A study of French and German content, Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union 2021, online verfügbar unter https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/d73c833f-c34c-11eb-a925-01aa75ed71a1/language-en (letzter Besuch: 29.4.2022).

[2] So erschien in der Wochenzeitung „die Kirche“ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vor wenigen Jahren eine israelkritische Karikatur. Ist das ein Zeichen für fortdauernden evangelisch geprägten Antisemitismus oder wird die Antisemitismus-Streitfrage allzu schnell und unbedacht ins Feld geführt? Vgl. Thomas Knieper, Dieter Hanitzsch, seine Netanjahu-Karikatur und die Süddeutsche Zeitung. Die Geschichte einer Antisemitismus-Unterstellung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politischen Interessen, 2020 Berlin, S.182-212.

[3] Europäische Kommission, Institute for Strategic Dialogue, The Rise of Antisemitism online during the pandemic. A study of French and German content, Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union 2021, online verfügbar unter https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/d73c833f-c34c-11eb-a925-01aa75ed71a1/language-en (letzter Besuch: 29.4.2022), S. 18.

[4] „Dieser zeichne sich durch eine Querverbindung von libertärer Haltung, die jede Form von Fremdbestimmung ablehnt und Antisemitismus, der in einer verkürzten Kapitalismuskritik eine jüdische Weltherrschaft behauptet, aus.“ Nadine Frei, Oliver Nachtwey, Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, Basel 2021, online verfügbar unter https://boell-bw.de/sites/default/files/2021-11/Studie_Quellen%20des%20Querdenkertums.pdf (letzter Besuch: 6.1.2022), S. 15.

[5] Vgl. ebd. S.48, S. 53. Michael Blume hat dagegen die These aufgestellt, dass der Pietismus beim christlichen Engagement im Rahmen der „Querdenken-Proteste“ eine Rolle spielen könnte.

[6] ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“. Es handelt sich beim anonymen Autoren wohl um den einfachen Mitarbeiter des Konsistoriums Otto Schülke. Zudem existiert in derselben Personalakte sein Abschiedsbrief vor seinem Selbstmord ungefähr ein Jahr später.

[7] ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“, S. 1 des Briefes.

[8] Ebd. S. 3. Was genau mit der Benennung „Fritz Moll“ unterstellt wurde, ist im Rahmen dieses Blogbeitrags nicht zu ermitteln gewesen. Es könnte sich um die Andeutung einer unehelichen Geburt oder pädokrimineller beziehungsweise homosexueller Neigungen von Schirachs handeln. Oliver Rathkolb zitiert in seinem historischen Porträt Gerüchte, Schirach sei homosexuell, die im Rahmen der Nürnberger Prozesse von einem Psychologen untersucht wurden. Oliver Rathkolb, Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler, Molden, Wien 2020, S. 557-558.

[9] ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“, S. 2 des Briefes. Das Hinauswerfen spielt darauf an, dass Dibelius gegen eine „Gleichschaltung“ der Kirche Widerstand leistete und seines Amtes enthoben wurde. Jens Gundlach, Otto Dibelius und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in: Sonja Begalke, Claudia Fröhlich, Stephan Alexander Glienke (Hrsg.), Der halbierte Rechtsstaat , Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten, Nomos Baden-Baden 2015, S. 265-276. Joachim Hossenfelder wurde nach 1945 als Pastor in der Eutinischen Landeskirche (heute Teil der Nordkirche) aufgenommen, Otto Dibelius setzte sich dafür ein, dass er eingestellt wurde. Evangelische Akademie der Nordkirche/Amt für Öffentlichkeitsdienst der Nordkirche [Hrsg.], Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit Ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Publikation zur Wanderausstellung im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Band 1, Lutherische Verlagsgesellschaft Kiel 2017, S. 50.

[10] Anke Silomon, Pflugscharen zu Schwertern. Schwerter zu Pflugscharen. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin 2014, S. 72. Die 1968 gesprengte Garnisonkirche wird derzeit als umstrittenes Versöhnungs-Projekt wiedererrichtet und bietet mit Ihrer Ausstellung, die zur Zeit konzipiert wird, eine Chance, Otto Dibelius‘ Rolle am „Tag von Potsdam“ kritischer zu reflektieren. Ein Interview zur Frage von Public History und Erinnerungskultur in der Garnisonkirche findet sich auf diesem Blog: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/06/28/erinnerungskultur-und-public-history-interview-podcasts/ (letzter Besuch: 11.2.2022). Eine aktuelle Untersuchung von Straßennamen in Berlin kommt zu dem Schluss: „Noch 1933 bezog er [Otto Dibelius] sich auf den Antisemiten Heinrich von Treitschke. Auch beim Boykott von Jüdinnen und Juden durch die SA 1933 stellte er sich hinter die NSDAP. Dabei bezeichnete er sich selbst als Antisemiten. Noch 1964 äußerte er sich antisemitisch.“ Land Berlin, Landesstelle für Gleichstellung – gegen Diskriminierung, Dossier von Dr. Felix Sassmannshausen: Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin, erstellt im Auftrag des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus, verfügbar online z. B. unter: https://www.welt.de/bin/Dossier_bn-235636290.pdf (letzter Besuch: 1.2.2022). Zur Zwei-Reiche und Regimente-Lehre siehe auch auf diesem Blog: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/04/09/verfolgtenpolitik-um-1940-seenotrettungspolitik-um-2020-dinge-ins-verhaeltnis-setzen/ (letzter Besuch: 11.2.2022).

[11] https://www.morgenpost.de/berlin/article206343567/6-Geheimnis-Der-Berliner-Fernsehturm-und-das-Kreuz.html (letzter Besuch 2.2.2022).

[12] Joachim Hossenfelder war einer der Redner auf der Großkundgebung der „Deutschen Christen“ am 13. November 1933 im Sportpalast in Berlin, auf die der anonyme Brief verweist. Hier wurde eine Verwerfung des Alten Testaments gefordert, Hossenfelder musste als „Reichsleiter der Deutschen Christen“ und als Brandenburger Bischof zurücktreten. Evangelische Akademie der Nordkirche/Amt für Öffentlichkeitsdienst der Nordkirche [Hrsg.], Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit Ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Publikation zur Wanderausstellung im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Band 1, Lutherische Verlagsgesellschaft Kiel 2017, S. 51. Siehe auch: https://www.nordkirche-nach45.de/#2 (letzter Besuch: 11.2.2022).

[13] Die Evangelischen Akademien in Deutschland, Antisemitismus und Protestantismus. Impulse zur Selbstreflexion, Berlin 2019, online verfügbar unter: https://www.evangelische-akademien.de/projekt/antisemitismus-und-protestantismus/ (letzter Besuch 2.2.2022), S. 12. Auch die regionale evangelische Kirche hat sich dem Kampf gegen Antisemitismus und aller Formen von Hass verschrieben. Siehe zum Beispiel: https://gegen-antisemitismus.ekbo.de/startseite; https://tut-der-seele-gut.info oder https://ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/0._Startseite/03._PDFs_und_Audios/A_EKBO_Christinnen_gegen_Antisemitismus_aktuelle_Version.pdf (letzter Besuch 23.2.2022) – die Frage bleibt: Ist dies ohne kritischere Beleuchtung der Geschichte der Gesamtinstitution in Berlin und Brandenburg glaubwürdig? Michael Wildt hat im Februar 2022 seine beeindruckende Abschiedsvorlesung zur Frage „Singularität des Holocaust?“ gehalten, der das Zitat entnommen ist. Ein Mitschnitt ist online verfügbar:

&k=1b35e187a0 (letzter Besuch 22.2.2022, Zitat ca. Min. 51).

[14] Dieser wurde bisher theologisch wenig reflektiert. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? Zweite Auflage, C. H. Beck München 2004, S. 93-96. Wolfgang Benz spricht zutreffend von der „christlich-sozialen Variante der Judenfeindschaft“ und verbindet dies mit dem evangelischen Berliner Hofprediger Adolf Stoecker. Die Berliner Stadtmission ist dabei, diesen Aspekt ihres Mitgründers aufzuarbeiten: https://www.berliner-stadtmission.de/geschichte (letzter Besuch: 11.2.2022).

[15] Manfred Gailus, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2021, S. 16.

[16] ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“, S. 2 des Briefes.

[17] Am 21. September 1934 werden die Kanzlei des „Reichsbischofs“ und die „Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche“ mit dem Briefkopf des Konsistorialpräsidenten ersucht, zwei anonyme Briefe an das Konsistorium kurze Zeit auszuhändigen. Die historischen Einordnung und Bewertung dieses Schreibens soll hier nicht im Mittelpunkt stehen. Gleichzeitig ist die Archivalie zwar „I. V.“ unterzeichnet, es kann aber davon ausgegangen werden, dass der „Deutsche Christ“ und damals noch amtierende Konsistorialpräsident Paul Walzer vom Vorgang Kenntnis hatte. Ein Scan dieses Briefes (ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“) im Format PDF kann hier heruntergeladen werden: Konsistorialpraesident_Ermittlungen_Schuelke_EZA.pdf

Zu Walzer siehe auch: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2020/08/24/konsistorialpraesident-paul-walzer-symptomatisch-fuer-kirche-in-berlin-und-brandenburg-in-der-zeit-1934-und-danach/ (letzter Besuch 11.2.2022)

[18] In der Akte des Evangelischen Landeskirchlichen Archivs in Berlin (ELAB 11/3800, „Schülke, Otto“) findet sich ein für die damalige Zeit beeindruckendes Gutachten, gleichzeitig steht auch dieser aufwändige Nachweis hier nicht im Mittelpunkt. Das Gutachten kommt zu dem Schluss: „Der Beweis seiner [Otto Schülkes] Schrifturheberschaft für den anonymen Brief ist daher [aufgrund der genutzten Schreibmaschine und der handschriftlichen Korrekturen] ein doppelter.“ Ein Scan dieses Gutachtens im Format PDF kann hier heruntergeladen werden: Graphologisches_Gutachten_Schuelke_EZA.pdf

[19] „Auch der während der Kriegsjahre 1939 bis 1945 immer vehementer hervortretende, wahnhafte Züge annehmende Antisemitismus der nationalsozialistischen Führungskreise, der den Krieg zum ‚Krieg gegen das Judentum‘ und den ‚Sieg über die Juden‘ – letztlich deren physische Vernichtung – zur großen, heroischen Tat erklärte, ist nur im Kontext eines radikalisierten religiösen Fanatismus zu verstehen.“ Manfred Gailus, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2021, S. 166.


SFR – Selected Further Reading

  • Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? Zweite Auflage, C. H. Beck München 2004
  • Die Evangelischen Akademien in Deutschland, Antisemitismus und Protestantismus. Impulse zur Selbstreflexion, Berlin 2019, online verfügbar unter: https://www.evangelische-akademien.de/projekt/antisemitismus-und-protestantismus/ (letzter Besuch 2.2.2022)
  • Manfred Gailus, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2021
  • Herfried Münkler, Preußen als Beute. Der „Tag von Potsdam“ und das Attentat auf Hitler, in: Ders., Die Deutschen und ihre Mythen, Rowohlt (Reinbek bei Hamburg), 5. Aufl. 2018, S. 275-294.
  • Anke Silomon, Pflugscharen zu Schwertern. Schwerter zu Pflugscharen. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin 2014

Über den Autor

Dr. Johan Wagner ist Referent für Fördermittelrecht der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Er gehört zum Lehrbeauftragten-Pool des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsinteressen und Arbeitsgebiete sind Europäische Integration, Pressegeschichte, europäische Beziehungen zur arabischen Welt, Wissenschaftsstrategie, konfessionelle Entwicklungen in Europa, europäische Konflikt- und Friedensgeschichte, siehe auch: https://www.clio-online.de/researcher/id/researcher-5652

Update 7/2025: Orthographische Korrektur.