UNAUSGESPROCHEN

Eine Erzählung von Aleksandra Piotrowska

Sie wohnten in einem Dorf am Rande der Welt. Es war ganz in der Mitte von Nirgendwo, weder nah
noch fern, in der gleichen Entfernung von drei größeren Städten, aber irgendwie nie auf dem Weg.
Das Dorf war immer friedlich, die Nachbarn waren immer bekannt und die Luft schmeckte immer
gleich. Die Dorfbewohner kannten Glück und Trauer und die ganze Bandbreite an alltäglichen
Emotionen, aber sie fühlten nie so tief, wie es außerhalb des Dorfes als üblich galt. So war es einfach auf dem Dorf, wo Routine und Langeweile die Fähigkeit zum alltäglichen Empfinden lähmten. Wenn etwas Außergewöhnliches passieren würde, würden die Bewohner wahrscheinlich nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollten.

An jenem Tag war die Atmosphäre im Haus von Alfred und Rosalie auch friedlich. Der Kamin leuchtete hell. Rosalie lag auf dem Sofa, zugedeckt mit einer Decke. Ihr Gesicht sah müde und etwas blass aus, aber vielleicht lag das auch nur am Kaminlicht. Nur das prasselnde Kaminfeuer störte die Stille, die das ganze Haus erfüllte.

Dann hörte Rosalie plötzlich Schritte auf dem Kies. Sie wollte immer ein Haus mit einem Kies-Vorplatz haben, der die Ankunft der Gäste ankündigen würde. Alfred, der oft im Garten arbeitete, konnte das Knirschen nur schwer ertragen.

»Wer ist das?«, fragte Rosalie.

Sie schaute Alfred an, der seine Hände abwischte. Er kam gerade zurück vom Garten, wo er zusammen mit ihrem Nachbarn die Hecken geschnitten hatte. Er wirkte zufrieden. als er die Schritte hörte.

»Alfred.«
»Ich habe einen Arzt gerufen.«
»Hinter meinem Rücken?«
»Du weißt wohl, es würde noch ein paar Tage dauern, bis du es mir endlich erlauben würdest.«

Es klopfte an der Tür. Alfred legte den Lumpen zur Seite und öffnete sie. Hinter ihr stand ein Mann in
einem Mantel. Er hatte eine runde Brille auf der Nase und eine Arzttasche unter dem Arm. Er schaute
Alfred freundlich an und sagte:

»Dr. Hofmann. Spreche ich mit Herrn Meier?«
»Das stimmt. Danke, dass Sie gekommen sind, kommen Sie bitte herein. Sie finden meine
Frau im Wohnzimmer.«

Dr. Hofmann trat folgsam ins Zimmer. Das Haus war nicht groß, aber auf keinen Fall winzig. Die
kahlen Wände und gedämpften Farben wirkten traurig, aber das Kaminlicht hellte die Stimmung auf.
Zuerst konnte Dr. Hofmann Rosalies Gesichtsausdruck nicht sehen; erst als er den Platz im Sessel
neben dem Sofa nahm, sah er ihren misstrauischen Blick.

Die Untersuchung dauerte nicht mehr als 20 Minuten. Der Arzt maß den Blutdruck, hörte die Brust
ab, untersuchte den Rachen und führte mit Rosalie eine kurze Anamnese durch. Sie beantwortete alle Fragen, jedoch sehr kurz angebunden und mit Irritation in der Stimme. Alfred stand die ganze Zeit in der Küche, schaute durch das Fenster hinaus und spielte nervös mit seinen Fingern.

Nach der Untersuchung setzte er sich zusammen mit Rosalie auf das Sofa gegenüber von Dr.
Hofmann.

»Naja«, begann der Arzt, »Sie wissen bestimmt, dass die Diagnose nicht hundertprozentig
richtig sein mag. Um sicherzustellen, woran Sie leiden, brauchen wir natürlich weitere
Untersuchungen, wahrscheinlich auch einen Besuch im Krankenhaus und…«
»Hören Sie bitte endlich auf«, unterbrach Rosalie, ihre Stimme fremd und leer.
»Es ist Krebs, nicht wahr?«

Es wurde still. Immer stärker und unerträglicher, summte die Stille in den Ohren der Anwesenden,
füllte ihre Köpfe mit unmöglichen Gedanken, dem Wunsch nach sofortiger Aufklärung und
Schmerzen. Stille, diese Flüssigkeit, die sich über ihren Alltag ergoss, machte Hände zitterig und
verursachte Bauchkrämpfe. Sie erfüllte das ganze Haus und der gebliebene Platz war so knapp, dass
man kaum atmen konnte. Rosalie wollte sich plötzlich übergeben. Alfred sah nicht besser aus.

»Nein«, erwiderte Dr. Hofmann.
»Wie bitte?«
»Ich glaube nicht, dass es Krebs ist. Es bedeutet jedoch nicht, dass es viel besser ist.«
»Was meinen Sie?«, fragte Rosalie.

Dr. Hofmann senkte den Blick und nahm einen tiefen Atemzug.

»Ich glaube, dass die Symptome eher einen psychischen Ursprung haben. Sie tragen etwas in
sich, Frau Meier, das Sie von innen heraus zerstört. Ein Unglück. Eine Katastrophe, die Ihr
Leben verändert hat. Vielleicht Schuldgefühl oder ein traumatischer Verlust.«

Rosalie presste ihre Lippen zusammen

»Sie müssen dringend zum Psychologen gehen, damit er herausfinden kann, was das ist.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte sie.
»Ja, vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.«

Alfred senkte den Blick. Rosalies Hände zitterten, aber nicht so wie früher. Sie konnte sie nicht
kontrollieren. Ihr Blick war nervös, die Lippen suchten nach den richtigen Worten, aber konnten sie
nicht aussprechen. Sie schaute schnell zu Alfred, aber er saß ebenso still wie früher.
Ihr Gesicht verfinsterte sich, sie runzelte die Stirn und schaute lange den Arzt an.

»Ich habe keine Kraft mehr. Das kann ich nicht noch mal durchmachen«, sagte sie schließlich.
»Wenn Sie nichts damit machen, wird es nur schlimmer. Ihnen bleibt nicht viel Zeit übrig«,
sagte der Arzt.

Alfred und Rosalie schwiegen.

Dr. Hofmann stand auf, nahm das Geld von Alfred und verließ das Haus. Schon draußen, ging er ein
paar Schritte auf dem Kies und dann blieb er plötzlich stehen. Das Kaminlicht warf Schatten auf die
Vorhänge am Fenster, der Lichtschein malte die Wände mit warmen Farben. Der Arzt lauschte.

Es war still.

Der Kies knirschte unter seinen Schritten. Der Mann verließ den Vorplatz und machte sich auf den
Weg.

6. Februar 2022 | Veröffentlicht von ehemaliges Mitglied
Veröffentlicht unter Kreativ schön / Schön kreativ
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