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Wenn eine „Vermögenserklärung“ zum stillen Protest wird

von Sina Drews

Jude? ja. Konfession: evangelisch.

Was Gertrud Löhmer fühlte, als sie diese Angaben 1943 in Gestapohaft machen musste, kann ich heute nur erahnen. Ich sitze im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam und halte das Papier in den Händen, vor dem sie sich lange gefürchtet haben muss.[1] Denn eine sogenannte „Vermögenserklärung“ zu erhalten, hieß in den Jahren 1941 bis 1945 in aller Regel nur eins: die bevorstehende Deportation. Das 16-seitige Dokument, das ich vor mir liegen habe, ist ein Medium, das mir die Verfasserin heute ein Stück näherbringt und einen persönlichen Einblick in ihre damalige Situation geben kann.

Dr. Gertrud Löhmer, geborene Selig, unterzeichnete ihre Vermögenserklärung, die sie gemeinsam mit der „Verfügung über die Einziehung ihres gesamten Vermögens“ erhalten hatte, am 20. Januar 1943. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt – wie die Zustellungsurkunde bezeugt[2] – in der Großen Hamburger Straße 26, einem Gebäude, in dem sich einst eine jüdischen Knabenschule und ein Altersheim befunden hatten. In dem dort eingerichteten Sammellager („Judenlager“) der Gestapo wurden in den Jahren 1942 bis 1944 als Jüdinnen und Juden verfolgte Menschen zusammengepfercht und in diverse Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Gertrud Löhmer, eine von diesen Menschen, wurde am 29. Januar 1943 mit dem 27. Osttransport nach Auschwitz gebracht und dort von den Nationalsozialisten ermordet.[3] Zwischen dem Ausfüllen der Vermögenserklärung und ihrer Deportation lagen neun Tage.

Eine bürokratische Plünderung

Um das zurückgelassene Eigentum der deportierten Menschen zu erfassen, zu enteignen, zu verwalten und zu verwerten – mit anderen Worten zu plündern –, verwendeten die Nationalsozialisten Vermögenserklärungen, welche von den Verfolgten oft als „Listen“ bezeichnet wurden. Damit eine bürokratisch genaue Bestimmung des jüdischen Restvermögens aufgestellt werden konnte, sollten alle Männer, Frauen und selbst Kinder eine gesonderte Erklärung abgeben. Zu den geforderten Angaben zählten solche zur Person, zu Ehegatten und Kindern, zu dem „gesamten Vermögen im In- und Ausland“ und wie genau es zusammengesetzt ist (Liegenschaften und Forderungen). Es sollten außerdem jegliche Gegenstände des noch vorhandenen Wohnungsinventars, jedes Kleidungsstück, jedes Kunstwerk und jeder andere Wertgegenstand aufgelistet werden. Abschließend wurde auf den Formularen nach gewerblichem Eigentum sowie Passiven (Schulden und Verpflichtungen) gefragt.

Zu Beginn der Deportationen im Jahr 1941 erfolgte der Erhalt einer Vermögenserklärung kurz nachdem den Verfolgten die Wohnung gekündigt wurde. Daneben erhielten sie unter anderem ein Benachrichtigungsschreiben, welches ihnen einen konkreten Termin nannte, an dem sie sich bereitzuhalten hatten.[4] Da eine bevorstehende Deportation nun sicher war, führte der einzige Ausweg in dieser Ausweglosigkeit für einige Menschen, die zur Deportation bestimmt waren, nur noch in ein Leben in Anonymität oder in den Selbstmord. 1942 wurde das Verfahren geändert, die Übergabe der Formulare erfolgte fortan erst im Sammellager, wo das Einsammeln der ausgefüllten Vermögenserklärungen von einem anwesenden Gerichtsvollzieher übernommen wurde, der sie an den zuständigen Gestapobeamten vor Ort überreichte.[5]

Keine Angabe, nur vier lange Striche

Gertrud Löhmer gehörte zu den Menschen, die keine Zeit hatten, sich auf ihre Deportation vorzubereiten oder sich ihrem fremdbestimmten Schicksal zu entziehen. Sie erhielt ihre Erklärung erst, nachdem sie ihre Einzimmerwohnung in Friedenau, in der sie seit Oktober 1942 alleine gewohnt hatte, bereits verlassen musste. Über die vier Seiten, welche zur Auflistung von „Wohnungsinventar und Kleidungsstücke[n]“ dienen sollten (S. 8–11), zog sie vier lange Striche. Ganz oben notierte sie: „Die Möbel sind von meinem arischen Mann meiner Nichte versprochen.“

S. 8

Indem sich Gertrud Löhmer weigerte ihren Besitz aufzulisten, können ihre Worte als ein stiller Protest gegen die erniedrigende Praktik des NS-Regimes gelesen werden. Ihre Haltung steht zwischen den Zeilen, ohne dabei etwas von der Eindrücklichkeit zu verlieren. Sie sind der mutige Versuch, sich in einer bereits aussichtslos erscheinenden Situation der Aufforderung zu entziehen, bei der eigenen Ausplünderung mitzuwirken.

Den Glauben dennoch sichtbar machen

Die Absurdität der nationalsozialistischen rassistischen Ideologie zeigt sich besonders deutlich in Gertrud Löhmers Angaben auf die Fragen nach jüdischer „Rasse“ und Konfession. Löhmer hatte sich am 18.11.1938 in der Segensgemeinde[6] im Prenzlauer Berg von Pfarrer Wilhelm Knieschke taufen lassen und war somit Christin. Hätte sie nicht in einer Zeit gelebt, in der jüdisch oder christlich zu sein nicht mehr als eine Sache des Glaubens, sondern des biologischen Erbes angesehen wurde, hätte sie nach ihrer christlichen Taufe auf die Frage „Jude?“ mit „nein“ antworten können. Auch wenn sie dies in ihrer Vermögenserklärung nicht tat, machte sie ihren Glauben dennoch sichtbar: Unter Konfession gab Gertrud Löhmer „evangel.“ an.

Nachdem sie fein säuberlich Ort und Datum auf der letzten Seite der Erklärung eingetragen hatte, setzte sie ihre Unterschrift – samt Zwangsnamen „Sara“ – vermutlich zum letzten Mal in ihrem Leben auf ein Dokument. Ob sie dies absichtlich unter den dafür vorgesehenen Strich tat? Auch das kann ich heute nur erahnen.

S. 16

[1] Vgl. Landeshauptarchiv (BLHA): Rep. 36 A (II), Nr. 23889, Vermögenserklärung. Online einsehbar unter: https://dfg-viewer.de/show/?tx_dlf[id]=https%3A%2F%2Fblha-digi.brandenburg.de%2Frest%2Fdfg%2Fxml%2FQCqDtgbYNPCvNFiz [aufgerufen am 21.02.2024].

[2] Ebd.

[3] Dr. Gertrud Lömer née Selig. In: Mapping the Lives. Unter: https://www.mappingthelives.org/bio/0f63933c-92c6-4ef3-b70c-400ab46fdc00 [aufgerufen am 21.02.2024].

[4] Vgl. Dinkelaker, Philipp: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42, Berlin (2017), S. 54.

[5] Vgl. Nakath, Monika: Aktenkundig: „Jude!“: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Brandenburg 1933–1945. Vertreibung –Ermordung – Erinnerung, Berlin (2010).

[6] Zeitzeugen zufolge haben die Taufen von Menschen jüdischer Herkunft zu dieser Zeit in der benachbarten Messiaskapelle stattgefunden, die organisatorisch der Segensgemeinde angebunden war. Dort befand sich von 1902 bis zur erzwungenen Schießung 1941 der Sitz der 1822 gegründeten „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ („Berliner Judenmission“). Vgl. Lachenicht, Gerlind: Evangelische Gemeinden recherchieren über Christen jüdischer Herkunft. Einige Zwischenergebnisse. In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, 66 (2007), S. 188–232, hier: S. 206.


Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.

Über die Autorin Sina Drews studiert Religion und Kultur im Master an der theologischen Fakultät der HU Berlin.

27. Mai 2024 | Veröffentlicht von Sina Drews
Veröffentlicht unter Allgemein

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