eine Recherche von Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig
Einleitung
Im Rahmen des diesjährigen Seminars haben wir versucht, mehr über das Leben und die Schicksale der in der Messiaskapelle getauften sogenannten “Christen jüdischer Herkunft” herauszufinden. Mit dieser Bezeichnung waren Personen gemeint, die christlich getauft waren, aufgrund der Nürnberger Gesetze aber dennoch als Juden rassifiziert und somit aus ihren Gemeinden ausgeschlossen und verfolgt wurden. Mindestens 86 der über 700 Jüdinnen und Juden, die zwischen 1933-1940 in der Berliner Messiaskapelle und der Segensgemeinde1 getauft worden sind, wurden in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur zwei von ihnen überlebten. Wir konnten bei unserer Recherche unter anderem auf die Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft aufbauen, die Gerlind Lachenicht im Rahmen der Erinnerungsarbeit der EKBO 2007/2008 zusammengestellt hat2. Weiterhin haben wir die Tauflisten der Messiaskapelle, sowie der Segensgemeinde, erstellt von Lachenicht und einem ehrenamtlichen Team, für unsere Recherche ausgewertet3.

Die “Liste der deportierten Christen jüdischer Herkunft”
Um die individuellen Schicksale dieser Verbrechensgeschichte nachzuvollziehen, griff Gerlind Lachenicht bei ihrer Recherche auf die Taufbücher der Segensgemeinde zurück, in deren Gemeindegebiet die von der “Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden” unterhaltene Messiaskapelle lag. Neben üblichen personenbezogenen Daten wie Name, Geburtsdatum, Taufpfarrer und Taufpat*innen war in diesen ebenfalls die vorherigen Konfessionen der Täuflinge verzeichnet. Mithilfe des Taufbuches war es Lachenicht also möglich zu rekonstruieren, welche der Mitglieder der Segensgemeinde vom Judentum zum Christentum konvertierten4. Durch Publikationen zur Thematik, dem Findbuch der internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sowie über die Suchfunktionen des Gedenkbuchs des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland gelang es ihr herauszufinden, dass 86 der rund 700 konvertierten Christen der Segensgemeinde im Nationalsozialismus als Juden und Jüdinnen verfolgt und in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Von zwanzig der 86 als Juden/Jüdinnen verfolgten Mitglieder der Segensgemeinde sind sowohl Sterbedatum als auch der Sterbeort bekannt. Von zwölf ist nur der Sterbeort bekannt und von vier Gemeindemitgliedern ist lediglich der Todestag bekannt. Von drei Mitgliedern wissen wir, dass sie den Suizid wählten, der immer von tiefer Verzweiflung zeugt und angesichts der drohenden Vernichtung möglicherweise eine Restmöglichkeit von Selbstbestimmtheit bedeutete. Von 41 ist zumindest der Deportationsort und das Deportationsdatum bekannt. Laut Lachenichts Recherche wurden achtzehn von ihnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Und auch die anderen Deportationsziele waren Vernichtungsorte oder Ghettos, die sukzessive liquidiert wurden. Insgesamt wissen wir nur von zwei Mitgliedern der Segensgemeinde jüdischer Herkunft, die den antisemitischen Vernichtungswahn ihrer Landsleute überlebten.
Gedenken an die Täuflinge
Zwar gab und gibt es von Seiten der evangelischen Landeskirche vereinzelte Gedenkveranstaltungen zum Erinnern an die Ermordeten und 2023 wurde auch eine “Stolperschwelle” vor der ehemaligen Messiaskapelle errichtet, doch scheint ein personenbezogenes institutionalisiertes Gedenken kaum stattzufinden. Dies wird unter anderem durch eine Recherche auf der Website der Stolpersteine bewusst, die ergibt, dass lediglich 16 der 86 Deportierten Stolpersteine gewidmet sind: Immerhin einer der prominentesten, sichtbarsten und niedrigschwelligsten Erinnerungspraktiken zu Opfern des Nationalsozialismus. Diese Leerstelle zu beheben, schien uns ein dringliches Anliegen. Im Gegensatz zu vielen Mitgliedern jüdischer Gemeinden Zentral- und Osteuropas, die ohne vorherige namentliche Registrierung mitsamt ihrer gesamten Gemeinden von deutschen SS-Männern, Polizisten sowie deren lokalen Kollaborateuren vor Ort erschossen wurden, war uns unklar, warum im Fall der als Juden ermordeten Täuflinge der Messiaskapelle kein pesonenspezifisches Gedenken stattfindet, wo die Namen doch bekannt sind. Dass dies nicht an mangelnder Initiative sondern an einer geringen Quellenlage liegt, realisierten wir, als wir anfingen, einige der Deportierten über das Gedenkbuch der deutschen Opfer des Nationalsozialismus des Bundesarchivs zu recherchieren. Nach einer weiterführenden Recherche wurde uns jedoch bewusst, dass bereits 15 Jahre vergangen sind, seitdem Gerlind Lachenicht diesen ersten wichtigen Schritt zur Erinnerung an jene Verfolgtengruppe ging. Der anhaltende Trend genealogischer Forschung inklusive der dazugehörigen Internetforen sowie die zunehmende Digitalisierung unterschiedlicher Archivbestände, ermöglichen weitere und tiefergehende Recherchen, als noch zur Zeit von Lachenichts Forschung denkbar war. Aus diesen ersten Überlegungen und Recherchen hat sich sukzessive das Anliegen entwickelt, Lachenichts Forschung weiterzuführen und, wo möglich, ein personenspezifisches Gedenken in Form von Stolpersteinen zu initiieren. Den Vorteil dieser Form individuellen Gedenkens sehen wir darin, den Subjektstatus der Deportierten öffentlich zu affimieren, deren Ermordung die letzte Konsequenz der Negation ihres Subjektstatus war. Die Verlegung von Stolperstein sehen wir daher als einen ersten Schritt in die richtige Richtung.
Gedenken als Narration
So notwendig wir Gedenken auch finden, wissen wir auch von dessen entlastender Funktion. Diese Ambivalenz von Gedenken wurde auch in der vielbeacheten Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands bewusst, als er sagte, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung hieße. Hiermit meinte Weizsäcker aber nicht die überlebenden Juden und Jüdinnen, sowie die Hinterbliebenen der Toten, sondern die Deutschen, die unter einer unaufgearbeiteten Vergangenheit litten. Betroffene und Skeptiker der deutschen Erinnerungskultur kritisieren seit jeher, wie Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Massenverbrechen eher der kollektiven Selbstvergewisserung dient, als eine kritische und darin selbstreflexive Aufarbeitung der Geschichte zu evozieren. Und selbst bei legitimen Formen von Gedenken, das weder instrumentell, noch selbstbeweihräuchernd ist, sondern ausschließlich dazu dient, die Toten dem Vergessen zu entziehen sowie die Wiederholung einer ähnlichen Tat zu verhindern, besteht eine Problematik, die einer jeden Form von Gedenken inhärent ist. Wo ein Ereignis so schwer wiegt, dass es bestehende Gewissheiten radikal in Frage stellt, ein Ereignis emotional so belastend ist, dass die psychische Integration nur schwerlich gelingt, dieses skandalöse Ereignis über die Menschen hinauswächst, so dass sie es keinem vorhandenen Sinnzusammenhang mehr zuordnen können, zeigt sich umso dringlicher das menschliche Bedürfnis nach einem Narrativ. Sozial ausgehandelt und wechselseitig bestätigt, soll es dazu dienen, das Unverständliche handhabbar zu machen und materialisiert sich oftmals in Denk-, Mahn oder anderen Erinnerungszeichen. Ein Problem daran hat Peter Eisenmann, Architekt des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas, erkannt und das von ihm entworfene Denkmal als Ort ohne feststehende Bedeutung bezeichnet. Wer in dem zentralen Holocaustdenkmal am Brandeburger Tor einen imposanten Friedhof erkennt, sich an die berühmten Luftaufnahmen des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau erinnert sieht, im Stelenfeld ein Labyrinth vermutet, das die Wirren des Holocausts repräsentieren soll, der wird sich von Eisenmanns zurückhaltender Assoziation des Stelenfeldes als wogendes Ährenfeld enttäuscht zeigen.5 Hinter dieser dezenten Deutungsebene steht jedoch die wohlüberlegte Erkenntnis, dass die Shoah durch kein traditionelles Denkmal repräsentiert werden kann. Das Denkmal soll demnach nicht auf die Shoah verweisen, sondern eine Erfahrung der Verunsicherung evozieren, die Raum- und Zeitbedingungen herkömmlicher Denkmäler transzendiert.6 Hinter diesem Ansatz stand die Befürchtung Eisenmanns, dass ein herkömmliches Denkmal, welches eine konkretere Bildsprache verwendet und zudem mit einer klaren Deutung versehen ist, der Shoah ein Zeichen gibt, sie vereindeutigen und so möglicherweise einen Schlussstrich mit der Beschäftigung des nationalsozialistischen Massenverbrechen befördern würde. Diese Überlegungen Eisenmanns aufgreifend und vor dem Hintergrund neuer Recherchemöglichkeiten, wollen wir die aktualisierten Forschungsergebnisse zu den verfolgten Menschen der Segensgemeinde nicht bloß veröffentlichen, sondern ebenso dazu animieren, diese Recherche weiterzuführen. In Form einer erweiterbaren Datenbank wollen wir auch zukünftiger Generationen die Möglichkeit und die Plattform dieses Blogs geben, um die historische Forschung fortzuführen, die für ein adäquates Gedenken notwendig ist. Diese werden wir nach Fertigstellung hier verlinken.
Zur Vorgehensweise
Wir haben die Namen auf der Liste der Deportierten systematisch abgeglichen mit den Archiven der jeweiligen Todesorte (mittlerweile Gedenkstätten), um weitere Informationen über das Leben der betreffenden Personen zu erhalten. Dabei fiel auf, dass zu vielen der Namen kaum weitere Archivinformationen zu finden waren. So waren von den 20 nach Auschwitz deportierten im dortigen Archiv überhaupt nur 5 der Namen vermerkt – vermutlich, weil in Auschwitz nur rund ein Viertel der Insassen überhaupt registriert wurde, bevor sie ermordet wurden. Weitere Verzeichnisse, in denen wir nach Informationen und Querverweisen gesucht haben, waren die Vermögenserklärung im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA, Potsdam), Wiedergutmachungserklärungen und das Findbuch im Landesarchiv Berlin (LAB), das Gedenkbuch des Bundesarchivs, die Datenbanken der verschiedenen Gedenkstätten, das Archivportal des Bundesarchivs JMB, verschiedene Genealogie-Archive (Ancestry und Geni), Google Books / Scholar, der Suchdienst des Deutschen Rotes Kreuzes, die Arolsen Archives, sowie weitere öffentlich zugängliche Informationen, z.B. vereinzelte Wikipedia-Einträge.
Zu einigen Personen auf der Deportiertenliste gibt es bereits biographische Recherchen auf diesem Blog, sowie auf folgender Seite: https://www.kkbs.de/biografien
Wir haben es uns darüber hinaus zur Aufgabe gemacht, im Rahmen des Seminars zu versuchen, biographische Informationen zu weiteren deportierten Personen zu recherchieren, um möglicherweise eine Grundlage für weitere Stolpersteinverlegungen oder andere Formen des Gedenkens zu schaffen. Wir haben uns, eher einem spontanen Impuls folgend, mit zwei Familien, den Familien Fuss und Blumenthal beschäftigt, in der Hoffnung, hier ergiebigere Informationen zusammen tragen zu können.
Weiterführende Informationen über Stationen im Leben der beiden Familien finden sich hier:
Familie Fuss
Familie Blumenthal
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Liste der Archive und Datenbanken
- Ancestry (ancestry.de)
- Archivportal-D – Deutsch Digitale Bibliothek (archivportal-d.de)
- Archiv Zwangsarbeit (zwangsarbeit-archiv.de)
- Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution
- Base (Uni Bielefeld)
- Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Vermögenserklärungen)
- blha-recherche.brandenburg.de/volltextsuche.aspx
- Evangelische Kirche
- Archeon (Taufbücher)
- Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (NS-Akten)
- Gedenkbuch Bundesarchiv (bundesarchiv.de/gedenkbuch/)
- Google Books / Scholar
- Institut für Geschichtswissenschaften HU Berlin
- geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/nuetzliche-links-fuer-studierende/quellen-deutsche-geschichte-im-20-jahrhundert-schwerpunkt-nationalsozialismusen
- Jüdisches Museum Berlin & Website (jmberlin.de/recherchen-zur-familiengeschichte)
- Private Genealogie (geni.com)
- Suchdienst des Deutschen Roten Kreuz
- United States Holocaust Memorial Museum Washington (ushmm.org)
- Yad Vashem Archive
- heute Stadtkloster Segen: https://ekpn.de/vier-kirchen/stadtkloster-segen/ ↩︎
- Eine etwas ältere Variante der Liste ist hier abrufbar: https://www.landeskirchenarchivberlin.de/wp-content/uploads/2009/12/mk-deportationsliste.pdf) ↩︎
- Listen veröffentlicht in: Frisius et al.: Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden. Wichern Verlag, Berlin 2008
↩︎ - Paradoxerweise verwendete die rassistische Sippenforschung Karl Themels im Nationalsozialismus ebenfalls die Taufbücher, um konvertierte Jüdinnen und Juden verfolgen zu können. (vgl. https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2023/11/17/karl-themel-pfarrer-nationalsozialist-sippenforscher/)
↩︎ - vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/holocaust-mahnmal-fast-wie-ein-wogendes-getreidefeld-1195981.html (zuletzt abgerufen am 03.06.2025) ↩︎
- vgl. Benjamin, Andrew: Memorial to the murdered Jews of Europe, in: Blurred Zones. Ivestigations of the Interstitial. Eisenman Architects 1988-1998, New York (2003) ↩︎
Über die Autoren
Vincent Budinger, Karl Eckardt, Yannick Heinz und Leonard Ludwig studieren Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
Update 8/2025: Korrektur interne Links auf Familie Fuss/Blumenthal
