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Was uns Bücher nicht erzählen – Der lange Weg der Bibliothek der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden

von Laura Steinbrück

Wie es sich angefühlt haben muss, als am 11. November 1938 die Büroräume der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ (kurz: „Gesellschaft“) von Nationalsozialisten gestürmt und demoliert wurden, kann man heute kaum mehr nachempfinden. Für die „Gesellschaft“ war das Ereignis im Rahmen der Novemberpogrome einschneidend und sollte eine Vorahnung auf die kommenden Jahre liefern. Schon zuvor hatte die Vereinigung der „Deutschen Christen“ ihre ablehnende Haltung gegenüber der Judenmission deutlich gemacht. Die „Gesellschaft“ setzte sich aber genau für diese ein. In der Messiaskapelle in Prenzlauer Berg wurde noch lange nach der Machtübergabe an Adolf Hitler Taufunterricht angeboten und Juden:Jüdinnen der Eintritt in das Christentum ermöglicht. In den Räumen der Gesellschaft befand sich auch eine umfassende Bibliothek, die für den Unterricht genutzt wurde. [1] Die Verfügung zur Schließung des Vereins und zum Einzug des gesamten Vermögens überraschten die „Gesellschaft“ als Folge nicht. Trotzdem waren die Konsequenzen gravierend: Im Frühjahr 1941 besetzte die Gestapo die Geschäftsstelle und beschlagnahmte jegliches Inventar.[2] Die dazugehörige Verfügung zum Einzug des Vermögens geht von einem Bibliotheksbestand der „Gesellschaft“ von ca. 2.000 Büchern aus.[3]

Möglicherweise habe der Einspruch des damaligen Pfarrers Wilhelm Knieschke dazu beigetragen, die Staatspolizei davon abzuhalten, diese Bücher auf dem direkten Weg zu vernichten.[4] In den folgenden Jahren blieb die Kapelle geschlossen, dem Pfarrer Knieschke wurde die Arbeit verboten.

Doch was passierte mit der Bibliothek? Noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges ging der wiedergegründete Verein von einem Verlust der Bibliothek aus. Die Bücher galten als verschwunden. War diese Befürchtung berechtigt?

Tatsächlich wurden die Bücher nicht verbrannt, sondern an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin übergeben. Zynischerweise wurden dort in der Annahmestelle am 19. Juni 1941 die ersten Bücher der „Gesellschaft“ von den Archivar:innen im Zugangsbuch für „Geschenke“ vermerkt – dabei handelte es sich jedoch lediglich um 40 Titel. Beinahe ein ganzes Jahr später, im März 1942, folgten 320 weitere Exemplare. Das lag daran, dass die Staatsbibliothek von der Anzahl der eingehenden Bücher überlastet war, da sie zur zentralen Verteilstelle für alle beschlagnahmten Bücher des Reiches aufstieg.[5] Gleichzeitig hatte auch das fortschreitende Kriegsgeschehen Auswirkungen auf die Arbeit der Annahmestelle. Bestände wurden auseinandergerissen, Bücher an scheinbar sicherere Orte gebracht oder einfach an andere Institutionen weitergegeben.[6] So verlor sich auch der Rest der Bibliothek aus der Messiaskapelle im Kriegsgewirr – in der Staatsbibliothek wurden die Bücher nie offiziell angenommen. Die verzeichneten Bücher der „Gesellschaft“ in der Staatsbibliothek verblieben dort erst einmal, ohne dass sie Beachtung fanden. Und das nicht nur bis zum Ende des Krieges, sondern weit darüber hinaus. Erst in den 2000er-Jahren begann die Staatsbibliothek, sich systematisch mit ihren Beständen auseinanderzusetzen, um mögliches NS-Raubgut ausfindig zu machen. Im November 2007 wurde dafür vor Ort eine Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und -forschung eröffnet. Die dortigen Provenienzforscher:innen stießen in diesem Zusammenhang auf genau jene Vermerke im Zugangsbuch der Staatsbibliothek, die 65 Jahre zuvor dort verzeichnet wurden und auf den ursprünglichen Besitzer der Bücher die „Gesellschaft“ verweisen. Im September 2010 erfolgte die Restitution der ausfindig gemachten Bücher an das Berliner Missionswerk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der offiziellen Rechtsnachfolge der „Gesellschaft“, die nach ihrer Wiedergründung im Jahr 1948 noch bis 1982 bestand.[7] Im selben Jahr veröffentlichte Michaela Scheibe als damals stellvertretende Leiterin der Abteilung Historische Drucke einen Artikel über den Restitutionsprozess im Bibliotheksmagazin. Durch den Artikel wurde auch die Landes- und Universitätsbibliothek in Hamburg auf die Zwangsschließung und Beschlagnahmung der Bücher der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden aufmerksam.[8]

Auch in der Universitätsbibliothek Hamburg werden seit 2010 Überprüfungen der Bestände in Hinblick auf ihre Provenienz vorgenommen. Und tatsächlich wurden die Archivar:innen im Oktober 2010 auf vier Bücher aufmerksam, die ebenfalls den Stempel der „Gesellschaft“ auf ihren Titelseiten verzeichneten. Die entdeckten Bücher hatten bereits einen langen Weg hinter sich: Von der Annahmestelle der Staatsbibliothek waren diese anscheinend noch während des Krieges an die „Reichstauschstelle“ für Bücher weitergegeben worden. Diese war 1926 als Teil der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet worden, jedoch seit 1934 als eigenständige Dienststelle tätig. Die Reichstauschstelle war damit beauftragt, Bibliotheken im Deutschen Reich beim Erwerb verloren gegangener oder durch den Krieg beschädigten Bücher zu unterstützen. Ihr Bestand setzte sich aus meist angekauften Büchern aus den Ostgebieten,[9] aber genauso aus beschlagnahmten Büchern von Einzelpersonen und Bibliotheken zusammen. Viele Bibliotheken nutzten das Angebot der Reichstauschstelle, so auch die Landesbibliothek in Hamburg. Von dort waren die vier betreffenden Bücher 1943 in die Bestände der Universitätsbibliothek gelangt. Im Juni 2011 wurden auch diese an das Berliner Missionswerk übergeben.

Zuletzt wurden im August 2016 fünfzehn weitere Bücher an das Missionswerk restituiert. Diese waren während des Krieges an das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ weitergegeben worden. Seit 1936 besaß das Reichsinstitut eine Forschungsabteilung zur „Judenfrage“, welche vor allem nationalsozialistisches, pseudowissenschaftliches Propagandamaterial herausgab. Nach Ende des Krieges kamen die betreffenden Bücher erst 1982 zurück in den Besitz der Staatsbibliothek.

Die ca. 400 restituierten Bücher stehen heute im Magazin der gemeinsamen Bibliothek der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Berliner Missionswerks in Berlin Friedrichshain. Der Großteil jedoch gilt als verloren, wurde wahrscheinlich im Kriege zerstört, zumindest aber auseinandergerissen und weit über das Land verteilt.[10] Mit dem Verlust der Bibliothek ist auch viel Wissen über die damalige Vereinigung und ihre Arbeit verloren gegangen. Durch die Bestände der Bibliothek ließe sich ablesen, mit welchen Themen sich die „Gesellschaft“ befasste, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit setzte, aber auch, welche Inhalte sie außerhalb der Judenmission beschäftigte. So überrascht noch heute die Diversität der verbliebenen Bestände. Sie zeigt auf, dass sich die „Gesellschaft“ auch mit der politischen Lage der Juden:Jüdinnen in Europa auseinandersetze, zeitgenössische Abhandlungen über das Juden- und Christentum und philosophische und praktische Auseinandersetzungen mit dem Zionismus besaß. Darüber hinaus beschäftigte sie sich auch mit Palästina als religiöser Heimatstädte für Juden:Jüdinnen und Christen:Christinnen. Der Bestand beeindruckt auch heute noch mit umfangreichen Materialien für die Judenmission, so sticht zum Beispiel ein Neues Testament heraus, welches auf Jiddisch übersetzt wurde. Auch umfasst die Bibliothek Lehrbücher, die extra für den Taufunterricht jüdischer Taufanwärter:innen verfasst wurden. Dass der Verein die Restitution einiger seiner Bibliotheksbestände nicht mehr miterlebte, zeigt auf, wie langwierig solche Verfahren sein können. Gleichzeitig beteht aber auch Hoffnung, dass in Zukunft noch weitere Bücher der ehemaligen Messiaskapelle entdeckt werden können. Da die „Gesellschaft“ heute nicht mehr besteht, kann sie auch ihren Verlust der Bibliothek nicht mehr anklagen und auch keine weiteren Recherchen zum Verbleib der Bücher anstellen. An dieser Stelle ist der Einsatz von engagierten Einzelpersonen und Institutionen gefragt, um nicht zuletzt das bis ins 21. Jahrhundert bestehende Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus aufdecken und im möglichen Umfang beseitigen zu können.

Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.


[1] Der genaue Umfang dieser Bibliothek kann heute nicht mehr ermittelt werden. Allerdings kann nachvollzogen werden, dass die „Gesellschaft“ in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich mindestens 1.000 Mark für die Anschaffung neuer Publikationen vorsah. Vgl. evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, bisher online nicht aufgelistete Akten der „Gesellschaft“, die 2010 an das Archiv restituiert wurden.

[2] Der genaue Zeitpunkt der Schließung ist unklar. Das evangelische Landeskirchliche Archiv in Berlin und Michaela Scheibe verweisen auf den 23. Januar. Die Verfügung der Geheimen Staatspolizei und auch Pfarrer Wilhelm Knieschke nennen den 18. April 1941. Ein möglicher Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Zeitangaben ist, dass bereits im Januar die Räumlichkeiten der Kapelle durch die Gestapo geschlossen wurden, eine offizielle Verfügung aber erst Monate später folgte. Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz. In: Gesellschaft für Exilforschung (Hrsg.): Bibliotheken und Sammlungen im Exil. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 29/2011. edition text + kritik, S. 188 und Knieschke, W.: Nathanael, S. 13.

[3] Verfügung der Gestapo vom 18. April 1941 aus dem Archiv der ev. Landeskirche in Berlin, ELAB 1/1113: „Zu den eingezogenen Vermögen gehören insbesondere: […] e) Die Bibliothek mit ca. 2000 Büchern“.

[4] Allerdings war Kniesches Einspruch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausschlaggebend für die Übergabe der Bücher an die Staatsbibliothek. Vielmehr war es auch eine Anordnung des Reichsministeriums für Finanzen, beschlagnahmte Schriften, insbesondere jüdische und hebräische Literatur, an die Staatsbibliothek zu übergeben. Dabei dürfte auch die räumliche Nähe der Büroräume der Gesellschaft zur Annahmestelle der Staatsbibliothek begünstigend auf die Übergabe eingewirkt haben. Vgl. Knieschke, W.: Nathanael. Ein kleiner Bericht zur Missionsarbeit am Volke Israel, S. 13. und Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek. Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. K. G. Saur 2008, S. 2f.

[5] Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz, S. 182.

[6] Vgl. Ebd. S. 188.

[7] Noch lange nach 1945 hielten große Teile der evangelischen Kirche am Konzept der Judenmission fest. Erst mit den 1980er-Jahren trat die Kirche in eine neue Phase der Reflektion des Nationalsozialismus und der Shoah ein. Die Thematik blieb aber umstritten. Trotzdem dienten diese Debatten beispielsweise als Ausgangspunkt für den Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ der evangelischen Kirche der DDR aus dem Jahr 1990. In dieser bekennt sich die Kirche zum Staat Israel, gegen den Antisemitismus und gegen das Konzept der Judenmission. Vgl. Pavlush, T.: Kirche nach Auschwitz zwischen Theologie und Vergangenheitspolitik. Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchen beider deutschen Staaten mit der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Peter Lang 2015, S.107.

[8] Informationen aus direktem Kontakt mit Anneke de Rudder, Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

[9] Der „Ankauf“ von Büchern und Bibliotheken war meist auch von einem Zwang geprägt, den die Staatspolizei auf „Verkäufer“ ausübte. In der Provenienzforschung stellt sich daher auch die Frage, inwiefern solche „Kaufverträge“ heute rechtmäßig sind. Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 1.

[10] Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 158.

[11] Die Standortbezeichnung „Judenmission“ stammt noch aus der historischen Systematik, welche bei Entstehung der Bibliothek erarbeitet wurde und auf den Sonderbestand der restituierten Bücher hinweist. Eine Überarbeitung der Archivsystematik mit ihren Bezeichnungen ist bereits vom aktuellen Bibliotheksleiter angedacht.

Über die Autorin

Laura Steinbrück studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

Erinnerungskultur und aktueller Stand kirchlicher Aufarbeitung – Interview-Podcast

von Sophia Lamprecht und Shirin Sommer

Zwei Studentinnen im Q-Team des Sommersemesters 2020 haben sich mit vor allem pädagogischen Fragen zum Thema Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949 gestellt. Fragen im Vorfeld des hier veröffentlichten Interview-Podcasts waren:

  • Wie vermittelt man Funktionen von Kirche und Glauben, wie Erinnerung, Umgang mit eigener oder vergangener Schuld, Versöhnung an junge Menschen?
  • Was ist die Rolle der Kirche in der erinnerungspolitischen Landschaft von Gedenkstätten, öffentlichem Gedenken und historischer Forschung?
  • Ist kirchliche Aufarbeitung weiterhin beeinflusst von den ersten Phasen der Aufarbeitung und Verdrängung der 1950er Jahre?

Zweiter Podcast der Reihe ist ein Interview mit Frau Pfarrerin Marion Gardei, der Beauftragten für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Einen ersten Beitrag dieser Reihe finden Sie hier: Erinnerungskultur und Public History – Interview-Podcast

Frau Pfarrerin Marion Gardei pflegt ein eigenes Portal zu erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Themen:

https://www.erinnerungskultur-ekbo.de

Beispiel institutionelle Erinnerungskultur: Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, das Gespräch wurde im Corona-Sommer 2020 in Präsenz, allerdings mit großem Abstand in einem größeren Andachtsraum geführt. Daher ist die Tonqualität nicht optimal. Einige Aspekte des Themas haben sich Stand 2023 bereits deutlich weiterentwickelt.

Schuld – Mitschuld – Unschuld. Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus

von Victoria Klärner, Vera Klauser Soldá und Henrik Scholle

Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten.

Matthäus 6,24

Die Kooperation von Kirche und Staat zur Zeit des Nationalsozialismus zeigt, dass dieses Bekenntnis nicht immer auch umgesetzt wurde. Beide Institutionen verband eine enge Kooperation; angesichts des Zitats wird somit ein gewisses Konfliktpotenzial deutlich. Obwohl die Zeit des Nationalsozialismus bis heute umfassend erforscht wurde und die Kenntnis über die systematische Verfolgung der Juden zum Allgemeinwissen zählt, ist das bezüglich der Zusammenarbeit von NS und Kirche nicht immer der Fall. Es gibt kaum ein Bewusstsein dafür, inwiefern und vor allem auch, dass die evangelische Kirche überhaupt in das System integriert war.

Diese Tatsache war ausschlaggebend für uns, das Thema als Einführung aufzubereiten, um eine Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesem häufig vernachlässigten Teil der Kirchengeschichte zu schaffen. Dabei haben wir uns bemüht, eine objektive und kritische Sichtweise einzunehmen und zudem eine besondere Art der Wissensvermittlung gewählt, um das Thema zugänglicher zu machen und von anderen Darstellungen abzuheben.

Wir, das sind übrigens: Victoria Klärner (Master Deutsche Literatur, HU), Vera Klauser Soldá (Master Deutsche Literatur, HU) und Henrik Scholle (Bachelor Geschichts- und Sozialwissenschaften, HU). Verantwortlich für Layout und grafische Gestaltung ist Johanna Groß (Bachelor Grafikdesign und Visuelle Kommunikation, HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft).

Broschüre: Schuld – Mitschuld – Unschuld. Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus (PDF, ca. 10MB)

Dieser Beitrag wurde leicht verändert und von seinem ursprünglichen Erscheinungsdatum 2022 auf 2023 datiert, nachdem die Broschüre nach langen Vorarbeiten als PDF-Version zur Verfügung stand.

Die „getauften Juden“ im Blick evangelischer NS-Anhänger


„Judenfrage. Eilige Entscheidung erforderlich.“ Briefkopf eines Schreibens der Nationalkirchlichen Einung/Deutschen Christen

Die Nationalsozialist_innen verfolgten Jüdinnen und Juden unabhängig ihres individuellen Bekenntnisses. Ausschlaggebend für die Verfolgung war der „Rassestatus“, welchen die Nationalsozialist_innen an der jüdischen Glaubenszugehörigkeit einer Person oder ihrer Vorfahren zu konstruieren versuchten. Auch Personen, die getauft waren und ein christliches Selbstverständnis hatten, waren den Schikanen des Regimes ausgesetzt. Das Schicksal der Berliner Lehrerin Margarete Draeger zeigt dies sehr eindrücklich. Draeger wurde in einem protestantischen Elternhaus aufgezogen und wusste bis zu ihrer Entlassung aus dem Schuldienst aufgrund des „Arierparagraphen“ nichts von ihrer jüdischen Familiengeschichte. Im August 1944 wurde sie dennoch nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.[1] Kirchengemeinden während der NS-Zeit waren folglich damit konfrontiert, dass das nationalsozialistische Regime Teile ihrer Mitglieder verfolgte. Trotz der gesellschaftspolitischen Relevanz der Kirchen unterblieb ein Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung bekanntlich weitestgehend.[2] Doch auch die Verfolgung der eigenen Glaubensbrüder und -schwestern hatte lediglich individuellen und vereinzelten Widerstand zur Folge.[3] Im Folgenden soll anhand eines Briefes der Frage nachgegangen werden, inwiefern dies auch mit dem Bild der Christ_innen jüdischer Herkunft zusammenhing, welches insbesondere in Teilen der evangelischen Glaubensgemeinschaft weit verbreitet war.

„Eine grundsätzliche Verordnung, die die Judenfrage regelt, wird daher dringend erwartet“

Seit dem 19.September 1941 mussten all jene Personen einen „Judenstern“ tragen die, der Ansicht der Nationalsozialist_innen zu Folge, als Juden galten. Wie sehr diese Maßnahme auch Christ_innen jüdischer Herkunft traf, zeigt ein Brief[4] der Berliner Landesgemeinde der „Nationalkirchlichen Einung – Deutsche Christen“[5] an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 28. Oktober 1941. Bezugnehmend auf Vorkommnisse in Berliner Kirchengemeinden, in denen „Juden“ an Gottesdiensten und weiteren kirchlichen Veranstaltungen teilgenommen hatten, forderte der Autor[6] hierin implizit den Ausschluss jener Christ_innen aus den Kirchengemeinden, welche eine jüdische Familiengeschichte hatten. Beeindruckend ist hierbei, mit welchem Selbstverständnis und mit welchen kaum verhohlenen Drohungen der Vertreter der kirchenparteilichen Gruppierung die kirchliche Oberbehörde zu einer umgehenden Entscheidung drängte.[7] So führt er in dem Brief beispielsweise aus, dass die evangelischen Kirchen, die einzigen Stätten seien, an welchen „Juden“ noch mit Christ_innen zusammenkommen könnten und dass dies von der „deutsche Volkseele […] als unerträglich“ empfunden werde. Neben der Missbilligung dieses Umstandes richtet der Schreibende dabei eine deutliche Warnung an den Oberkirchenrat und dessen von ihm offenbar als allzu „judenfreundlich“ wahrgenommenen Umgang aus.

Doch womit begründet der Kirchenmann seine Handlungsaufforderung und warum fordert er diese mit Vehemenz ein?

Der Autor führt in dem Brief aus, dass Jüdinnen und Juden nicht aus „religiösen Gründen und um der Wahrheit willen“ konvertierten, sondern aus „gesellschaftlichen Gründen“. Den trotz ihrer Konversion in dem Brief stets als „Juden“ Bezeichneten attestiert der NS-Kirchenmann dabei instrumentelle Beweggründe. Ihnen sei es lediglich darum gegangen „aus dem Übertritt Kapital zu schlagen“ und „hoffähig“ zu werden. Überdies seien selbst „geistig geschulte Juden“ nicht in der Lage zu begreifen was die „Christenmenschen“ bewegt, deshalb sei nicht davon auszugehen, „dass der Durchschnitt der Juden, die sich in die evangelische Kirche haben aufnehmen lassen, innerlich tatsächlich Christen geworden sind.“

Aus dem im Brief Formulierten lässt sich einiges ableiten:

In den Ausführungen wird eine dichotome Gegenüberstellung von Jüdinnen und Juden mit Deutschen (und nicht von Christ_innen!) vollzogen. Das Jüdischsein wird nicht, beziehungsweise nicht primär als religiöse Angelegenheit gefasst, sondern als „rassische“. Juden werden in dieser antisemitischen Konstruktion nicht als Teil der Eigengruppe aber auch nicht als vermeintlich anderes nationales Kollektiv gedacht, sondern als das Andere par excellence, als „Gegenrasse“. Die Gruppenkonstruktionen sind in dieser Logik starr gedacht, ein Ausbrechen des Einzelnen aus seinem „rassischen Schicksal“ ist in diesem Denken nicht vorstellbar. Demgemäß ist auch nicht von „Christen jüdischer Herkunft“ o.ä. die Rede, sondern nur von „(getauften) Juden“. Wenn jedoch ein individueller Glaubensübertritt aus religiöser Überzeugung nicht denkbar ist, stellt sich dem Antisemiten – der nur in Nutzenkategorien denken kann – natürlich die Frage nach den Beweggründen einer Konversion. In dem Brief wird eine Angst des Kirchenmannes vor der Unterwanderung der Kirchen durch sich taufende Jüdinnen und Juden deutlich, in Folge derer er eine geistige „Zersetzung“ der Religion befürchtet. Dies wird unter anderem in den Ausführungen klar, in denen der Autor von einer angeblich bereits vonstattengegangenen jüdischen Übernahme der evangelischen Kirche fabuliert: „Die Zeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, wo ein reaktionärer Judenstämmling[8] in der evangelischen Kirche den grössten [sic!] Einfluss hatte, ist allgemein bekannt.“

Der Autor sieht in den Christ_innen jüdischer Herkunft folglich einen unsichtbaren Feind in den eigenen Reihen. Zwar wird dies in dem Brief nicht ausbuchstabiert, aus der paranoiden Denkweise der Nationalsozialist_innen kann jedoch geschlossen werden, dass gerade in dieser imaginierten unsichtbaren und damit auch unberechenbaren Bedrohung aus den eigenen Reihen eine besondere Gefahr gesehen wurde.[9] Die Vehemenz, in welcher der Brief geschrieben wurde, erklärt sich auch daraus, dass es sich in der Logik des Schreibenden um eine „Schicksalsfrage“ handelt. Von der eingeforderten eiligen Entscheidung hänge es ab, ob die vom Autor fabulierte Unterwanderung aufgehalten werden könne.

Zwar kann auf Grundlage des Briefes keineswegs eine generelle Position innerhalb der Kirchengemeinde abgelesen werden, aufgrund der Stellung der „Deutschen Christen“ zu und im NS-Regime kann jedoch zumindest eine gewisse Verbreitung wie auch Wirkmächtigkeit der Inhalte angenommen werden. Erkennbar wurde, dass ein signifikanter Teil der evangelischen Christ_innen eine „judenfreie“ Kirche zu etablieren und den Christen jüdischer Herkunft den letzten potentiellen Schutzzusammenhang zu nehmen versuchten. Aus dem Brief lässt sich aber auch ablesen wie die nationalsozialistische Judenverfolgung funktionierte. Diese war nicht lediglich von einzelnen Funktionär_innen angeordnet, sondern funktionierte gerade durch die aktive und sich überbietende Teilnahme Einzelner. Insbesondere aus dem Selbstverständnis, in welchem der vorliegende Brief geschrieben wurde, lässt sich ablesen, wie diese sich dabei als Vollstrecker_innen eines Volkswillens inszenierten und fühlten. Angesichts des Datums des Briefes – folglich zehn Tage nachdem mit dem ersten Deportationszug 1251 Berliner Jüdinnen und Juden in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) gebracht wurden– kann in dem Brief demgemäß nicht nur eine klare Kampfansage an die „Judenfreunde“ innerhalb der evangelischen Kirche gesehen werden. Vielmehr muss in diesem ein Plädoyer eines kirchenpolitischen Akteurs für eine allumfassende „Lösung der Judenfrage“ gesehen werden.

Literaturliste:

Gailus, Manfred (2008). Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen

Hetzer, Tanja (2012). Deutsche Christen. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 5. Organisationen, Institutionen, Bewegungen. De Gruyter GmbH. Berlin, S. 145-147

Karlsböck, Tanja/Eidherr, Armin (o.J.). Marranos. In: Handbuch Jüdische Kulturgeschichte. Online abrufbar unter http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/marranos/, zuletzt abgerufen am 11.07.2021

Krogel, Wolfgang (2008). Einleitung. In: Frisius, Hildegard e.a. (Hrsg.): Evangelisch getauft – als Jude verfolgt. Spurensuchen Berliner Kirchengemeinden. Wichern Verlag. Berlin, S. 13-27

Lachenicht, Gerlind (2013). Kampf für rassisch Verfolgte: Die zwei protestantischen Lehrerinnen Margarte Draeger und Elisabeth Schmitz. In: Lachenicht, Gerlind e.a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus. Wichern-Verlag GmbH. Berlin, S. 66-84

Radosh-Hinder, Silke (2013). Staat und Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Taufe. In: Lachenicht, Gerlind e.a. (Hrsg.): Der Stern im Taufbecken. Berliner Christen jüdischer Herkunft und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus. Wichern-Verlag GmbH. Berlin, S. 47-65


[1] vgl. Lachenicht 2008, S.66ff.

[2] Vielmehr sprechen viele Historiker_innen von einer kirchlichen Amtshilfe (Gailus 2008) oder der Mitwirkung der Kirchen bei der Durchsetzung der rassepolitischen Ziele des NS-Staates (Krogel 2008, S.14).

[3] Vgl. z.B. Radosh-Hinder 2013, S.47ff.

[4] Evangelisches Landeskirchliches Archiv, Quellensignatur ELAB 14/957

[5] Die „Nationalkirchliche Einung – Deutsche Christen“ (auch: „Nationalkirchliche Bewegung“, bzw. „Einigung Deutscher Christen“) war eine 1938 entstandene und besonders radikale Gruppe innerhalb der nationalsozialistischen kirchenpolitischen Fraktion der „Deutschen Christen“. Sie vertrat ein „völkisches Christentum“ und gründete 1939 das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Ziel war es das Christentum zu „entjuden“, womit unter anderem die Entfernung aller Christ_innen jüdischer Herkunft aus den Kirchengemeinden gemeint war (vgl. Hetzer 2012, S.145ff.).

[6] Bei dem Autor handelt es sich wohl um Dr. Robert Schwellenbach. Eine verifizierende Personenrecherche konnte hier leider nicht vollzogen werden. Aus dem Brief geht jedoch hervor, dass er in Vertretung des, zu dieser Zeit offenbar zum Heeresdienst eingezogenen, Leiters der Landesgemeinde handelte und womöglich als stellvertretender Leiter fungierte.

[7] Ob und gegebenenfalls wie die Adressierten auf das Schreiben der „Nationalkirchlichen Einung“ reagierten ist unbekannt und konnte im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden.

[8] Wer der vom Autor Angesprochene sein könnte bleibt unklar. Es könnte sich jedoch um Friedrich Julius Stahl handeln, der als Kind jüdischer Eltern zum Christentum konvertierte und Mitte des 19.Jahrhunderts Mitglied des altpreußischen evangelischen Oberkirchenrats war (https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Julius_Stahl).

[9] Als historische Referenz kann auf die „Conversos“ verwiesen werden. Die iberischen Jüdinnen und Juden, die zum Christentum konvertierten, vielfach aber auch zwangsgetauft wurden, standen absurderweise insbesondere wegen ihrer erfolgreichen Integration in die Mehrheitsgesellschaft unter Verdacht ihre alte Religion weiterauszuüben und die christliche Gesellschaft von innen zu unterwandern (vgl. Karlsböck/Eidherr o.J.).

16. Juli 2021 | Veröffentlicht von Marcel Stastny | Kein Kommentar »
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