Vorurteil kommt vor dem Fall

Also ich lästere ja nicht über andere Leute. Jedenfalls nicht laut. In jedem Fall nicht direkt vor der belästerten Person. Das gehört sich nämlich nicht, zeugt von schlechten Manieren und wenig Einfühlungsvermögen. Es könnte aber durchaus sein, dass das nicht immer so war. Ich würde also unter Umständen, wenn man mir die Pistole auf die Brust setzte und mir keine Wahl bliebe, zugeben, dass ich wahrscheinlich früher das ein oder andere Mal gelästert habe, ohne die Diskretion des räumlichen Abstands. Aber früher war man noch jung und ohne Schamgefühl. Wie die beiden jugendlichen Mädchen, denen ich gestern an der Bushaltestelle begegnen musste. Mögen sie 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein, vielleicht auch erst 12; so genau kann das heute ja kein Mensch mehr abschätzen. Abschätzen konnten die beiden allerdings exzellent. Eng zusammenstehend, in hippe, ihre verformten Kniestellungen offenbarenden Longsleeve-Pullis gehüllt, ihre bis zum Bersten mit Kosmetika und orangensaftgetränkten Wattepads gefüllten Handtaschen kokett in der Ellenbeuge haltend, entdeckten sie mich just beim Überqueren der Straßenseite. Zumindest die eine entdeckte mich. Sie versuchte ihre Begleiterin unauffällig auf mich aufmerksam zu machen. Nur ist unauffällig in diesem Alter ein sehr dehnbarer Begriff und so drehte sich die Beflüsterte der beiden Damen in meine Richtung, scannte mich im Bruchteil einer Sekunde von oben bis unten ab – das wiederum ist ein Talent der Jugend – und stieß ein lautes Quieken aus: „Die!?“. Soviel zu unauffällig.
Fantastisch, dachte ich für einen Sekundenbruchteil. Aber dann gaben mir die Jahre meines Alters Souveränität und mein Blick heftete sich unerbittlich auf die beiden Mädchen, die einfach zu blöde und zu laut waren, um sozial verträglich zu lästern. Ertappt und erpicht darauf, sich hintereinander zu verstecken, versuchten sie so unschuldig und unauffällig wie möglich auszusehen. Dachten die denn, ich war bescheuert? Kopfschüttelnd und auch ein bisschen erbost über so viel Unvermögen und Frechheit ging ich an ihnen vorbei. In der plötzlichen Erinnerung an mein jugendliches Unvermögen von früher musste ich jedoch fast lachen. Als ich im gläsernen Wartehäuschen Position bezogen hatte, musste ich mit Erstaunen, das beinahe an Entsetzen grenzte, beobachten, wie eine der Gören plötzlich in meine Richtung steuerte. Und zwar sehr zielgerichtet. Fassungslos hoffte ich auf einen Vogelschiss oder einen Hundehaufen, der sie von mir ablenken würde, aber vergebens. Als sie vor mir stehen blieb, setzte ich unweigerlich meinen härtesten und arrogantesten Blick ein. Normalerweise pulverisiert er Menschen. Das Mädchen brachte er dazu, den Mund zu öffnen und mich schüchtern zu fragen: „Meine Freundin und ich fragen uns, wo sie die Stulpen gekauft haben, die Sie gerade tragen. Wir sind schon seit Wochen auf der Suche nach genau solchen.“
Ach so. Na das konnte ja keiner ahnen.
Auf vielfachen Wunsch veröffentlichen wir hier die vier weiteren Siegergeschichten unseres Schreibwettbewerbs.
von Anne Schröder

17. Januar 2011 | Veröffentlicht von ehemaliges Mitglied
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