Jedes Jahr, wenn der erste Weihnachtsbaum in der Stadt auftaucht, frage ich mich ängstlich: den wievielten haben wir eigentlich? Habe ich noch Zeit, mir wegen fehlender Geschenkideen Sorgen zu machen, habe ich noch Zeit, mein Flugzeug zu buchen, damit ich die Feiertage mit meiner Familie verbringen kann, habe ich noch Zeit, 5 Kilo abzunehmen, damit ich beim Festmahl ohne Gewissensbisse alles probieren und genießen kann?
Mein Kalender beruhigt mich jedes Jahr mit zunehmenden angenehmen Gefühlen: Jahr für Jahr stellt es sich nämlich heraus, dass es noch ein uferloses Meer von Zeit bis zur Feier gibt. Diese Zeit vermehrt sich wie das Brot und die Fische unter den Segenworten Jesu. Die Weihnachtsbäume schleichen sich schon im November in unsere Städte ein und vermutlich kommt irgendwann die Zeit, dass sie schon Mitte September da sein werden. Ihr Verhalten finde ich sehr sympathisch, dient ihr frühes Kommen doch dem allgemeinen Wohl der Stadtbewohner. Niemand soll zwei Tage vor Heiligabend mit unerträglichen Kopfschmerzen aufwachen müssen, deren Ursache ein unheimliches Gefühl ist, das sich im Wintergrauen allmählich konkretisiert und die sogenannte Geschenkangst hervorruft. Nein, dies muss nicht sein. Die Weihnachtsbäume sind schon früher da, um unsere gebückten Rücken aufzurichten und uns die gute Nachricht der ausreichenden Zeit mitzuteilen. Die Weihnachtsbäume, diese modernen Engel Gottes, führen uns wie der Stern einst die verwirrten Weisen zum gedeckten Tisch, wo alle mit einem entspannten Lächeln auf ihren Gesichtern die perfekt ausgewählten Geschenke auspacken und dann höchst zufrieden das Festessen weiter genießen…könn(t)en.
Als ich heute, am 26. November, einer alten Frau beim Treppensteigen geholfen habe, verabschiedete sie sich von mir mit den Worten: Vielen Dank und frohe Weihnachten! Worauf ich ein freundliches „Danke, gleichfalls!“ antworten wollte, aber die plötzlich eintreffenden Magenschmerzen verzerrten mein Gesicht, weswegen ich lieber ohne Antwort weggelaufen bin. Seitdem treibe ich mich in der Stadt wie ein verlorener Bote herum und suche nach einer Botschaft, die ich mit dem Glückwunsch der „Frohen Weihnachten“ weitergeben sollte. Die bekannten, aber schon verfremdeten Sätze vom Kommen des Friedens und von unerschöpflicher Freude widerspiegeln sich in Weihnachts-CDs amerikanischer Stars, in der extra Liebeslieder-Musik der Kaufhäuser und in den Kreditangeboten der Banken. Ein Gefühl erwacht in mir und wächst, bis es mich packt und ich schwebe schon über die Straßen mit einem heiligen Lächeln auf meinem Gesicht, ähnlich der Jungfrau Maria nach dem Empfang des Erzengels, bis mir die Begegnung mit einer zugefrorenen Pfütze die Realität in Erinnerung ruft.
Auf der Straße liegend wird mir klar, dass ich eigentlich tierische Angst habe. Angst davor, dass ich keine Idee haben werde, was ich meiner besten Freundin schenken soll. Angst davor, dass jemand wegen nicht erhaltener Weihnachtspostkarten beleidigt sein wird. Eigentlich habe ich die größte Angst vor dem Treffen mit meinen Eltern, dass die ganze endlich losgewordene Kindheit am Festtisch hochkommt und wir unsere Wörter gegen den Kopf des Anderen hauen, wie damals in der Mensa mit dem Essen umgegangen wurde. Es wäre viel gesünder, die Suppe über den Kopf meines Vaters zu kippen und meinen nervenden, verwöhnten Bruder mit Kartoffelpüree zu beschmeißen, als in schön verpackten Wörtern die eigene frustrierte Seele sich herumtreiben lassen. Ich habe Angst, dass ich überhaupt nicht lieben kann. Die ganze Weihnachtsvorbereitung mit ihrem klebrigen Duft und ihrer Kuscheltier-Atmosphäre droht mit dem Zeigefinger und verlangt von mir Liebe zur Menschheit, Liebe zu meinen Nächsten, aber noch schlimmer: Liebe meiner Familie gegenüber. Die freundlichen Weihnachtsbäume, lachenden Nikolause und geschmackvollen Geschenkpapiere drohen mit der Erkenntnis des eigenen Versagens: Ich bin nicht fähig zu lieben. Kein Wunder, dass ich mit Geschenken die Liebe nicht beweisen kann, nur sie vortäuschen.
Plötzlich befinde ich mich am größten Weihnachtsbaum der Stadt. Neben ihm steht ein Riesenrad, in der Luft schweben gemischte Düfte von Bockwurst, gebratenen Mandeln und Glühwein. Noch 29 Tage. Der Weihnachtsmann lächelt mich an, aber ich sehe hinter seinem Lächeln die Erwartung einer unsagbaren und aufopferungsvollen Liebe. Ich hab aber so etwas nicht. Was soll ich dann verpacken?
Auf vielfachen Wunsch veröffentlichen wir hier die weiteren Siegergeschichten unseres Schreibwettbewerbs.
von Héla Hecker