Vom 13. Januar bis zum 28. Februar 2022 ist in der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ die Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen“ zu sehen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland hat sie erstellt. Im doppelten Sinne beispielhaft macht die Schau die Verstrickung der Kirche in den Nationalsozialismus transparent.
Die Ausstellung dokumentiert den sogenannten Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die Institution als auch das Verhalten einzelner geraten in den Blick. Klar wird: Neben tatsächlichen Neuanfängen ist ein Ausblenden realer Schuld erkennbar, etwa durch kirchliche Unterstützung für NS-Verbrecher in der jungen Bundesrepublik oder die zögerliche Aufarbeitung eigener Verfehlungen in der NS-Zeit. Die nationalprotestantische Mentalität hatte den Nationalsozialismus gefördert, wurde jedoch nach 1945 nicht thematisiert. Wie wirkmächtig blieb der Nationalprotestantismus in der jungen Bundesrepublik? Darauf versucht die Ausstellung Antworten.
Sechs Themenfelder erwarten die Besucher:innen: Heimatvertriebene, Flüchtlinge und ‚Displaced Persons‘; Antisemitismus und neue Begegnungen; NS-Täter und Kriegsverbrecher im Schutz der Kirche; Streit um Schuld und Mitverantwortung; Haltung zu Krieg und Wiederaufrüstung; Antikommunismus und Diffamierungen.
Es gibt drei live gestreamte, ca. 45minütige, digitale Veranstaltungen jeweils donnerstags, 18 Uhr, im Beiprogramm der Ausstellung.
13. Januar, 18 Uhr: Eröffnung mit Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche, per Videogrußwort), Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Akademie der Nordkirche und Prof. Dr. Stefanie Endlich, Kuratorin der Ausstellung gemeinsam mit Monica Geyler-von Bernus und Beate Rossié
3. Februar, 18 Uhr: Die Journalistin Sigrid Hoff befragt Dr. Stephan Linck zu den Ausstellungsinhalten
10. Februar, 18 Uhr: Vorstellung der Dissertation von Beate Rossié „Kirchenbau in Berlin 1933-1945“
Im Gespräch mit Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur der EKBO und Beate Rossié
Die Ausstellung ist vom 13. Januar 2022 bis zum 28. Februar 2022 zu sehen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße 13 – 14, 10785 Berlin-Tiergarten, 1. Etage, Sonderausstellungsbereich.
https://www.gdw-berlin.de/home/
Öffnungszeiten
Mo – Fr 9 – 18 Uhr
Sa, So und an Feiertagen 10 – 18 Uhr
Änderungen vorbehalten. Information unter Telefon: 030/26 99 50 – 00
Hildegard Ehrig – Porträt einer Mitarbeiterin der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin
von Victoria Klärner
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Nachweis der Anstellung Hildegard Ehrigs in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (ELAB 4/410)
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Die Geschichte orientiert sich an Namen. Jede Epoche und jedes Ereignis werden mit bestimmten Namen verbunden. Das gilt auch und vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus. In diesem Fall stehen die Namen nicht nur stellvertretend für eine bestimmte Zeit, sondern auch für eine große, unüberschaubare Gruppe von Menschen, die nicht bekannt sind und aus diesem Grund für ihre Taten nicht belangt werden können. Nachweisbar sind meist nur die grausamsten Einzeltäter, die Schreibtischtäter hingegen bleiben oft namenlos. Dass deren Taten nicht weniger folgenschwer waren, zeigt das Beispiel der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin (KBS). Von 1935-1945 arbeiteten dort bis zu 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter[1] daran, die konfessionellen Verwandtschaftsverhältnisse der Berliner Bevölkerung aufzuschlüsseln. Was auf den ersten Blick vielleicht noch belanglos scheint, erwies sich als maßgebliche Informationsquelle für die systematische Verfolgung der Juden. Durch die intensiven genealogischen Nachforschungen konnten die jüdisch-stämmigen Bürger identifiziert und so die Verfolgung derselben entscheidend vorangebracht werden. Durch ihre aktive Zuarbeit hat die Kirche eine wesentliche Beihilfe zur folgenden Ausgrenzung geleistet.
Initiiert wurde das Vorhaben nicht etwa von nationalsozialistischer Seite – obwohl 1935 eine entsprechende Stelle eingerichtet wurde[2] – sondern von der evangelischen Kirche. Um die „Nichtarier“ ausweisen zu können, musste eine Auswertung der Kirchenbücher erfolgen, wodurch die Kirche schlagartig integraler Bestandteil und wichtige Säule des Staates wurde. Da es staatliche Personenstandsregister erst seit Mitte der 1870er Jahre (Preußen) gab, waren die Kirchenbücher von besonderer Bedeutung. Diese reichten deutlich weiter zurück und waren somit eine einmalige, dem Staat eigentlich nicht zugängliche Quelle.
Festgehalten wurden die Namen der Betroffenen in s. g. „Juden-„ bzw. „Fremdstämmigenkarteien“, welche die Abstammung und Konfession zurückreichend bis zu den Großeltern beinhaltete. Für die Erstellung dieser Karteien war die KBS verantwortlich. Im Gegensatz zum Leiter derselben, dem Theologen Karl Themel[3], waren die Namen der Angestellten bis vor kurzem noch unbekannt. Durch einen Zufallsfund wurde eine Tabelle mit 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entdeckt, die 1937 dort gearbeitet haben. Leider ist in der Liste jeweils nur der Nachname angegeben. Hier begann die Spurensuche.
Vom 24.4.1936 bis zum 1.6.1944 war ich bei der Berliner Stadtsynode. Dort war ich in der Abteilung „Kirchenbuchstelle Alt Berlin“ als sippenkundliche Sachbearbeiterin und im Büro tätig.[4]
Die Spuren führten zu Helene Frieda Minna Hildegard Ehrig, die hier in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1947 ihre Tätigkeit beschreibt. Als exemplarisches Beispiel soll sie einen Einblick hinter die Kulissen gewähren. Wer war Hildegard Ehrig? Wusste oder ahnte sie zumindest, welche Folgen ihre Arbeit haben würde?
Um sich ein Bild von ihr machen zu können, lässt man sie am besten zunächst selbst zu Wort kommen.
Ich, Hildegard Ehrig, geb. Gordes, bin am 3.9.1911 in Berlin geboren, als Tochter des Kaufmanns Alexander Gordes und seiner Ehefrau Frieda geb. Schierjott. Von 1917 ̶ 1926 besuchte ich die Volksschule und wurde am 24.3.1926 im Dom zu Berlin konfirmiert, wo ich auch von meinem vierten Lebensjahr an, den Kindergottesdienst besucht habe. Von Ostern 1926 bis zum Herbst 1927 besuchte ich die Kinderpflegerinnen Schule in Berlin Niederschönhausen und daran anschließend, dort und im Jugendheim Charlottenburg, den „Schulwissenschaftlichen Vorkursus“, ohne Fremdsprache, der mit einer Abschlussprüfung für die mittlere Reife vor dem Stadtschulamt im Herbst 1928 schloss. Durch Krankheit meiner Mutter blieb ich bis zum Mai 1931 zu Hause, um dann bis zum 21.12.1931 im Kinderhaus am Friedrichshain als Kinderpflegerin zu arbeiten. Durch meine Zugehörigkeit zum Burckhardthaus seit 1928 und meiner Mitgliedschaft zur Jugendschar der Domgemeinde entschloss ich mich, in der Domgemeinde der Gemeindeschwester in der Gemeindearbeit und besonders in der Arbeit an den Jungscharkindern zu helfen. Ferner nahm ich an verschiedenen Freizeiten und Rüsttagen vom Burckhardthaus teil.
Allein diese wenigen Zeilen reichen aus, dem zunächst konturlosen Namen ein Gesicht zu verleihen. Hildegard Ehrig scheint eine äußerst soziale und engagierte Person gewesen zu sein, die sich besonders für Kinder und Jugendliche einsetzte, sowohl beruflich als auch privat. Ebenso deutlich wird auch ihre Engagiertheit in der christlichen Gemeinschaft, die wohl in der Familie lag; der Vater war u. a. Helfer im Kindergottesdienst und auch die Mutter war in der Gemeinde aktiv. In einem Empfehlungsschreiben aus dem Jahr 1947 heißt es, Hildegard Ehrig wäre ein Mensch, „der persönlich fest im christlichen Glauben wurzelt. Ihr Elternhaus ist ein ausgesprochen christliches.“ Wie kommt nun ein Mensch, der die christlichen Gebote offensichtlich auch lebte, an eine solch menschenfeindliche Beschäftigung wie in der KBS? Die Antwort ist (leider): wir wissen es nicht. An dieser Stelle können nur Vermutungen aufgestellt werden; eine wäre, dass sie über ihre Gemeindearbeit an die Anstellung kam.[5]
Aus einem Zeugnis, das 1944 ausgestellt wurde, gehen ihre genauen Aufgaben in der KBS hervor:
Sie war zunächst bei der Verkartung der Berliner Kirchenbücher des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Nach Einrichtung der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin am 12. Oktober 1936 wurde sie als Sachbearbeiterin beschäftigt. Als solche ermittelte sie Eintragungen in den Berliner Kirchenbüchern und auch in schwierigem Falle genealogische Zusammenhänge Berliner Sippen. Auch mit allen vorkommenden Arbeiten im Büro sowie in der Photokopierabteilung war sie zu unserer vollen Zufriedenheit tätig.
Sie hatte demnach nicht nur einfache Büroarbeiten zu erledigen, sondern war am eigentlichen Vorhaben aktiv beteiligt und das auch langfristig, immerhin war sie fast so lange angestellt, wie die KBS existierte. So konnte sie die Strukturen und damit auch die Ziele derselben sicherlich erkennen. Auch ein Teil ihres Privatlebens schien in der KBS stattgefunden zu haben, schließlich lernte sie dort ihren Mann Kurt Ehrig kennen; das Paar heiratete am 23.05.1942. Aufgrund ihrer Schwangerschaft schied sie kurz darauf aus dem Dienst aus, in ihrem Zeugnis wird sie folgendermaßen beschrieben:
Bei mündlich vorgetragenen Anträgen zeigte sie im Verkehr mit dem Publikum stets freundliches, hilfsbereites Wesen. Frau Ehrig war pünktlich, gewissenhaft und sorgfältig in ihrer Arbeit und bewies im Betrieb stets gute Kameradschaft.
Nachdem sie die Geburt ihres Sohnes Jürgen Kurt Gustav Alexander Ehrig und das Kriegsende nicht in Berlin erlebt hatte, kam sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes am 14.11.1945 dorthin zurück. Kurz darauf starb auch ihr Sohn.
Seit dem Juli 1946 bis jetzt nähte ich kunstgewerbliches Spielzeug. Da mich diese Arbeit aber nicht befriedigt, wurde mir von befreundeter Seite empfohlen, in die Gemeindearbeit zu gehen und als Religionslehrerin zu wirken. Hierfür habe ich große Freudigkeit, da es mir sehr wichtig ist, dass unsere Jugend von gottesfürchtigen Lehrern in die heilige Schrift eingeführt wird.
Durch die Arbeit als Katechetin[6] konnte Hildegard Ehrig die Arbeit mit Kindern und ihren christlichen Glauben gekonnt miteinander vereinen. Im Jahr 1947 beendete sie ihre Ausbildung und arbeitete anschließend in zwei Weißenseer Grundschulen. Ganz am Ende ihres Lebenslaufs aus demselben Jahr finden sich die wohl interessantesten Zeilen der gesamten Akte:
Lebenslauf aus dem Jahr 1947 (ELAB 4/410)
Bemerken möchte ich noch, dass ich seit dem Herbst 1934 als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche angehöre.
Diese Aussage macht das Bild, welches bis dahin von ihr entstanden ist, um einiges komplexer und auch interessanter. Und zugleich wirft es Fragen auf: Wie weit ging ihre Mitgliedschaft? Hat sie vielleicht im Kleinen das Vorhaben der KBS manipuliert? Oder war diese Angabe womöglich nur eine Schutzbehauptung, um sich nach dem Krieg – wie viele andere – als regimekritisch zu präsentieren? Anhand einiger Verweise in ihrem Lebenslauf können zumindest mögliche Beeinflussungen hinsichtlich der Bekennenden Kirche ausgemacht werden. Sie war in der Berliner Domgemeinschaft engagiert, wurde dort getauft, konfirmiert und besuchte den Kindergottesdienst. In dieser Zeit waren Bruno Doehring und Georg Burghart dort als Domprediger tätig; beide waren zwar keine Mitglieder der Bekennenden Kirche, jedoch standen sie zumindest deren Ideen nahe, Doering trat zudem offen regimekritisch auf. Während Ehrigs späteren Engagements im Burckhardthaus[7] war Otto Riethmüller der Leiter desselben und überdies Mitglied der Bekennenden Kirche. Hinzu kam, dass das Haus in Dahlem stand, bekanntermaßen der Wirkungskreis von Martin Niemöller. Ferner hielt sie sich 1933 längere Zeit im Haus von Walter Braun auf, um sich um dessen erkrankte Frau zu kümmern. Der spätere Generalsuperintendent schrieb ihr nicht nur eine Empfehlung für die Ausbildung zur Katechetin, sondern war auch regimekritisch eingestellt. Zuletzt sei noch die spätere Bekanntschaft zu Helga Krummacher erwähnt, der Frau des Generalsuperintendenten Friedrich-Wilhelm Krummacher, welcher wiederum eng mit Otto Dibelius bekannt war. Doch das sind nur Überlegungen zu möglichen Einflüssen, die Nähe Hildegard Ehrigs zu diesem Kreis ist nicht bekannt. Durch das Fehlen entsprechender Unterlagen bzw. Belege, auf die sich solche Mutmaßungen stützen könnten, kann die Frage nach ihrer Mitgliedschaft nicht geklärt werden und auch Vermutungen in diese Richtung – selbst angesichts möglicher Bekanntschaften – gingen zu weit und wären reine Spekulation.
Namen können entscheidend sein – das wurde deutlich. Nicht nur heute sind sie für die Erforschung der Vergangenheit von Bedeutung, auch aus zeitgenössischer Sicht waren sie essenziell. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es auf Seiten der Täter häufig nur Einzelpersonen, die angeklagt wurden; angesichts dieser grausamen Einzeltäter konnten die Schreibtischtäter nur allzu leicht in der Gruppe untergehen und verschwinden. [8] Mit diesem Porträt wurde der Versuch unternommen, jene aus dem sicheren Dunkel der Anonymität herauszuholen und somit auch die kleinen Räder im Getriebe in den Blick zu nehmen und ihrer Funktion in der Maschinerie nachzugehen. Denn ohne diese kleinen, vielleicht auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Teile, konnte das Ganze nicht funktionieren. So auch in der KBS; jeder trug seinen Teil zum Funktionieren derselben bei – und somit auch zur Verfolgung einer Minderheit.
Auf der Suche nach den Tätern in der Kirche fokussiert man sich zunächst fast zwangsläufig auf die Deutschen Christen, immerhin war die antisemitische Ideologie dort programmatisch. Die Überlegung hingegen, dass genauso auch in der Bekennenden Kirche Täter zu finden sind, erscheint angesichts des dafür fast synonym gebrauchten Begriffs des Widerstands womöglich paradox – doch das ist es nicht. Zum einen zeigt sich genau an dieser Stelle die erfolgreiche kirchliche Geschichtsschreibung, die eine solche Engführung bis heute proklamiert.[9] Zum anderen hat die Forschung wiederholt gezeigt, dass sich Bekennende Kirche und Nationalsozialismus, und damit auch eine christliche Gesinnung und menschenfeindliche Handlungen, keinesfalls widersprechen mussten. Genauso auch bei der Überlegung, ob eine Frau, die kurz nacheinander Mann und Sohn verliert, sich für Kinder und Jugendliche engagiert, Spielzeug näht und tief in ihrem christlichen Glauben verwurzelt ist, als Täterin angesehen werden kann; die Antwort ist: ja. Einfach, weil das eine das andere nicht ausschließt. Was aus heutiger Sicht ein Widerspruch zu sein scheint, konnte im zeitgenössischen Kontext durchaus möglich sein. Im Fall der Bekennenden Kirche sollten nicht von wenigen engagierten Einzelpersonen Rückschlüsse auf eine ganze Gruppe gezogen werden. Die Gruppierung bewegte sich vielmehr zwischen Zustimmung, Kollaboration und vereinzeltem Widerstand. Wo Hildegard Ehrig ihren Platz in dieser Konstellation einnehmen würde, wäre durchaus interessant, bleibt aber vermutlich im Schatten der Vergangenheit verborgen. Vielleicht hat sie sich widersetzt, vielleicht hat sie nicht verstanden, wozu das alles führen wird, oder vielleicht handelte sie auch aus Überzeugung und versuchte diese später durch eine Schutzhandlung zu verbergen, wir wissen es nicht. Doch was wir wissen ist, dass sie einen Teil zur späteren Geschichte beigetragen hat.[10] Und um mit den Worten Hannah Arendts zu schließen: Niemand hat das Recht zu gehorchen.
Literaturempfehlungen zur Kirchenbuchstelle Alt-Berlin und zur Kirche im Nationalsozialismus:
Gailus, Manfred: Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten Reich«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.
Gailus, Manfred: Bruderkampf im eigenen Haus: Die evangelischen Pfarrer in Berlin und der Nationalsozialismus, in: Kirchliche Zeitgeschichte (2000), Vol. 13/1, Katholizismus und Protestantismus während der NS-Diktatur und in der Nachkriegszeit, S. 20-44.
Krogel, Wolfgang G.; Lachenicht, Gerlind u. a. (Hrsg.): Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden, Wichern 2008.
Lachenicht, Gerlind u. a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus, Evang. Landeskirchl. Archiv in Berlin (2013).
Sandvoss, Hans-Rainer: »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen…«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945, Berlin 2014.
Interessante (Online)-Ausstellungen und weiterführende Informationen zum Thema
Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Eine Wanderausstellung der Nordkirche 2016 – 2019, online verfügbar unter https://www.nordkirche-nach45.de/.
Unterwegs zur mündigen Gemeinde – Die Evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem (Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem), Ausstellung online verfügbar unter https://www.friedenszentrum-martin-niemoeller-haus.de/ausstellung/.
Widerstand aus christlichem Glauben, Informationen und Dokumente der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, online verfügbar unter https://www.gdw-berlin.de/home/.
Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus (Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte), interaktive Ausstellung online verfügbar unter https://de.evangelischer-widerstand.de/#/.
[1] Gemeint sind 32 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Tabelle angeführt werden, und der Leiter Karl Themel. Im Laufe der Recherche konnten noch zwei weitere Mitarbeiterinnen identifiziert werden.
[2] Die Reichsstelle für Sippenforschung (später Reichssippenamt) wurde 1935 gegründet und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Erstellung von Ariernachweisen. Letztere mussten im Rahmen des Berufsbeamtengesetzes vom April 1933 für bestimmte Berufe erbracht werden. Um den Beruf weiter ausüben zu können, musste die „arische“ Herkunft urkundlich durch einen Abstammungsnachweis belegt werden. (Vgl. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/N36YVVRG6K7MXKJKFQKRWCSBEN CBAH2P)
[3] Karl Themel (1890-1973) war Theologe, evangelischer Pfarrer und ab 1932 Mitglied der NSDAP. Zudem war er Mitbegründer und gehörte zum engsten Führungskreis der Deutschen Christen. Er initiierte die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin auf eigenes Bestreben und bekleidete hochrangige Kirchenämter. Nach 1945 war er weiterhin als Pfarrer tätig und wurde mit Aufgaben im Archiv- und Kirchenbuchwesen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (West-Berlin) betraut. (Vgl. Gailus, Manfred: Themel, Karl, in: Handbuch des Antisemitismus. Band 2: Personen, hrsg. v. Wolfgang Benz, Berlin u. a. 2009, S. 826f.)
[4] Alle hier angeführten Zitate und Bilder entstammen der Personalakte, welche im Evangelischen Landesarchiv Berlin unter der Signatur ELAB 4/410 zu finden ist. Darin befinden sich: Personalbogen, Fragebogen, handschriftlicher Lebenslauf 1947, Bescheinigung, handschriftlicher Lebenslauf 1948, Katecheten-Prüfung, Zeugnis über die Prüfung für das katechetische Lehramt, Bescheinigung, Zeugnis und drei Fotografien.
[5] In einem Dokument, das von Karl Themel im Jahr 1947 verfasst wurde, geht er auf die personelle Struktur der KBS genauer ein. „Während der Herstellung der Karteien 1936 wurden im Ganzen etwa 250 Personen als Zeitangestellte vom Stadtsynodalverband eingestellt und beschäftigt, der auch Tarifverträge abschloss. Sie rekrutierten sich meist aus den Kirchengemeinden, deren Kirchenbücher angegeben und verkastet waren. […] Vor Aufnahme der Arbeit der Kirchenbuchstelle im Herbst 1936 wurden aus den Verkartern die geeigneten Personen für das Stammpersonal von mir und Baer ausgesucht und vom Stadtsynodalverband als Dauerangestellte übernommen.“ (ELAB 1/1238)
[6] Katechetinnen und Katecheten unterrichteten Religion, vor allem an Grundschulen.
[7] Das Burckhardthaus war eine Einrichtung der Evangelischen Kirche in Berlin-Dahlem, die ab 1893 bestand und nach ihrem Gründer benannt wurde. Im Mittelpunkt stand das Engagement für Kinder, Jugendliche und vor allem für (junge) Frauen.
[8] Vgl. dazu: Paul, Gerhard: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ganz gewöhnlichen Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, hrsg. von ders., Göttingen 2002, S. 13-90.
[9] Nach 1945 betrieb die Kirche ihre eigene Geschichtsschreibung (Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte des Kirchenkampfes), übernahm so die Deutungshoheit über ihre eigene Rolle und schrieb die „Kirchenkampf“-Mythen fort, sodass sie sich in einem insgesamt positiven Licht darstellen konnte. Damit war sie durchaus erfolgreich, für viele Nachgeborenen war diese Haltung handlungsprägend und ist es mitunter auch heute noch. Die BK-Führungspersonen genossen lange Zeit einen hohen Stellenwert, der erst heute in Frage gestellt wird und zu heftigen Kontroversen und auch Generationskonflikten führt. (Vgl. u.a. Gailus, Manfred: Bruderkampf im eigenen Haus: Die evangelischen Pfarrer in Berlin und der Nationalsozialismus, in: Kirchliche Zeitgeschichte (2000), Vol. 13/1, Katholizismus und Protestantismus während der NS-Diktatur und in der Nachkriegszeit, S. 20-44; Sandvoss, Hans-Rainer: »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen…«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945, Berlin 2014.)
[10] Ehrigs Beschäftigung in der KBS erscheint wie eine Zäsur oder ein Fremdkörper in ihrem Lebenslauf; vor und nach ihrer Anstellung arbeite sie mit Kindern und engagiert sich in der Kirche. Sie steht so symbolisch für viele Karrieren und Kontinuitäten in der Kirche, die im NS in das System integriert waren, davor und danach aber normalen Beschäftigungen nachgingen.
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von Johan Wagner
In der Präsidentengalerie des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) gibt es auch im Jahr 2020 noch „eine bisher übersehene Lücke, die dringend geschlossen werden müsste“.[1] Im Personenlexikon des deutschen Protestantismus findet sich ein Hinweis zum ersten Konsistorialpräsidenten dieser „Lücke“ Paul Walzer. Dort stehen lapidar seine Lebensdaten: „*19.6.1879 Grodziozno (Westpreußen), gestorben 17.5.1936.“ Am Ende des Absatzes steht eine fast abschließend erscheinende Dreierreihe aus einem Symbol und zwei Buchstaben: „— DC“.[2] Paul Walzer, der erste Konsistorialpräsident für die Berlin-Brandenburger Region, der im Nationalsozialismus sein Amt antrat, war also „Deutscher Christ“.
Von der Provinz an die Schalthebel der Macht?
Die Frage für diesen Blogeintrag lautet: „Von der Provinz an die Schalthebel der Macht“? Ist das hier eine klassische Geschichte, wie der „homo novus“ aus dem Lateinunterricht, der in Rom in die Schicht der entscheidenden Patrizierfamilien aufsteigt? Einiges spricht dafür: Paul Walzer hat sich schon früh „deutsch-christlich“ engagiert. Er macht einen steilen Aufstieg, denn eine handschriftliche Notiz des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller, besagt am 5. Februar 1934, dass Landrat Walzer „mit sofortiger Wirkung“ zum Konsistorialpräsidenten ernannt wird.[3]
Ludwig Müller, das ist der Königsberger Wehrkreispfarrer, der auf Hitlers Wunsch zum „Reichsbischof“ wurde. Diese Ernennung durch Müller höchstpersönlich, war sie für Paul Walzer nicht ein ganz großer Schritt? Von einem Landrat in der ostpreußischen Provinz direkt auf den Berliner Stuhl eines leitenden Juristen einer Kirchenprovinz? Und ungewöhnlich ist auch, wie diese Ernennung von Müller erfolgte. Insbesondere für kirchliche Verwaltungen, in denen alles etwas langsamer zu gehen pflegt, ist es nicht üblich, dass jemand quasi „per Telegramm“ zum Konsistorialpräsidenten wird.
Forschungsbedarf – ja oder nein?
Es ist interessant, dass in der „Ahnengalerie“ der Präsidenten des Konsistoriums heute eine Tafel hängt, die auf die oben genannte Lücke zumindest hinweist. Warum wird auf dieser Tafel noch die relativ offene Formulierung verwendet, dass die „Verbindung mit den Deutschen Christen“ noch der Erforschung bedarf? Denn zumindest was Paul Walzer angeht, ist diese Verbindung schon länger erforscht. Konsistorialpräsident Paul Walzer ist einer der wichtigen Akteure in der Auseinandersetzung um die sogenannten „intakten“ Landeskirchen. Es geht um den Versuch des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller und des Ministerialdirektors August Jäger diese Landeskirchen – euphemistisch gesagt – „gleichzuschalten“ und eine „Deutsche Reichskirche“ zu gründen. Eine der Kirchen, die sich gegen die „Gleichschaltung“ gewehrt haben, war die württembergische Landeskirche. Paul Walzer war ein juristischer Handlanger bei August Jägers und Ludwig Müllers Versuch, den „Widerstand“ (gegen die „Gleichschaltung“) in der Landeskirche von Württemberg und von Bayern zu brechen.
Er wurde von August Jäger und Ludwig Müller als „Verwaltungskommissar“ eingesetzt, wegen angeblicher Finanzungereimtheiten in der württembergischen Landeskirche. Walzer schrieb, während er im Herbst 1934 versucht, die württembergische Landeskirche unter seine Macht zu bringen, regelmäßig „Situationsberichte“ an den „Reichsbischof“ Ludwig Müller: „… Montag, den 10. September 1934. 7 Uhr. Dienstübernahme. Keine Schwierigkeit. Telefonzentrale anderweitig besetzt. SS-Mann als Ordonnanz eingestellt. Antrittsbesuch beim Landesbischof [Theophil Wurm, JW] (s. Anlage). Protest des Landesbischofs (s. weitere Anlage). Mittlere Beamte geschlossen hinter der Deutschen Evang. Kirche. Oberkirchenrat Dallinger und Oehler, die seit 17.4.1934 sich vom Landesbischof distanziert haben, sagen bereitwillig Mitarbeit zu. Direktor Müller Bedenkzeit ausgebeten. Protest Pressel (s. weitere Anlage). Mit Theologen noch nicht verhandelt …“[4]
Eine symptomatische Fotographie?
Paul Walzer war „Deutscher Christ“ und er war in hohem Maße exponiert in diesem Versuch, eine „Deutsche Evangelische Kirche“, eine zentralistische Reichskirche, zu gründen. Dieser Versuch misslang. Die Zeit lief danach gegen Paul Walzer. Denn es gab letztlich doch Protest, noch wichtiger waren gerichtliche Überprüfungen. Der Stern Paul Walzers sank schnell. Auch zur Vereidigung des „Reichsbischofs“ kam es nicht mehr. Im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin (ELAB) findet sich eine symptomatische Fotographie: Der Entwurf für die „Amtskette des Reichsbischofs“ – ein klassisches Kreuz, allerdings „gekrönt“ mit dem Hakenkreuz. Unten das Siegel der „Deutschen Evangelischen Kirche“ und des „Reichsbischofs“ mit trauter Vereinigung von Kreuz, Hakenkreuz und Lutherrose.[5]
Ludwig Müllers Amtseinführung als Reichsbischof war groß geplant: Im Berliner Dom sollte der „Führer“ Adolf Hitler den „Reichsbischof“ Ludwig Müller am 23. Oktober 1934 vereidigen. An dieser Machtkette hingen letztlich auch Juristen wie August Jäger und Paul Walzer. Klaus Scholder argumentiert sehr überzeugend: Am 19. Oktober 1934 spätestens beschloß Hitler, dass er diese Amtseinführung so nicht möchte. Es war ihm zu heikel. Damit war sein „Kirchenbeauftragter“ (Franz von Pfeffer bzw. Franz Pfeffer von Salomon) abberufen (25. Oktober 1934). Das war letztlich auch das Ende des ebenfalls steilen Aufstiegs von Ministerialdirektor August Jäger. Dieser versuchte seinen Sturz zu verbrämen: Seine Aufgabe sei in Grundzügen erreicht. Auch der „Reichsbischof“ war damit ein Ritter ohne Land, obwohl er noch weiter amtierte. Die „Oppositionsbewegung“, darunter auch die „Bekennende Kirche“, frohlockte schon, dass sie gegenüber dem Usurpationsversuch die Oberhand gewonnen habe. Allerdings zum Teil mit der Einschätzung, sie habe „den Führer“ auf ihrer Seite. Klar ist also: Die „Oppositionsbewegung“ war nicht durch Gegnerschaft zu Hitler per se gekennzeichnet. Sondern sie berief sich immer wieder auf „den Führer“ und „die Vorsehung“, also auf das pseudoreligiöse Argumentieren auch von Hitler selbst.[6] Beispielsweise auch um zu begründen, warum der Landesbischof Wurm in Württemberg legitim war und nicht Paul Walzer, der dort als Kommissar eingesetzt war.
Wie Strukturen und personales Element zusammenbringen?
Es soll in diesem Blogbeitrag auch um Insitutionen hinter den Menschen, in diesem Fall vor allem Paul Walzer, gehen. Die institutionellen Kirchenstrukturen waren und sind sehr verschachtelt, was an den Auseinandersetzungen um Landeskirchen und „Deutsche Evangelische Kirche“ schon deutlich geworden ist. Wie stellt sich diese Verschachtelung dar, lässt man den Blick von Paul Walzers „Wirkungszeit“ auf die gesamte Zeit von 1914 bis 1949 schweifen? Wie vielschichtig waren die Strukturen in der evangelischen Kirche im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ sowie der Nachkriegszeit? Ist es zwingend, von Berlin und Brandenburg auch auf die übergeordneten Ebenen zu schauen? Und wie schafft man es zugleich, nicht die Menschen, die gehandelt haben, zu vernachlässigen? Im Sinne eines „akteurszentrierten Institutionalismus“ bieten sich die Konsistorialpräsidenten, aber auch Abteilungsleiter etc. an, um nicht die Fehler der „menschenleeren institutionellen Strukturgeschichte“ zu begehen.[7] Wenn man nun eine „Lupe“ auf den Menschen Paul Walzer in der Struktur der evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg 1934 bis 1936 legt, kann man noch einmal die Frage nachvollziehen, die den Titel des Blogbeitrags bildet. Um wen geht es im Kern? Um einen Konsistorialpräsidenten, der der erste ist, der im NS-Staat ans Ruder kommt. Seine Lebensdaten zeigen die einschneidende Erfahrung in noch recht jungen Lebensjahren in der Zeit des Ersten Weltkriegs, er war in verschiedenen Orten des „Kirchenkampfes“ aktiv auf der Seite der „Deutschen Christen“.
Seine Geschichte zeigt exemplarisch, dass die „Zuversicht der NS-Führung auf rasche Gleichschaltung“ der evangelischen Kirche sich nicht bewahrheitete, viele Kirchenmitglieder und auch leitende Kirchenpersönlichkeiten konnten ihren christlichen Glauben jedoch mit einer Unterstützung des Regimes verbinden.[8] Diese starke Unterstützung wird für Paul Walzer allerdings zum Abschied aus Berlin führen, Anfang 1936 erfolgte eine Versetzung nach Königsberg. Es gab Auseinandersetzungen darüber, was eigentlich sein Status war. Was findet sich beispielsweise unter „Paul Walzer“ bei Wikipedia? Dort steht aktuell, dass er bis zu seinem Lebensende als Konsistorialpräsident von Berlin amtiert hat.[9] Dies lässt sich in seiner Personalakte so nicht wiederfinden. Gleichzeitig ist diese Feststellung keine Besserwisserei gegenüber den Wikipedia-Autor*innen, weil es auch in dem anfangs angeführten Personenlexikon nicht genau steht. Aus der Akte heraus sieht es so aus: Paul Walzer wurde nach Königsberg „entsorgt“, was wohl Anfang 1936 nicht ganz so überwiegend „bekennend-kirchlich“ war. Er war dann Oberkonsistorialrat. Und das war für ihn im Prinzip immer noch ein Erfolg. Denn in seiner Personalakte existiert ein Schreiben an den Evangelischen Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, dass der Provinzialkirchenrat der Mark Brandenburg in seiner Sitzung am 6. Februar 1935 einstimmig beschlossen hat: „Der Provinzialkirchenrat erhebt […] Einspruch gegen die Ernennung des Landrates W a l z e r zum Konsistorialpräsidenten in Berlin, weil ihm über die Eignung des Vorgeschlagenen für diese Stelle nichts bekannt ist. […]“ [10]
Was bedeutet Paul Walzers Geschichte für seine Nachfolger?
Der Provinzialkirchenrat versuchte ihn auf einer formalen Ebene anzugreifen. Die Lösung war schließlich, dass er Anfang 1936 noch einmal ernannt wurde (als „Oberkonsistorialrat“). Das bedeutete: Kirchenbeamter auf Lebenszeit mit guten Bezügen. Auf dem Dokument der Personalakte, auf dem dieser Vorgang dokumentiert wurde, findet sich noch ein Zusatz: „mit Wahrnehmung der Geschäfte des Konsistorialpräsidenten in Berlin betraut“ (allerdings durchgestrichen). Es gab ein Hin und Her, wie Paul Walzer rechtlich-statusmäßig einzuschätzen war. Er kämpfte – juristisch sehr klug – seine Bezüge durch: Paul Walzer drohte eine Klage an, sollte die Kirchenverwaltung ihm nicht auch in Königsberg weiterhin das Konsistorialpräsidentengehalt zahlen (ein höheres Gehalt als das eines „Oberkonsistorialrates“). Er konnte vielleicht den Titel nicht mehr führen, aber ihm ging es auch um das Geld. Die von Paul Walzer angegriffene Verwaltung gab klein bei: Die juristische Lösung war, dass die Ernennung zwar als ungesetzlich eingestuft wurde, es allerdings nicht den einzelnen betroffenen Beamten angelastet werden konnte. Das heißt Paul Walzer bezog weiter sein Konsistorialpräsidentengehalt.
Gleichzeitig lohnt es sich, ausgehend von meinem Eindruck aus der Personalakte zurück zum Titel des Beitrags zu gehen und zum Schluss die Frage zu stellen: Was bedeutet diese Geschichte auch für Paul Walzers Nachfolger, für Georg Rapmund, für Walter Siebert, für Dr. Johannes Heinrich? Gibt es eine „deutsch-christliche“ Tradition in diesem Konsistorium? Man wird 1934 bis 1945 an dieser Stelle der Institution keine Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus finden.
[1] „Konsistorium“ ist nur noch in der EKBO der Name für die landeskirchliche Verwaltung, in anderen Landeskirchen nennt sie sich „Kirchenamt“ oder ähnlich. Zur Lücke in der Präsidentengalerie: Krogel, Wolfgang, Normalität und Notstand. Pfarrschaft, Juristen und protestantisches Milieu 1914 bis 1949 – Forschungsfragen zum Beitrag protestantischer Strömungen zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, 69. Folge, 2019, S. 117-130, hier: S. 127.↩
[2] Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919–1949, zusammengestellt und bearbeitet von Hannelore Braun und Gertraud Grünzinger, Göttingen 2006, S. 268.↩
[3] Ev. Zentralarchiv 7/P/1469.↩
[4] Archiv der EKD, A 4, Bd. 115 zitiert nach Gerhard Schäfer, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, Bd. 3, Stuttgart 1974, S. 530, FN 15a.↩
[5] Ev. Landeskirchliches Archiv in Berlin 7.10/253.↩
[6] Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2, München 2000, S. 394-403.↩
[7] Martin Lutz, Akteurszentrierter Institutionalismus, in: Clemens Wischermann, Katja Petzel-Mattern, Martin Lutz et al. (Hg.), Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Stuttgart 2015, S. 48-52, hier S. 51. Vgl. Simone Lässig: Introduction: Biography in Modern History – Modern Historiography in Biography, in: Volker R. Berghahn, Simone Lässig (Hg.): Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York/Oxford 2008, S. 1-27.↩
[8] Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 85.↩
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Walzer (zuletzt aufgerufen: 26.8.2020)↩
[10] Ev. Zentralarchiv 7/P/1469.↩
SFR – Selected Further Reading
- Michael Wildt, „Volksgemeinschaft”, Version: 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 3.6.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Volksgemeinschaft
- Manfred Gailus, Wolfgang Krogel, Von der babylonischen Gefangenschaft Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalsozialismus. Regionalstudien zu Protestantismus, Wichern Verlag 2006
- Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945 – 1949 : die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit / Clemens Vollnhals. – München : Oldenbourg, 1989
- Akademie der Nordkirche, Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen, Online Ausstellung unter: https://www.nordkirche-nach45.de/
- Hartmut Ludwig, Die Berliner Theologische Fakultät 1933 bis 1945. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Band II: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, S. 93–122.
Über den Autor
Dr. Johan Wagner ist Referent für Fördermittelrecht der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Er gehört zum Lehrbeauftragten-Pool des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsinteressen und Arbeitsgebiete sind Europäische Integration, Pressegeschichte, europäische Beziehungen zur arabischen Welt, Wissenschaftsstrategie, konfessionelle Entwicklungen in Europa, europäische Konflikt- und Friedensgeschichte, siehe auch: https://www.clioonline.de/researcher/id/researcher-5652