von Christine Stier
Schuld und Aufarbeitung in der evangelischen Kirche
Niemals zählte eine Partei in Deutschland mehr Mitglieder als die NSDAP. Von 1929/30 wählten immer mehr Deutsche die anfangs noch kleine Splitterpartei und traten ihr massenhaft bei, bis sie am Ende des Jahres 1944 fast neun Millionen Mitglieder zählte. (Gailus 2021, 9) Auch wenn sich nicht alle von ihnen aktiv an der Ermordung von Jüdinnen und Juden beteiligten, so bildeten diese Deutschen das Fundament und die Legitimation für die NS-Verbrechen. Zudem konnten viele Parteimitglieder auch nach dem Krieg in Beruf und Karriere einfach weitermachen, während das die meisten Opfer nicht konnten.
Es gibt in Deutschland eine breite Aufarbeitung und Erinnerungskultur. Sie fällt jedoch mitunter zu einseitig aus, jedenfalls dann, wenn wir mit großer Aufmerksamkeit vor allem der Widerstandskämpfer:innen gedenken oder uns voreilig in die Vorstellung einer vollständig geläuterten Nation flüchten. Das gilt gleichermaßen für die evangelische Kirche, die es keinesfalls dabei belassen darf, ihre eigene Vergangenheit nur im Licht Dietrich Bonhoeffers oder der Bekennenden Kirche zu spiegeln. Denn der Nationalsozialismus durchdrang ebenso sehr deren Strukturen, wie sich die Kirche selbst aktiv an der verbrecherischen Politik des Regimes beteiligte. So hat sie beispielsweise ihre Kirchenbücher für die sogenannten Ariernachweise geöffnet und damit der Verfolgung von Menschen jüdischer Abstammung Vorschub geleistet. Die Aufarbeitung dieses Kapitels in der evangelischen Kirche bekommt auch noch heute weniger Gewicht, als es angesichts seiner verheerenden Folgen für die Opfer angemessen wäre.
Karl Themel – vom Geistlichen zum Handlanger des NS-Regimes
Exemplarisch lässt sich mangelndes Schuldbewusstsein sowie eine defizitäre Aufarbeitung an dem Berliner Pfarrer Karl Themel (1890 – 1973) verdeutlichen. Dieser ist ein Musterbeispiel für einen nationalsozialistischen Christen, „dessen NS-Gläubigkeit im Laufe der Hitlerzeit stetig anwuchs und seine ererbten christlichen Glaubensanteile mehr und mehr verdrängte.“ (Gailus 2021, 94).
Schon im April 1932 trat Themel der NSDAP bei und gehörte im gleichen Jahr zu den führenden Gründungsmitgliedern der Deutschen Christen (DC). Seine Zustimmung zum Nationalsozialismus ist durch mehrere seiner Predigten, Artikel und Reden belegt. Außerdem zeichnete er sich schon vor 1933 als ein ungewöhnlich umtriebiger kirchlicher Aktivist aus, der sich auf vielen Gebieten weit über seine Kirchengemeinde hinaus betätigte. Seine große Aktivität, die ein hohes Maß an Arbeitsenergie verrät, schuf zahlreiche Querverbindungen und eröffnete ihm immer wieder neue Karrierechancen – persönliche Verbindungen zum „Reichsbischof“ Ludwig Müller und seine Zusammenarbeit mit Parteigenossen aus kirchlichen und staatlichen Institutionen. Manfred Gailus beurteilt das Ausmaß seiner Identifikation mit dem Nationalsozialismus als so weitgehend, dass sie im Zweifelsfall seine kirchlichen Bindungen und Verpflichtungen dominierte.
Durch Schreiben vom November 1934 bot er dem „Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern“ (zukünftige „Reichsstelle für Sippenforschung“) seine Mitarbeit an, dabei verwies er auf seine vielfältigen Qualifikationen als Historiker und Familienforscher, auf seine Vertrautheit mit den Berliner Kirchenbüchern, auf seine Partei- und DC-Verdienste und schließlich auf seine Kenntnisse „über Erblehre und Rassenkunde“. Explizit formulierte er den Wunsch, seine Kraft ehrenamtlich dem NS zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Kontakt entwickelte sich seit 1935 eine enge Zusammenarbeit zwischen Themel und einigen weiteren Parteigenossen und der durch den Historiker und fanatischen SS-Obersturmführer Kurt Mayer geleiteten „Reichsstelle für Sippenforschung“. Gemeinsam war ihnen das Ziel, die in den Berliner Kirchenbüchern enthaltenen familiengeschichtlichen Daten für die Zwecke nationalsozialistischer Rassenpolitik vollständig und systematisch verfügbar zu machen. 1936 war Themel Leiter der offiziell eingerichteten „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“ und in dieser Funktion maßgeblicher Akteur für eine staatlich-kirchliche Zusammenarbeit, die für die von antisemitischer Ausgrenzung Betroffenen schwerwiegende Folgen hatte. 1941 verfasste Themel eine Bilanz der Tätigkeit der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, in der er sich rühmt, dass in 2612 Fällen eine jüdische Abstammung entdeckt zu haben. (Gailus 2021, 93)
Eine Tendenz zu völkischen und antibolschewistischen Gedankengut lässt sich in Themels Lebenslauf bereits früh feststellen. In Verbindung mit einem ausgeprägten Karrierebewusstsein und die durch den politischen Umbruchbegünstigte Situation zu einem schnellen beruflichen Aufstieg, ist auch Themels Täter-Biografie nur eine unter vielen, wie man sei in der NS-Zeit beobachten kann. Doch was ist von der bewussten Anbiederung an den NS-Staat, den Themel bereits seit den frühen 1930er Jahren unternahm, nach 1945 übrig geblieben?
Aufarbeitung durch die Nachkriegskirchenleitung
Anhand eines Archivdokuments aus den frühen Nachkriegsjahren, mit der Anfrage des „Evangelischen Konsistoriums der Mark Brandenburg“ betreffend der Kirchenbuchstelle Alt Berlin an Karl Themel, wird nachvollziehbar, wie der ehemalige Leiter seine Rolle als treibende Kraft herunterspielte und die Tatsachen angesichts der veränderten politischen Situation zu seinen Gunsten beschönigte.
Mit dem Schreiben vom 1. Oktober 1946, welches das Konsistorium an Karl Themel mit Bitte um Antwort und Stellungnahme richtet, wird Themel zweifelsfrei als Leiter der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin während der nationalsozialistischen Herrschaft bezeichnet, der dem Großteil seiner „Zeit und Arbeitskraft diesem Amt widmete“. Das Konsistorium zweifelt also zu diesem Zeitpunkt keineswegs an Themels damaligen Engagement für dieses Amt. Es bittet ihn lediglich um Auskunft über die Struktur und Beschaffenheit der Kirchenbuchstelle und die genaue Beschreibung seiner Funktion und der zugehörigen Amtsbefugnisse als deren Leiter. Zudem möchte es wissen, wer Themels amtlicher Vertreter gewesen ist, wer diesen dazu bestellt habe und wer für das Personal zuständig gewesen sei und Entscheidungen über Anstellungen getroffen habe.
Themel beantwortet diese Anfrage, die ihn scheinbar erst Anfang 1947 erreicht, etwa drei Monate später mit einem für diesen Sachverhalt recht knappen Schreiben, indem er behauptet: „Meine Aufzeichnungen und Papiere sind vermutlich verbrannt, sodaß ich nur nach meinen Erinnerungen berichten kann.“ Zudem gestalteten sich, seiner Aussage nach, deutliche Antworten auf die Anfrage des Konsistoriums als schwierig, „da die Verhältnisse (…) in den verschiedenen Zeiten verschieden waren.“
Er beschreibt die Einrichtung der Kirchenbuchstelle als einen Wunsch des Archivamtes des Evangelischen Oberkirchenrats. Er selbst sei in den Ausschuss der Initiatoren gewählt worden, weil er „unter den anwesenden (sic!) der beste Kenner der Berliner Kirchenbücher war“ und von 1923 bis 1933 in seiner „Freizeit systematisch genealogische Forschungen betrieben hatte.“
Ganz so fremdbestimmt, wie Themel es darstellt, kam er allerdings nicht in diese Position. 1934 gab es einen Bruch in seiner bis dahin kirchlich-nationalsozialistischen Karriere: Er verlor in diesem Jahr die Reichsführerschaft bei der Inneren Mission (die heutige Diakonie) und seine Stelle beim Evangelischen Männerwerk. Genau an diesem Punkt bot er in einem Brief an die Reichsstelle für Sippenforschung seine Mitarbeit an. Anfangs allerdings ganz ohne die Legitimation des Evangelischen Oberkirchenrats, bildete Themel 1935 eine kirchliche Vorbereitungsgruppe und blieb in dieser Zeit in engem Kontakt mit der Reichsstelle für Sippenforschung, um über die Entwicklung seiner Arbeit zu berichten. (Gailus 2015, 203f.)
Am 12. Dezember 1936 wurde die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin feierlich eröffnet, die Themel als nebenamtlicher Leiter führte. Als seinen Stellvertreter hatte er den SS-Mann und befreundeten Parteigenossen Henry Baer eingesetzt. Die Mitarbeitenden rekrutierten sich vor allem aus kirchlichen Parteigenoss:innen, in Themels Worten stammten sie überwiegend „aus den Kirchengemeinden, deren Kirchenbücher abgegeben und verkastet (sic!) waren“. Die Richtlinien für die Verkartung der Kirchenbücher als Grundlage für die systematische rassenpolitische Auswertung, arbeitete Themel selbst aus, so beschreibt er es auch gegenüber dem Evangelischen Konsistorium. Die Überwachung der Arbeit erfolgte durch seinen Stellvertreter und durch ihn selbst, „soweit mein Pfarramt mir Zeit ließ“, denn bis zum 30. Juni 1942 arbeitete er als hauptamtlicher Pfarrer der Luisenstadtgemeinde. (Gailus 2015, 207).
Themel betont an mehreren Stellen, dass seine Tätigkeit für die Kirchenbuchstelle nur nebenberuflicher Art sei und dass sein Stellvertreter sowie die Sachbearbeiter überwiegend selbstständig arbeiteten.
„Ich griff nur in Beschwerdefällen und möglichst wenig ein, um die Arbeitsfreudigkeit meiner Mitarbeiter nicht zu lähmen. Da ich im Höchstfall 2-3 Stunden im Betrieb anwesend war habe ich auch meinem Stellvertreter, der sehr gewissenhaft und zuverlässig war, in seinen Anordnungen weitgehend Selbstständigkeit gelassen.“
Der Überzeugung des Konistoriums, dass Themels Einsatz vor allem der Arbeit in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin galt, widerspricht er vehement:
„Die im dortigen Schreiben vom 7.1.1947 vertretene Auffassung, daß ich den weitaus größten Teil der Zeit und Arbeitskraft diesem Amt gewidmet habe, ist unrichtig.“
Faktencheck und Verdachtsmomente
Faktisch gesehen, muss sein dortiges Engagement jedenfalls ausgereicht haben, dass er im Jahr 1938 eine Beförderung zum nebenamtlichen Konsistorialrat mit dem Referat Kirchenbuch und Archivwesen erhielt und damit eine Leitungsposition im Konsistorium innehatte. (Gailus 2015, 107) Überhaupt lässt sein Verhalten während der NS-Zeit einen ganz anderen Schluss zu, als seine Selbstauskunft suggerieren will: Karl Themel gab sich eigentlich nie zufrieden mit dem einfachen Pfarramt in seiner Gemeinde. Seine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen völkischen und NS-nahen Vereinen lässt vermuten, dass der langjährige Pfarrer seine Zukunft im staatlichen Dienst sah, während sein Amt in der Luisenstadt-Gemeinde ihm wahrscheinlich in erster Linie ein festes Einkommen sichern sollte.
Auffällig sind seine frühe und intensive Beschäftigung mit Themen der sozialen Aufgaben von Kirche, aktuelle Fragen der sozialen Gesetzgebung in Deutschland und des Sozialismus. Seit 1931 war er nebenamtlicher „Sozialpfarrer“ von Berlin. Zudem engagierte er sich an vorderster Stelle im kirchlichen Kampf gegen die Freidenkerbewegung und die Arbeiterparteien. In den letzten Jahren der Weimarer Republik profilierte er sich als Antibolschewismusexperte und verfasste in diesem Kontext kirchliche Schulungsbroschüren wie „Lenin anti Christus“ (1931) – „Aufklärung einer verführten Arbeiterschaft“. Nach eigenen Angaben kam er in diesen Jahren mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus in Berührung.
Im April 1942 engagierte er sich zudem in der „Arbeitsgemeinschaft für die ausländischen Arbeiter auf Berliner Friedhöfen“, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem Arbeitskräftemangel auf Gemeindefriedhöfen durch den Einsatz von Zwangsarbeitern abzuhelfen. (Erinnerungsorte gestalten. Gedenkstätte für die NS-Zwangsarbeiter des kirchlichen Friedhofslagers Berlin-Neukölln, 2.Aufl. 2014)
Der Umgang der Nachkriegskirchenleitung mit Karl Themel – eine Rehabilitierung?
Am 2. Dezember 1948 hatte die Berliner Kirchenleitung entschieden, Karl Themel aus dem Amt zu entfernen, doch das Berufungsverfahren kam etwa ein halbes Jahr später zu einem viel milderen Urteil und ließ die Versetzung des Pfarrers in ein anderes Amt zu. Die Begründung dieses Urteils verdeutlicht, dass die Kirchenleitung nicht über alles Bescheid wusste, was Themel als nebenberuflicher „Sippenforscher“ in der NS-Zeit betrieb, „ (…) und zwar aus einer vielfach zu beobachtenden Mischung aus Nichtwissenkönnen und Nichtwissenwollen“, wie Manfred Gailus urteilt. (Gailus 2001, 447) Nach Kriegsende wurde Themel also zunächst disziplinarisch zurückgesetzt, konnte sein Amt als Pfarrer aber weiter fortführen. Nach seinem Übertritt in die Pensionierung übernahm er die ehrenamtliche Stelle als Archivleiter und Experte für Kirchenbuchwesen im Raum der Kirche Berlin-Brandenburgs. (Vgl. Gailus 2021, 93f.)
Wie war es möglich, dass Karl Themel angesichts seiner Arbeit für das NS-Regime im Amt bleiben durfte und auch nach dem Krieg eine Karriere machen konnte? Was tat die Nachkriegskirchenleitung in diesem Fall und warum entschied sie sich nicht für eine dauerhafte Amtsenthebung des ehemaligen Leiters der Kirchenbuchstelle?
Der Historiker Gailus ist der Ansicht, dass die kirchliche Leitung hinsichtlich der Person Themels wesentlich mehr hätte unternehmen können. Schon eine Befragung der Mitarbeitenden des Konsistoriums hätte ausgereicht, Entscheidendes über die Vergangenheit des Pfarrers in Erfahrung zu bringen. Dass Themel ein deutlicher Anhänger des nationalsozialistischen Regimes war und karrierebewusst genug, sich dem NS-Staat auch außerhalb des kirchlichen Amtes anzudienen, lässt sich zudem anhand seiner Biografie ohne weiteres nachverfolgen.
Literatur
Gailus, Manfred, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder Verlag, Freiburg 2021.
Gailus, Manfred, Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933-1945, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Böhlau Verlag, Köln 2001.