Die Nationalsozialist_innen verfolgten Jüdinnen und Juden unabhängig ihres individuellen Bekenntnisses. Ausschlaggebend für die Verfolgung war der „Rassestatus“, welchen die Nationalsozialist_innen an der jüdischen Glaubenszugehörigkeit einer Person oder ihrer Vorfahren zu konstruieren versuchten. Auch Personen, die getauft waren und ein christliches Selbstverständnis hatten, waren den Schikanen des Regimes ausgesetzt. Das Schicksal der Berliner Lehrerin Margarete Draeger zeigt dies sehr eindrücklich. Draeger wurde in einem protestantischen Elternhaus aufgezogen und wusste bis zu ihrer Entlassung aus dem Schuldienst aufgrund des „Arierparagraphen“ nichts von ihrer jüdischen Familiengeschichte. Im August 1944 wurde sie dennoch nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.[1] Kirchengemeinden während der NS-Zeit waren folglich damit konfrontiert, dass das nationalsozialistische Regime Teile ihrer Mitglieder verfolgte. Trotz der gesellschaftspolitischen Relevanz der Kirchen unterblieb ein Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung bekanntlich weitestgehend.[2] Doch auch die Verfolgung der eigenen Glaubensbrüder und -schwestern hatte lediglich individuellen und vereinzelten Widerstand zur Folge.[3] Im Folgenden soll anhand eines Briefes der Frage nachgegangen werden, inwiefern dies auch mit dem Bild der Christ_innen jüdischer Herkunft zusammenhing, welches insbesondere in Teilen der evangelischen Glaubensgemeinschaft weit verbreitet war.
„Eine grundsätzliche Verordnung, die die Judenfrage regelt, wird daher dringend erwartet“
Seit dem 19.September 1941 mussten all jene Personen einen „Judenstern“ tragen die, der Ansicht der Nationalsozialist_innen zu Folge, als Juden galten. Wie sehr diese Maßnahme auch Christ_innen jüdischer Herkunft traf, zeigt ein Brief[4] der Berliner Landesgemeinde der „Nationalkirchlichen Einung – Deutsche Christen“[5] an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 28. Oktober 1941. Bezugnehmend auf Vorkommnisse in Berliner Kirchengemeinden, in denen „Juden“ an Gottesdiensten und weiteren kirchlichen Veranstaltungen teilgenommen hatten, forderte der Autor[6] hierin implizit den Ausschluss jener Christ_innen aus den Kirchengemeinden, welche eine jüdische Familiengeschichte hatten. Beeindruckend ist hierbei, mit welchem Selbstverständnis und mit welchen kaum verhohlenen Drohungen der Vertreter der kirchenparteilichen Gruppierung die kirchliche Oberbehörde zu einer umgehenden Entscheidung drängte.[7] So führt er in dem Brief beispielsweise aus, dass die evangelischen Kirchen, die einzigen Stätten seien, an welchen „Juden“ noch mit Christ_innen zusammenkommen könnten und dass dies von der „deutsche Volkseele […] als unerträglich“ empfunden werde. Neben der Missbilligung dieses Umstandes richtet der Schreibende dabei eine deutliche Warnung an den Oberkirchenrat und dessen von ihm offenbar als allzu „judenfreundlich“ wahrgenommenen Umgang aus.
Doch womit begründet der Kirchenmann seine Handlungsaufforderung und warum fordert er diese mit Vehemenz ein?
Der Autor führt in dem Brief aus, dass Jüdinnen und Juden nicht aus „religiösen Gründen und um der Wahrheit willen“ konvertierten, sondern aus „gesellschaftlichen Gründen“. Den trotz ihrer Konversion in dem Brief stets als „Juden“ Bezeichneten attestiert der NS-Kirchenmann dabei instrumentelle Beweggründe. Ihnen sei es lediglich darum gegangen „aus dem Übertritt Kapital zu schlagen“ und „hoffähig“ zu werden. Überdies seien selbst „geistig geschulte Juden“ nicht in der Lage zu begreifen was die „Christenmenschen“ bewegt, deshalb sei nicht davon auszugehen, „dass der Durchschnitt der Juden, die sich in die evangelische Kirche haben aufnehmen lassen, innerlich tatsächlich Christen geworden sind.“
Aus dem im Brief Formulierten lässt sich einiges ableiten:
In den Ausführungen wird eine dichotome Gegenüberstellung von Jüdinnen und Juden mit Deutschen (und nicht von Christ_innen!) vollzogen. Das Jüdischsein wird nicht, beziehungsweise nicht primär als religiöse Angelegenheit gefasst, sondern als „rassische“. Juden werden in dieser antisemitischen Konstruktion nicht als Teil der Eigengruppe aber auch nicht als vermeintlich anderes nationales Kollektiv gedacht, sondern als das Andere par excellence, als „Gegenrasse“. Die Gruppenkonstruktionen sind in dieser Logik starr gedacht, ein Ausbrechen des Einzelnen aus seinem „rassischen Schicksal“ ist in diesem Denken nicht vorstellbar. Demgemäß ist auch nicht von „Christen jüdischer Herkunft“ o.ä. die Rede, sondern nur von „(getauften) Juden“. Wenn jedoch ein individueller Glaubensübertritt aus religiöser Überzeugung nicht denkbar ist, stellt sich dem Antisemiten – der nur in Nutzenkategorien denken kann – natürlich die Frage nach den Beweggründen einer Konversion. In dem Brief wird eine Angst des Kirchenmannes vor der Unterwanderung der Kirchen durch sich taufende Jüdinnen und Juden deutlich, in Folge derer er eine geistige „Zersetzung“ der Religion befürchtet. Dies wird unter anderem in den Ausführungen klar, in denen der Autor von einer angeblich bereits vonstattengegangenen jüdischen Übernahme der evangelischen Kirche fabuliert: „Die Zeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, wo ein reaktionärer Judenstämmling[8] in der evangelischen Kirche den grössten [sic!] Einfluss hatte, ist allgemein bekannt.“
Der Autor sieht in den Christ_innen jüdischer Herkunft folglich einen unsichtbaren Feind in den eigenen Reihen. Zwar wird dies in dem Brief nicht ausbuchstabiert, aus der paranoiden Denkweise der Nationalsozialist_innen kann jedoch geschlossen werden, dass gerade in dieser imaginierten unsichtbaren und damit auch unberechenbaren Bedrohung aus den eigenen Reihen eine besondere Gefahr gesehen wurde.[9] Die Vehemenz, in welcher der Brief geschrieben wurde, erklärt sich auch daraus, dass es sich in der Logik des Schreibenden um eine „Schicksalsfrage“ handelt. Von der eingeforderten eiligen Entscheidung hänge es ab, ob die vom Autor fabulierte Unterwanderung aufgehalten werden könne.
Zwar kann auf Grundlage des Briefes keineswegs eine generelle Position innerhalb der Kirchengemeinde abgelesen werden, aufgrund der Stellung der „Deutschen Christen“ zu und im NS-Regime kann jedoch zumindest eine gewisse Verbreitung wie auch Wirkmächtigkeit der Inhalte angenommen werden. Erkennbar wurde, dass ein signifikanter Teil der evangelischen Christ_innen eine „judenfreie“ Kirche zu etablieren und den Christen jüdischer Herkunft den letzten potentiellen Schutzzusammenhang zu nehmen versuchten. Aus dem Brief lässt sich aber auch ablesen wie die nationalsozialistische Judenverfolgung funktionierte. Diese war nicht lediglich von einzelnen Funktionär_innen angeordnet, sondern funktionierte gerade durch die aktive und sich überbietende Teilnahme Einzelner. Insbesondere aus dem Selbstverständnis, in welchem der vorliegende Brief geschrieben wurde, lässt sich ablesen, wie diese sich dabei als Vollstrecker_innen eines Volkswillens inszenierten und fühlten. Angesichts des Datums des Briefes – folglich zehn Tage nachdem mit dem ersten Deportationszug 1251 Berliner Jüdinnen und Juden in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) gebracht wurden– kann in dem Brief demgemäß nicht nur eine klare Kampfansage an die „Judenfreunde“ innerhalb der evangelischen Kirche gesehen werden. Vielmehr muss in diesem ein Plädoyer eines kirchenpolitischen Akteurs für eine allumfassende „Lösung der Judenfrage“ gesehen werden.
Literaturliste:
Gailus, Manfred (2008). Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen
Hetzer, Tanja (2012). Deutsche Christen. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 5. Organisationen, Institutionen, Bewegungen. De Gruyter GmbH. Berlin, S. 145-147
Karlsböck, Tanja/Eidherr, Armin (o.J.). Marranos. In: Handbuch Jüdische Kulturgeschichte. Online abrufbar unter http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/marranos/, zuletzt abgerufen am 11.07.2021
Krogel, Wolfgang (2008). Einleitung. In: Frisius, Hildegard e.a. (Hrsg.): Evangelisch getauft – als Jude verfolgt. Spurensuchen Berliner Kirchengemeinden. Wichern Verlag. Berlin, S. 13-27
Lachenicht, Gerlind (2013). Kampf für rassisch Verfolgte: Die zwei protestantischen Lehrerinnen Margarte Draeger und Elisabeth Schmitz. In: Lachenicht, Gerlind e.a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus. Wichern-Verlag GmbH. Berlin, S. 66-84
Radosh-Hinder, Silke (2013). Staat und Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Taufe. In: Lachenicht, Gerlind e.a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus. Wichern-Verlag GmbH. Berlin, S. 47-65
[1] vgl. Lachenicht 2008, S.66ff.
[2] Vielmehr sprechen viele Historiker_innen von einer kirchlichen Amtshilfe (Gailus 2008) oder der Mitwirkung der Kirchen bei der Durchsetzung der rassepolitischen Ziele des NS-Staates (Krogel 2008, S.14).
[3] Vgl. z.B. Radosh-Hinder 2013, S.47ff.
[4] Evangelisches Landeskirchliches Archiv, Quellensignatur ELAB 14/957
[5] Die „Nationalkirchliche Einung – Deutsche Christen“ (auch: „Nationalkirchliche Bewegung“, bzw. „Einigung Deutscher Christen“) war eine 1938 entstandene und besonders radikale Gruppe innerhalb der nationalsozialistischen kirchenpolitischen Fraktion der „Deutschen Christen“. Sie vertrat ein „völkisches Christentum“ und gründete 1939 das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Ziel war es das Christentum zu „entjuden“, womit unter anderem die Entfernung aller Christ_innen jüdischer Herkunft aus den Kirchengemeinden gemeint war (vgl. Hetzer 2012, S.145ff.).
[6] Bei dem Autor handelt es sich wohl um Dr. Robert Schwellenbach. Eine verifizierende Personenrecherche konnte hier leider nicht vollzogen werden. Aus dem Brief geht jedoch hervor, dass er in Vertretung des, zu dieser Zeit offenbar zum Heeresdienst eingezogenen, Leiters der Landesgemeinde handelte und womöglich als stellvertretender Leiter fungierte.
[7] Ob und gegebenenfalls wie die Adressierten auf das Schreiben der „Nationalkirchlichen Einung“ reagierten ist unbekannt und konnte im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden.
[8] Wer der vom Autor Angesprochene sein könnte bleibt unklar. Es könnte sich jedoch um Friedrich Julius Stahl handeln, der als Kind jüdischer Eltern zum Christentum konvertierte und Mitte des 19.Jahrhunderts Mitglied des altpreußischen evangelischen Oberkirchenrats war (https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Julius_Stahl).
[9] Als historische Referenz kann auf die „Conversos“ verwiesen werden. Die iberischen Jüdinnen und Juden, die zum Christentum konvertierten, vielfach aber auch zwangsgetauft wurden, standen absurderweise insbesondere wegen ihrer erfolgreichen Integration in die Mehrheitsgesellschaft unter Verdacht ihre alte Religion weiterauszuüben und die christliche Gesellschaft von innen zu unterwandern (vgl. Karlsböck/Eidherr o.J.).