M. Malvina Petrat
Alle Jahre wieder vermählen sich für einen kurzen Moment zwei Jahreszeiten. Das Liebesspiel ist nur von kurzer Dauer. Während der Herbst sich entblößt und auch die letzte farbig-fetzige Klamotte von sich wirft, nimmt der Winter ihn mit einem eisigen Hauch ein. Der Zimtschneckenverkauf steigt an und alle Welt jammert über erste „Schneeflocken die schräg stehen“ und mühsam herausgesuchte Verkehrsverbindungen, die nicht funktionieren. Der meteorologische Winteranfang und die erste Kältewelle scheinen sich diesmal klar abgesprochen zu haben. Kinderaugen leuchten beim ersten Schneefall, von umsorgenden Eltern in Schneeanzüge gepresst. Meine Wollsocken werden mich in diesem Jahr wohl nicht mehr wärmen, zu viel hat ihnen der letzte Winter abverlangt.
Der eisige Ostwind hier im Westen Berlins, die Dunkelheit des beginnenden Winters, fehlende adäquate Kleidungsstücke oder tiefe Anfälle von Müdigkeit veranlassen mich, meinem nachmittäglichen Spaziergang am Kanal weniger zu frönen oder verhindern, am frühen Abend ein befreundetes Pärchen in Friedrichshain mit dem Fahrrad zu besuchen. Uns scheinen bis zum Frühjahr vier Kilometer und gefühlte -10 Grad zu trennen. Also bleibe ich zu Hause, zünde mir eine Kerze an und warte. Mein Kühlschrank ist gefüllt mit leckeren Dingen und noch kann ich entspannt zum Supermarkt schlendern ohne aufregende Schlitter –und Schlingertanzeinlagen. Werden die Verantwortlichen es dieses Jahr schaffen, rechtzeitig mit der Beseitigung von Schnee und Eis zu beginnen oder werde ich wieder riesige Eisblöcke vor meiner Tür wegbohren müssen, damit Frau Jahnke mit ihrem Rollstuhl durchkommt und am sozialen Leben teilhaben und Lebkuchen im Supermarkt für ihre geliebte Enkelin kaufen kann? Nichts Genaues weiß man nicht.
Die „Kotti-Bewohner“ drängen sich in die verschwindend geringer werdenden Räume der Geldinstitute, vor der beginnenden Kälte flüchtend, einen Moment Wärme erhaschen wollend. „Aus Sicherheitsgründen schließt diese Filiale von 22.00 -06.00 Uhr“ – steht an der Eingangstür. Sicherheitsgründe? Und warum schließt diese Filiale nur im Winter des Nachts ihre Pforten?
Meine Freundin Sophie ruft an und lädt zum ersten Plätzchen backen und meine Familie will wissen, wie ich Weihnachten verbringe. Ich begreife diesen Eifer auch dieses Jahr nicht, schließlich ist noch Zeit. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, verehrte LeserInnen, ich bin kein Weihnachtsmuffel und ja, ich liebe Plätzchen und Schokoherzen und Spekulatius, aber vor wenigen Wochen habe ich noch einen Cidre auf der sonnigen Terrasse meines Lieblingscafés getrunken (in eine Decke gekuschelt, aber immerhin!) und nun soll ich schon entscheiden, ob ich Gans oder Pute zum Fest essen möchte. Das geht einfach nicht! Wenn ich mir überlege, dass vermutlich spätestens Ende Januar die ersten Schokohasen im Supermarkt käuflich zu erwerben sind, dann frage ich mich, ob eigentlich ich oder all die anderen wahnsinnig sind.
Ich mümmle mich tiefer in meine Kuscheldecke. In dem Mietshaus, in dem ich wohne, scheinen auch andere Menschen in Decken gekuschelt zu sein. Es ist so still, dass ich manchmal das Schnarchen vermisse, welches im Sommer durch die geöffneten Fenster hinaus in den Hinterhof drängt. Der SMS-Ton meines Handys holt mich zurück in die Küche, in der ich sitze. „Kommst Du zum Spiele – Abend vorbei?“ fragt mich mein Nachbar Kai. Au ja! Ich zieh meine Puschen an und flitz die zwei Treppen hinunter, eine gute Flasche spanischen Weins in der Hand.
Winter hat was.
Auf vielfachen Wunsch veröffentlichen wir hier die weiteren Siegergeschichten unseres Schreibwettbewerbs.