„Stimmen aus Tschernobyl | Chronik der Zukunft“ Eine theatralisch-musikalische Auseinandersetzung mit Swetlana Alexijewitschs Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“
von Dr. Tatjana Lischitzki
Unter den vier Schauspielern war auch unsere Kursteilnehmerin Katja Tannert. Von ihr bekam ich auch die Information über die Veranstaltung, die im Januar im ehemaligen Frauengefängnis in Berlin-Lichterfelde viermal stattgefunden hat. Am Freitag, 20.01.2017, war ich nach einem langen Arbeitstag (8-12 Uhr Unterricht, 13-15 Uhr Weiterbildung…) um 19 Uhr in der Söhtstraße 7, wo es gleich draußen auf dem Hof losging…
Tränentreibend und herzzerreißend erklang ein Klagegesang aus einem erleuchteten Fenster von einer Frau ganz in weiß. Da ich das Buch von Swetlana Alexijewitsch gelesen habe, schien es mir, als ertönten die Stimmen aus dem Buch, klagende, liebende, verzweifelte… Stimmen. Auf dem Baum saß „unsere“ Katja, auch ganz in weiß, und sagte, dass alles weiterginge fast wie bisher: die Bäume um einen herum, der blaue Himmel… Radioaktivität kann man weder schmecken, noch riechen, geschweige denn sehen…
Wir wurden weiter geleitet in ein Nebengelass, dort wurde Klavier und Saxophon unter einer weißen Plastikplane von ebenfalls in weiß gekleideten Musikern gespielt und eine Frau rezitierte den Text aus dem Buch. Es war eine der Frauen, die ihre Ehemänner die wenigen Tage („vierzehn Tage stirbt der Mensch…“) trotz Verboten ständigen Ermahnungen gepflegt haben: „Es ist nicht dein Mann! Das ist hochradioaktives Material!“
Die Frau war schwanger… Ein Mädchen… Totgeboren… Begraben beim Vater in Moskau auf dem Ehrenfriedhof…
In den Gängen, in den Zellen und im Aufenthaltsraum ging es genauso erschütternd traurig weiter. Ich erkannte jede Stelle aus dem Buch… Sie wurden sehr sorgfältig gewählt und hatten ihre unverfehlbare Wirkung. Meine Freundin (ebenfalls Betroffene wie ich: sie aus der Ukraine, ich aus Weißrussland) musste wie ich weinen, so wie auch einige der anwesenden Männer unter den Zuschauern…
Am Ende sprach ein Physiker, der Vorsitzende der Gesellschaft für Strahlenschutz. Er nannte schreckliche Zahlen des Ausmaßes der Havarie und die Versuche der offiziellen Stellen das Ganze zu verheimlichen… Betroffene wissen aber, dass das nicht stimmt! Daher möchte ich alle aufrufen sich dieses Theaterstück anzuschauen. Die Regisseurin Elzbieta Bednarska (eine Polin, nahe der Grenze zu Weißrussland aufgewachsen) gab der Hoffnung Ausdruck, dass das Stück möglicherweise im April wieder aufgeführt wird. Das muss jede/r gesehen haben!!! Tiefe Verneigung vor der Leistung der Regisseurin, der SchauspielerInnen und MusikerInnen. Ich habe noch nie etwas vergleichbar Ergreifendes gesehen.