Auf einem neu gegründeten Blog auf hypotheses.org wurde kürzlich ein Beitrag zur Messiaskapelle veröffentlicht: Der „Taufverdacht“ und das Konsistorium der Mark Brandenburg
Aus dem Text:
Vor der ehemaligen Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 im Stadtteil Prenzlauer Berg liegt seit dem 6. Oktober 2023 eine der wenigen Stolperschwellen in Berlin. Darauf ist das Wort „Taufort“ zu lesen. In diesem Beitrag geht es nicht so sehr nur um den Ort, vielmehr um die Gedankenfigur des „Taufverdachts“. Ich finde diese Wortschöpfung aktuell bei den üblichen Suchmaschinen im Internet nicht, finde es allerdings passend, um die evangelische Grundhaltung gegenüber der Taufe jüdischer Menschen nach ihrer staatlichen Emanzipation in unseren Landen zu beschreiben.
Zu dem Beitrag auf hypotheses.org: https://kircheimns.hypotheses.org/47
hypotheses.org ist ein Blogportal für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Das deutschsprachige Portal wird von OpenEdition und der Max Weber Stiftung (Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland) bereitgestellt. Der Blog “Kirche im NS – Kirche in Berlin und Brandenburg 1914 bis 1949” auf hypotheses.org wird getragen vom Geschichtswissenschaftskreis des Konsistoriums. Das Konsistorium ist die Oberbehörde der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Im Rahmen eines Forschungsseminars zu Kirche im Nationalsozialismus, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik sind verschiedene Projekte entstanden, die die Geschichte der Berliner Messiaskapelle erzählen.
Eines davon ist das Einzelschicksal der getauften Jüdin Ruth Wichmann geb. Heine, die in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und schließlich in den Gaskammern von Bernburg a. d. Saale ermordet wurde.
Die wenigen Originaldokumente zeigen, wie bruchstückhaft ihr Leben der Nachwelt erhalten geblieben ist. Mit Hilfe einer Künstlerin wurden realitätsnahe Gemälde angefertigt, die sie und die beiden Orte, die die Erinnerung an sie prägen, darstellen.
Weitere Projekte, die im Rahmen des Seminars zur Messiaskapelle durchgeführt wurden, sind auf diesem Blog zu finden.
Die Dokumentation und Recherche erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, dem Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin und dem Landesarchiv Berlin.
Künstlerin der Bilder ist Lara Maria Carrà: @lara_carra_art
Das Projekt wurde erarbeitet von Jonas Hauck.
Der Instagram-Post findet sich auf dem Instagram-Kanal der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:
https://www.instagram.com/gemeinsam_ekbo/p/C9O6ZjghEWm/?hl=de&img_index=1
#history #messiaskapelle #religion #berlin #prenzlauerberg #erinnerungskultur #niemalsvergessen #gedenken #erinnerung #stolpersteine #gedenkstätteravensbrück #bernburg #forschung #taufe #jüdin
von Laura Steinbrück
Wie es sich angefühlt haben muss, als am 11. November 1938 die Büroräume der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ (kurz: „Gesellschaft“) von Nationalsozialisten gestürmt und demoliert wurden, kann man heute kaum mehr nachempfinden. Für die „Gesellschaft“ war das Ereignis im Rahmen der Novemberpogrome einschneidend und sollte eine Vorahnung auf die kommenden Jahre liefern. Schon zuvor hatte die Vereinigung der „Deutschen Christen“ ihre ablehnende Haltung gegenüber der Judenmission deutlich gemacht. Die „Gesellschaft“ setzte sich aber genau für diese ein. In der Messiaskapelle in Prenzlauer Berg wurde noch lange nach der Machtübergabe an Adolf Hitler Taufunterricht angeboten und Juden:Jüdinnen der Eintritt in das Christentum ermöglicht. In den Räumen der Gesellschaft befand sich auch eine umfassende Bibliothek, die für den Unterricht genutzt wurde. [1] Die Verfügung zur Schließung des Vereins und zum Einzug des gesamten Vermögens überraschten die „Gesellschaft“ als Folge nicht. Trotzdem waren die Konsequenzen gravierend: Im Frühjahr 1941 besetzte die Gestapo die Geschäftsstelle und beschlagnahmte jegliches Inventar.[2] Die dazugehörige Verfügung zum Einzug des Vermögens geht von einem Bibliotheksbestand der „Gesellschaft“ von ca. 2.000 Büchern aus.[3]
„Nur die wertvolle Bibliothek ist auf meinen energischen Protest der Preussischen Staatsbibliothek überwiesen.“
Willhelm Knieschke, 1947
Möglicherweise habe der Einspruch des damaligen Pfarrers Wilhelm Knieschke dazu beigetragen, die Staatspolizei davon abzuhalten, diese Bücher auf dem direkten Weg zu vernichten.[4] In den folgenden Jahren blieb die Kapelle geschlossen, dem Pfarrer Knieschke wurde die Arbeit verboten.
Doch was passierte mit der Bibliothek? Noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges ging der wiedergegründete Verein von einem Verlust der Bibliothek aus. Die Bücher galten als verschwunden. War diese Befürchtung berechtigt?
Tatsächlich wurden die Bücher nicht verbrannt, sondern an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin übergeben. Zynischerweise wurden dort in der Annahmestelle am 19. Juni 1941 die ersten Bücher der „Gesellschaft“ von den Archivar:innen im Zugangsbuch für „Geschenke“ vermerkt – dabei handelte es sich jedoch lediglich um 40 Titel. Beinahe ein ganzes Jahr später, im März 1942, folgten 320 weitere Exemplare. Das lag daran, dass die Staatsbibliothek von der Anzahl der eingehenden Bücher überlastet war, da sie zur zentralen Verteilstelle für alle beschlagnahmten Bücher des Reiches aufstieg.[5] Gleichzeitig hatte auch das fortschreitende Kriegsgeschehen Auswirkungen auf die Arbeit der Annahmestelle. Bestände wurden auseinandergerissen, Bücher an scheinbar sicherere Orte gebracht oder einfach an andere Institutionen weitergegeben.[6] So verlor sich auch der Rest der Bibliothek aus der Messiaskapelle im Kriegsgewirr – in der Staatsbibliothek wurden die Bücher nie offiziell angenommen. Die verzeichneten Bücher der „Gesellschaft“ in der Staatsbibliothek verblieben dort erst einmal, ohne dass sie Beachtung fanden. Und das nicht nur bis zum Ende des Krieges, sondern weit darüber hinaus. Erst in den 2000er-Jahren begann die Staatsbibliothek, sich systematisch mit ihren Beständen auseinanderzusetzen, um mögliches NS-Raubgut ausfindig zu machen. Im November 2007 wurde dafür vor Ort eine Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und -forschung eröffnet. Die dortigen Provenienzforscher:innen stießen in diesem Zusammenhang auf genau jene Vermerke im Zugangsbuch der Staatsbibliothek, die 65 Jahre zuvor dort verzeichnet wurden und auf den ursprünglichen Besitzer der Bücher die „Gesellschaft“ verweisen. Im September 2010 erfolgte die Restitution der ausfindig gemachten Bücher an das Berliner Missionswerk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der offiziellen Rechtsnachfolge der „Gesellschaft“, die nach ihrer Wiedergründung im Jahr 1948 noch bis 1982 bestand.[7] Im selben Jahr veröffentlichte Michaela Scheibe als damals stellvertretende Leiterin der Abteilung Historische Drucke einen Artikel über den Restitutionsprozess im Bibliotheksmagazin. Durch den Artikel wurde auch die Landes- und Universitätsbibliothek in Hamburg auf die Zwangsschließung und Beschlagnahmung der Bücher der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden aufmerksam.[8]
Auch in der Universitätsbibliothek Hamburg werden seit 2010 Überprüfungen der Bestände in Hinblick auf ihre Provenienz vorgenommen. Und tatsächlich wurden die Archivar:innen im Oktober 2010 auf vier Bücher aufmerksam, die ebenfalls den Stempel der „Gesellschaft“ auf ihren Titelseiten verzeichneten. Die entdeckten Bücher hatten bereits einen langen Weg hinter sich: Von der Annahmestelle der Staatsbibliothek waren diese anscheinend noch während des Krieges an die „Reichstauschstelle“ für Bücher weitergegeben worden. Diese war 1926 als Teil der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet worden, jedoch seit 1934 als eigenständige Dienststelle tätig. Die Reichstauschstelle war damit beauftragt, Bibliotheken im Deutschen Reich beim Erwerb verloren gegangener oder durch den Krieg beschädigten Bücher zu unterstützen. Ihr Bestand setzte sich aus meist angekauften Büchern aus den Ostgebieten,[9] aber genauso aus beschlagnahmten Büchern von Einzelpersonen und Bibliotheken zusammen. Viele Bibliotheken nutzten das Angebot der Reichstauschstelle, so auch die Landesbibliothek in Hamburg. Von dort waren die vier betreffenden Bücher 1943 in die Bestände der Universitätsbibliothek gelangt. Im Juni 2011 wurden auch diese an das Berliner Missionswerk übergeben.
Zuletzt wurden im August 2016 fünfzehn weitere Bücher an das Missionswerk restituiert. Diese waren während des Krieges an das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“ weitergegeben worden. Seit 1936 besaß das Reichsinstitut eine Forschungsabteilung zur „Judenfrage“, welche vor allem nationalsozialistisches, pseudowissenschaftliches Propagandamaterial herausgab. Nach Ende des Krieges kamen die betreffenden Bücher erst 1982 zurück in den Besitz der Staatsbibliothek.
Die ca. 400 restituierten Bücher stehen heute im Magazin der gemeinsamen Bibliothek der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Berliner Missionswerks in Berlin Friedrichshain. Der Großteil jedoch gilt als verloren, wurde wahrscheinlich im Kriege zerstört, zumindest aber auseinandergerissen und weit über das Land verteilt.[10] Mit dem Verlust der Bibliothek ist auch viel Wissen über die damalige Vereinigung und ihre Arbeit verloren gegangen. Durch die Bestände der Bibliothek ließe sich ablesen, mit welchen Themen sich die „Gesellschaft“ befasste, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit setzte, aber auch, welche Inhalte sie außerhalb der Judenmission beschäftigte. So überrascht noch heute die Diversität der verbliebenen Bestände. Sie zeigt auf, dass sich die „Gesellschaft“ auch mit der politischen Lage der Juden:Jüdinnen in Europa auseinandersetze, zeitgenössische Abhandlungen über das Juden- und Christentum und philosophische und praktische Auseinandersetzungen mit dem Zionismus besaß. Darüber hinaus beschäftigte sie sich auch mit Palästina als religiöser Heimatstädte für Juden:Jüdinnen und Christen:Christinnen. Der Bestand beeindruckt auch heute noch mit umfangreichen Materialien für die Judenmission, so sticht zum Beispiel ein Neues Testament heraus, welches auf Jiddisch übersetzt wurde. Auch umfasst die Bibliothek Lehrbücher, die extra für den Taufunterricht jüdischer Taufanwärter:innen verfasst wurden. Dass der Verein die Restitution einiger seiner Bibliotheksbestände nicht mehr miterlebte, zeigt auf, wie langwierig solche Verfahren sein können. Gleichzeitig beteht aber auch Hoffnung, dass in Zukunft noch weitere Bücher der ehemaligen Messiaskapelle entdeckt werden können. Da die „Gesellschaft“ heute nicht mehr besteht, kann sie auch ihren Verlust der Bibliothek nicht mehr anklagen und auch keine weiteren Recherchen zum Verbleib der Bücher anstellen. An dieser Stelle ist der Einsatz von engagierten Einzelpersonen und Institutionen gefragt, um nicht zuletzt das bis ins 21. Jahrhundert bestehende Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus aufdecken und im möglichen Umfang beseitigen zu können.
Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen der X-Student Research Group „Gedenkort Messiaskapelle – ein Rechercheseminar zur Kirche in der NS-Zeit, Nachgeschichte und Erinnerungspolitik“ entstanden und thematisch an dieses gekoppelt.
[1] Der genaue Umfang dieser Bibliothek kann heute nicht mehr ermittelt werden. Allerdings kann nachvollzogen werden, dass die „Gesellschaft“ in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich mindestens 1.000 Mark für die Anschaffung neuer Publikationen vorsah. Vgl. evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, bisher online nicht aufgelistete Akten der „Gesellschaft“, die 2010 an das Archiv restituiert wurden.
[2] Der genaue Zeitpunkt der Schließung ist unklar. Das evangelische Landeskirchliche Archiv in Berlin und Michaela Scheibe verweisen auf den 23. Januar. Die Verfügung der Geheimen Staatspolizei und auch Pfarrer Wilhelm Knieschke nennen den 18. April 1941. Ein möglicher Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Zeitangaben ist, dass bereits im Januar die Räumlichkeiten der Kapelle durch die Gestapo geschlossen wurden, eine offizielle Verfügung aber erst Monate später folgte. Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz. In: Gesellschaft für Exilforschung (Hrsg.): Bibliotheken und Sammlungen im Exil. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 29/2011. edition text + kritik, S. 188 und Knieschke, W.: Nathanael, S. 13.
[3] Verfügung der Gestapo vom 18. April 1941 aus dem Archiv der ev. Landeskirche in Berlin, ELAB 1/1113: „Zu den eingezogenen Vermögen gehören insbesondere: […] e) Die Bibliothek mit ca. 2000 Büchern“.
[4] Allerdings war Kniesches Einspruch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausschlaggebend für die Übergabe der Bücher an die Staatsbibliothek. Vielmehr war es auch eine Anordnung des Reichsministeriums für Finanzen, beschlagnahmte Schriften, insbesondere jüdische und hebräische Literatur, an die Staatsbibliothek zu übergeben. Dabei dürfte auch die räumliche Nähe der Büroräume der Gesellschaft zur Annahmestelle der Staatsbibliothek begünstigend auf die Übergabe eingewirkt haben. Vgl. Knieschke, W.: Nathanael. Ein kleiner Bericht zur Missionsarbeit am Volke Israel, S. 13. und Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek. Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007. K. G. Saur 2008, S. 2f.
[5] Vgl. Scheibe, M.: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz, S. 182.
[6] Vgl. Ebd. S. 188.
[7] Noch lange nach 1945 hielten große Teile der evangelischen Kirche am Konzept der Judenmission fest. Erst mit den 1980er-Jahren trat die Kirche in eine neue Phase der Reflektion des Nationalsozialismus und der Shoah ein. Die Thematik blieb aber umstritten. Trotzdem dienten diese Debatten beispielsweise als Ausgangspunkt für den Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ der evangelischen Kirche der DDR aus dem Jahr 1990. In dieser bekennt sich die Kirche zum Staat Israel, gegen den Antisemitismus und gegen das Konzept der Judenmission. Vgl. Pavlush, T.: Kirche nach Auschwitz zwischen Theologie und Vergangenheitspolitik. Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchen beider deutschen Staaten mit der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Peter Lang 2015, S.107.
[8] Informationen aus direktem Kontakt mit Anneke de Rudder, Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.
[9] Der „Ankauf“ von Büchern und Bibliotheken war meist auch von einem Zwang geprägt, den die Staatspolizei auf „Verkäufer“ ausübte. In der Provenienzforschung stellt sich daher auch die Frage, inwiefern solche „Kaufverträge“ heute rechtmäßig sind. Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 1.
[10] Vgl. Bödeker, H.; Bötte, G.-J. (Hrsg.): NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 158.
[11] Die Standortbezeichnung „Judenmission“ stammt noch aus der historischen Systematik, welche bei Entstehung der Bibliothek erarbeitet wurde und auf den Sonderbestand der restituierten Bücher hinweist. Eine Überarbeitung der Archivsystematik mit ihren Bezeichnungen ist bereits vom aktuellen Bibliotheksleiter angedacht.
Über die Autorin
Laura Steinbrück studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin.
von Kristina Schnürle
Wenn man die Kastanienallee entlanggeht, kann man über der Haustür des Gebäudes mit der Nummer 22 eine Inschrift in altertümlichen Lettern lesen: „Messiaskapelle“. Zwischen Nagelstudio und Klettergeschäft, in dem belebten Stadtteil Berlin-Prenzlauer Berg, weist nichts auf eine Kapelle oder sonst einen besonderen Ort hin.
Foto: Kjell Pommerening
Seit Oktober 2023 gibt eine Stolperschwelle Auskunft über Menschen, die hier getauft und z. T. später deportiert und getötet wurden. Bis heute wissen die wenigsten, dass es im Nationalsozialismus Christen gab, die aus rassistischen Gründen verfolgt und ermordet wurden.
Foto: Johan Wagner
Aber was ist die Messiaskapelle?
Leider ist zurzeit ein Blick hinter das äußere Tor in den Hinterhof für die allgemeine Öffentlichkeit nicht möglich. Dort würde man auf eine kunstvoll mit Monden und Kreuzen verzierte Tür stoßen. Und im Innern ein Raum, der an einen Versammlungsort einer religiösen Gemeinschaft erinnert. Besonders fällt die hebräische Inschrift des hebräischen Gottesnamen, des Tetragramms auf. Wer hat sich dort wann versammelt? Was geschah an diesem Ort im Hinterhof?
Foto: Johan Wagner
Foto: Johan Wagner
Wie alles begann…
Durch das Emanzipationsedikt 1812 waren die preußischen Juden rechtlich zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ geworden. König Friedrich Wilhelm III. selbst wandte sich aber schon 3 Jahre später gegen die bürgerliche Gleichstellung seiner jüdischen Untertanen. Doch eine Gesellschaft zur Judenmission war ganz in seinem Sinne, da er dadurch hoffte, ausschließlich „christliche Untertanen“ zu bekommen.
Foto: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben/504517/19-jahrhundert/
1822 wurde die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter Juden“, die Berliner Judenmission, gegründet. Der Verein entstand aus der pietistischen Bewegung des 19. Jhs., entsprechend der Mission unter „Heiden“. Während die Heidenmission allgemein anerkannt war, hatte die Judenmission mit antisemitischen Vorurteilen zu kämpfen. Aber auch das alte Volk Israel habe, so die Vertreter der Judenmission, ein Recht auf Heil und das Evangelium – jetzt, da die gesellschaftlichen Schranken zwischen Juden und Christen gefallen waren und Juden qua Gesetz gleichberechtigt waren, umso mehr. Zusätzlich solle der Lebenswandel der Christen missionarisch wirken. Da die Aufgabe der Mission nicht von einzelnen Christen geleistet werden könne, sei es nötig, diese an Vereine zu delegieren, bzw. diese dabei zu unterstützen. (So im grundlegenden Aufsatz „Recht und Pflicht der Judenmission“ im „Nathanael“, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft ab 1885).
Schon 1827 hat Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis eines besonderen Gottesdienstes für die „Juden“ in Berlin gegeben, aber es fehlte lange an einem geeigneten Ort. 1902 konnte schließlich die Messiaskapelle in der Kastanienallee 22 eingeweiht werden. Sie bot Platz für 100 Menschen.
Es handelte sich dabei nur um einen kleinen Kreis im Rahmen der Landeskirche. Denn die Mehrheit der Deutschen, auch der kirchlichen Kreise, war an einer Begegnung oder gar dem Dialog mit Juden nicht interessiert. Darum wurden die „getauften Juden“ immer mehr zu einer Sondergruppe, an deren Integration in die christliche Gemeinde kaum jemandem gelegen war.
In den Räumen in der Messiaskapelle wurde sonntäglich Gottesdienst gefeiert
Foto: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/NQM4DO6J6QI6NJOYZF2EQOHDVXY53I5L
Aber daneben spielte die Soziale Arbeit an konvertierten oder am Christentum interessierten Juden eine große Rolle. Seit Mitte des 19. Jhs. kamen viele junge Juden aus Osteuropa oder dem russischen Zarenreich nach Berlin, häufig ohne Geld und familiären Rückhalt. Sie waren oft auf Unterstützung angewiesen und waren dadurch, dass sie sich im „fortschrittlichen Berlin“ ihrem jüdischen Glauben aus dem Schtetl entfremdeten, für den christlichen Glauben aufgeschlossen.
Ein Anliegen der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ war es außerdem, Menschen in den Gemeinden – und wenn möglich auch darüber hinaus – jüdische Bräuche und Feste zu erklären und bekannt zu machen. Damit wollte sie dem Misstrauen und der wachsenden antisemitischen Stimmung in jener Zeit entgegenwirken.
Warum ließen sich Juden taufen?
Sowohl von kirchlicher als auch politischer Seite wurde unterstellt, die Juden ließen sich „nur“ taufen, um nicht als Juden benachteiligt oder verfolgt zu werden. Berichte von Täuflingen oder ihrer Nachkommen zeigen ein Spektrum unterschiedlichster Gründe: von relativer Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen oder christlichen Glauben, der Anpassung an den christlichen Partner oder die christliche Partnerin bis hin zum Versuch, durch die eigene Taufe oder die Taufe ihres Kindes bessere Chancen in der Gesellschaft zu erreichen – in der NS-Zeit sogar das Leben zu retten. Doch bilden diese äußerlichen Motive nicht alles ab. Wer wollte beurteilen, ob die Hinwendung zum christlichen Glauben „echt“, aus freien Stücken erfolgte? Der Dichter Jochen Klepper schreibt schon 1933 in sein Tagebuch, dass seine jüdische Frau Hanni sich taufen lassen wolle, aber nicht aus politischen Gründen konvertiere. Sie wisse, dass die Anmeldung zur Taufe politisch sinnlos sei. (Tagebuch „Unter dem Schatten seiner Flügel“ 13.Mai 1933). Denn von Seiten des NS-Staats war von Anfang an klar, dass die Taufe keine Auswirkung auf den „Rassenstatus“ hat: auch ein Getaufter blieb jüdisch, „nichtarisch“.
Dennoch erhielten in der Zeit zwischen 1933-41 über 700 jüdische Menschen in der Messiaskapelle Taufunterricht.
Die Taufen wurden – sicher in erster Linie aus theologischer Verantwortung, aber vielleicht auch um den Verdächtigungen vorzuwirken – nicht oberflächlich oder gar nur auf dem Papier vollzogen, sondern es gab einen mehrwöchigen Taufunterricht. Dies wird im Messiasboten, dem Gemeindebrief, ausführlich beschrieben.
Foto: Laura Steinbrück
Der Messiasbote, so der Titel der Zeitschrift der Gesellschaft im Nationalsozialismus, gibt auch Zeugnis davon, wie die Verkündigung an Juden aussah: Pfarrer Knieschke knüpfte in seinen Predigten an Worte, Erzählungen und Feste des Judentums an. Er predigte im Wissen, dass Juden, anders als die Menschen, die von Missionsgesellschaften in fernen Ländern missioniert werden, schon eine gemeinsame Basis mit den Christen haben. Er nahm Verheißungen der Propheten auf und wies – wie die neutestamentlichen Apostel – darauf hin, dass diese in Jesus erfüllt seien. Im Messiasboten finden sich ebenfalls Zeugnisse von Getauften, die über ihren Weg von Judentum zum Christentum berichten. Auch wenn die Ausführungen im Messiasboten nicht mehr unserer Perspektive auf das Judentum, geschweige denn der theologischen oder homiletischen Sprache unserer Zeit entsprechen, wird die Überzeugung und Redlichkeit der Pfarrer und Mitarbeitenden sichtbar.
Im Frühjahr 1941 schloss der NS-Staat die Messiaskapelle, den Zufluchts- und Taufort so vieler Christen jüdischer Herkunft gewaltsam.
„Allein die Tatsache, dass Christen jüdischer Herkunft in der Zeit der Verfolgung die Tür der Messiaskapelle offenstand, dass Menschen jüdischer Herkunft hier weiter getauft wurden, macht die Messiaskapelle in gewisser Weise bereits zu einem Ort der Zuflucht.“ Und den Verfolgten wurde auch noch anders geholfen.“ Diejenigen, die im Bereich der Messiasgemeinde tätig waren, haben sich nicht von den Verfolgten abgewandt. Sie haben sie nicht nur seelsorgerlich begleitet, sondern mit konkreten Hilfeleistungen unterstützt. „Aber vielen konnte nicht geholfen werden. 86 der 700 getauften Menschen jüdischer Herkunft wurden deportiert, nur 2 davon überlebten.“ (Lachenicht in: und Evangelische Kirche im Nationalsozialismus 2013. S.91f)
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Judenmission ihre Arbeit wieder auf, in der Kapelle trafen sich Überlebende und feierten Gottesdienst. Darüber ist kaum etwas bekannt und wäre es wert, weiter erforscht zu werden.
Doch die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ hatte sich überlebt und löste sich 1982 auf. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) distanzierte sich 1990 vollständig von der Mission an Juden.
Heute ist die Messiaskapelle ein „Nichtort“, ein kaum sichtbarer, fast vergessener Ort im Hinterhof. Die evangelische Kirche Berlin sieht die Erhaltung dieses Ortes als Gedenkort nicht als drängende Aufgabe an.
Foto: Kjell Pommerening
https://www.kkbs.de/messiaskapelle
„Nathanael“, die Zeitschrift der Gesellschaft und der Nachfolger, „Der Messiasbote“ sind zum Beispiel in der Staatsbibliothek zu Berlin einzusehen, allerdings ist dort eine Benutzung nur im Lesesaal möglich. Die „Permalinks“ der Staatsbibliothek lautet:
https://stabikat.de/Record/16759074X („Nathanael“)
https://stabikat.de/Record/167606131 („Der Messiasbote“)
Mittlerweile wurde auf diesem Blog ein weiterer Beitrag veröffentlicht, in dem die Staatsbibliothek zu Berlin eine Rolle im Sinne der Erinnerung an die Messiaskapelle spielt: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2024/05/05/was-uns-buecher-nicht-erzaehlen-der-lange-weg-der-bibliothek-der-gesellschaft-zur-befoerderung-des-christentums-unter-den-juden/
Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.
Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.
Seminarnummer: 0212165
Interessierte Studierende der Berliner und Potsdamer Universitäten sind aufgefordert, sich beim entsprechenden Kurs der Lernplattform der Humboldt-Universität einzuschreiben. Die Inhalte werden zeitnah auf das Sommersemester 2024 aktualisiert:
https://moodle.hu-berlin.de/enrol/index.php?id=121360
Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023
Das Seminar wird im Sommersemester 2024 dienstags, 10-12 Uhr, im Raum 5061 (5. OG) im Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität stattfinden, Friedrichstraße 191 (FRS191).
Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.
Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.
Das Rechercheseminar soll am Beispiel der Messiaskapelle im Prenzlauer Berg einen genaueren Blick auf den Umgang der Berliner Kirche mit der „Judenfrage“ während und nach der Shoah werfen.
Seminarnummer: 60313
Moodle-Einschreibeschlüssel: Ekbo.2023
Als Sitz der „Berliner Judenmission“ koordinierte die Amtskirche hier die christliche Missionsarbeit unter Jüdinnen und Juden. Bis zu ihrer Schließung 1941 durch die Gestapo wurde die Messiaskapelle zudem zu einem Taufort für mindestens 700 Menschen, welche das NS-Regime als „nicht-arisch“ definierte. Deutsche Täterinnen und Täter ermordeten viele von ihnen, ohne dass die Kirche dem Regime die Gefolgschaft verweigerte. Im interdisziplinären Rechercheseminar diskutieren Teilnehmende und Dozierende auf Grundlage von Originalquellen bisher unberücksichtigte Aspekte der widersprüchlichen Geschichte der Messiaskapelle während und nach der NS-Zeit. Gemeinsam spüren sie der Frage nach, warum die Erinnerung daran bis heute schwierig ist. Die Teilnehmenden begleiten dabei kritisch die Entwicklung eines Gedenkorts, wie er durch den Kirchenkreis Stadtmitte geplant ist.
Das Seminar der forschenden Lehre richtet sich an Studierende aller Erfahrungsstufen. Es kommt ohne Anforderungen an historisches Vorwissen aus. An individuellen Interessen ausgerichtet erhalten die Studierenden Einblick in historische Quellenanalyse- und Recherchetechniken, die in vielen Berufsfeldern sinnvoll sein können. Durch die gemeinsame Publikation der Rechercheergebnisse auf dem Blog (https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/) üben die Seminarteilnehmenden zielgerichtetes Schreiben und die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen für ein fachfremdes Publikum.
Als gefördertes Projekt der Berlin University Alliance schließt es an Förderprojekte aus den vergangenen Semestern an.
Anlässlich der Debatte um Max Friedlaender – die Erinnerungskultur der evangelischen Kirche auf dem Prüfstand
von Victoria Klärner
Konstant bedeutet, verlässlich und authentisch zu sein. Das ist erst einmal nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil, so werden die Erwartungen stets erfüllt und es gibt keine unangenehmen Überraschungen; so weit, so gut. Beziehen sich diese Kontinuitäten jedoch auf eine anhaltend bruchstückhafte und einseitige Darstellung der eigenen Vergangenheit, die sich auch deutlich in der Erinnerungskultur niederschlägt, ist ein solch positives Urteil wohl nicht angebracht. Gemeint ist in diesem Fall die Aufarbeitung der evangelischen Kirche, welche das Engagement der Institution zur Zeit des Nationalsozialismus nur allzu gern verschweigt bzw. beschönigt darstellt. Dabei ist eine umfassende Erinnerungskultur sowohl von individueller als auch kollektiver Bedeutung[1]; hat sie doch eine identitätsstiftende Wirkung, wie Aleida Assmann betont:
Mithilfe von Erinnerungskulturen stärken Gruppen ihre Identität, bestätigen sie ihre Werte […].[2]
Wenn aber diese Identität auf einer unvollständigen Darstellung der Geschichte beruht, vermittelt das ein falsches Bild und zeigt damit wiederum ein typisches Merkmal der deutschen Erinnerungskultur – das Ausblenden entscheidender Wahrheiten der Vergangenheit.[3] Im Falle der evangelischen Kirche führt(e) die einseitige Überlieferung dazu, dass heute viele Theologiestudenten und kirchliche Mitarbeiter die Vergangenheit ihrer eigenen Institution nicht kennen. Ein grober Fehler der Erinnerungskultur, in der – wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht – nur allzu gern der eigene widerständische Charakter und bekannte Namen wie Niemöller oder Bonhoeffer hervorgehoben werden. In diesem Glanz – der ohne Frage bedeutenden Persönlichkeiten – wird aber gleichsam verschwiegen, dass es sich dabei um wenige Einzelpersonen handelte. Eine umfassende und organisierte kirchliche Widerstandsbewegung, als welche sie häufig pauschal dargestellt wird, existierte nicht. Vielmehr war die Kirche direkt in das System integriert und maßgeblich daran beteiligt, dass die Nationalsozialisten Einblick in die genealogische Vergangenheit der einzelnen Mitglieder erhielten und so gezielt die jüdisch-stämmigen herausfiltern konnten. Auch rassistische und antisemitische Äußerungen seitens kirchlicher Amtsträger waren keine Seltenheit – die nationalsozialistische Weltanschauung war auch in den Köpfen und Taten der Protestanten präsent. Diese, angesichts der Vergangenheit unumgängliche Aufarbeitung wurde von der Kirche jedoch nur teilweise und wenn, in Form einer zu eigenen Gunsten ausgelegten Darstellung geliefert. Außenstehende haben für die Erinnerungskultur weit mehr erreicht als die evangelische Kirche selbst.[4]
Und auch wenn sich einmal die Gelegenheit bietet, dieser Verdrängung der Geschichte ein positives und selbstkritisches Beispiel entgegenzusetzen, schafft es die Kirche, sich wiederholt in einem wenig schmeichelhaften Licht zu präsentieren.
Vergangenheit
Max Friedlaender wurde 1852 in Brieg in Schlesien geboren, studierte Musikwissenschaften und Gesang und hatte sich im Laufe seines Lebens besonders um das deutsche Volkslied verdient gemacht. Sein durchaus beeindruckender Lebensweg soll hier jedoch nicht Thema sein. Vielmehr ist es Friedlaenders religiöse Zugehörigkeit, die Anlass zur Debatte bot. Zwar wurde er als Jude geboren, konvertierte aber in den 1890er Jahren zum Christentum und wurde somit Protestant. Im Rahmen des nationalsozialistischen Systems galt er jedoch weiterhin als Jude und erhielt 1936 in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin eine eigene Namenskartei, ebenso wie seine Frau Alice (geb. Politzer, getauft 1904).[5] Friedlaender selbst war von der Judenverfolgung zwar nicht mehr direkt betroffen – er starb 1934 – Verwandte von ihm jedoch schon.
Es gab folglich bereits in der Vergangenheit große Unterschiede zwischen religiöser Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibung.
Gegenwart
Am 8. Oktober 2021 wurde auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf die Urne von Henry Thomas Hafenmayer beerdigt. Die Brisanz dieser Tatsache ist gleich doppelt begründet; zum einen handelte es sich bei diesem Mann um einen bekennenden Holocaustleugner und zum anderen wurde er auf der Grabstätte von Friedlaender beigesetzt. Dass Gräber nach einer gewissen Zeit wieder vergeben werden, ist üblich, jedoch in diesem Fall aufgrund der religiösen Zugehörigkeit Friedlaenders im Kontrast zur Gesinnung des Beigesetzten erwartungsgemäß durch die Presse gegangen.
„Ich bin erschüttert und fassungslos über das Geschehen“, sagte Bischof Christian Stäblein heute
— ekbo_de (@ekbo_de) October 12, 2021
Morgen bei einem Besuch der Grabstätte auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf.#BischofStäblein #Stahnsdorf pic.twitter.com/sXtpOEhn9Q
Die Kirche reagierte mit einem durchinszenierten Bild (Quelle/Link: Twitter-Account Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz), das den Bischof Christian Stäblein mit einer Kippa auf dem Kopf am Grabstein von Max Friedlaender zeigt. Auf den ersten Blick könnte es vielleicht als übliche Darstellung im Sinne der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde gedeutet werden, doch wenn es am selben Tag heißt, Friedlaender sei Protestant gewesen, überwiegt doch der Eindruck eines inszenierten und gezielt öffentlichkeitswirksamen Bildes. Auf einer eigens für den Themenkomplex Friedlaender eingerichteten Seite der EKBO[6] heißt es in einem Frage/Antwort-Schema genauer: „Er war jüdischer Herkunft und trat in den 1890er Jahren zum evangelisch-lutherischen Glauben über. Er wurde 1934 als evangelischer Christ bestattet.“ Und weiter: „Die Freigabe für Henry Thomas Hafenmayer erfolgte auf Basis des Bestattungsregisters, das Max Friedlaender mit evangelischer Konfession führte.“ Wie kann es sein, dass Friedlaender offiziell offensichtlich als Protestant angesehen wird, sich der Bischof aber mit Kippa ablichten lässt und so den Eindruck vermittelt, ersterer wäre jüdisch gewesen? Hinzu kommt eine fragwürdige Aussage desselben in einer offiziellen Pressemeldung: „Als evangelische Kirche haben wir die erste und vornehmste Aufgabe, an der Seite der jüdischen Geschwister zu stehen.“[7] An der Aussage selbst ist nichts auszusetzen, der Kontext stellt sie jedoch in ein zweifelhaftes Licht. Hier scheint es an Sensibilität für die eigene Vergangenheit und Bewusstsein für die offensichtliche Verdrängung derselben zu mangeln.
Wiederholt werden, neben der mangelnden Sensibilität, die Fehler der Erinnerungskultur und das Missverhältnis der Kirche zu ihrer eigenen schuldhaften Vergangenheit deutlich. Die Kirche hat Schuld auf sich geladen, indem den Forderungen der Nationalsozialisten zur Mithilfe an der Verfolgung Unschuldiger bereitwillig nachgekommen wurde. Nun macht sich die Kirche zum zweiten Mal schuldig, indem dies nicht lückenlos aufgearbeitet wird.[8] Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist der Leser eines Presseberichts über die Friedlaender-Debatte womöglich weniger „erschüttert und fassungslos“, als es Bischof Stäblein bei einem Besuch der Grabstätte auf dem Südwestkirchhof war. Weiter führte er an, dass er „ […] alles daran setzen [möchte], diese Schändung des Grabes von Max Friedlaender aufzuarbeiten.“
Zukunft?
Angesichts der vergangenen Bestrebungen zur gewissenhaften Aufarbeitung sollte diese Aussage womöglich mit einer gesunden Skepsis betrachtet werden; zugleich wird sie von Zweifeln an der Ernsthaftigkeit des Vorhabens begleitet.
In Anbetracht der Berichte aus Vergangenheit und Gegenwart sind die systematischen Kontinuitäten in der Erinnerungskultur der evangelischen Kirche eindeutig zu erkennen. Das Beispiel Max Friedlaenders ist dafür exemplarisch. Die Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung und Fremddarstellung ist offensichtlich; erschreckend – aber zugleich auch bekannt – ist die sowohl sprachlich als auch historisch fehlende, kritische Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen „jüdisch“ und „evangelisch“, die augenscheinlich in diesem Fall stets zugunsten der Argumentation ausgelegt wurden und werden. Friedlaender wäre Protestant gewesen, aus diesem Grund sei die Vergabe der Grabstätte an einen Holocaustleugner im Grunde gestattet; hinzu kommt, dass er „1934 als evangelischer Christ bestattet [wurde].“[10] Letzteres stimmt nicht wirklich, er mag zwar so bestattet worden sein, galt aber laut Gesetz als „jüdisch“, u. a. zu sehen an seiner Karteikarte, und war so eigentlich auch für die Kirche kein Protestant. Hier fehlt wiederholt eine Kontextualisierung in der Argumentation der Kirche.
Eine ehrliche und vor allem selbstkritische Erinnerungskultur ist längst überfällig; auch wenn sich damit zugleich von der zwar bequemen, aber auch historisch inkorrekten wie subjektiven Engführung von Bekennender Kirche und Widerstand verabschiedet werden muss – die Kirche muss sich endlich vollends zu ihrer Schuld bekennen.
[1] Aleida Assmann schreibt dazu: „Individuelles Erinnern ist also in den größeren kulturellen Rahmen kollektiven Erinnerns eingebunden, womit die Voraussetzung für eine kollektive Identität geschaffen werden, die die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlägt.“ (Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 3. erweiterte und aktualisierte Auflage, München 2020, S. 29)
[2] Ebd., S. 32.
[3] Ebd., S. 40.
[4] Hier ist besonders auf Manfred Gailus hinzuweisen, der zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema Evangelische Kirche und Nationalsozialismus veröffentlicht hat. Vor allem seine Ergebnisse zur Kirchenbuchstelle Berlin und deren Leiter Karl Themel sind besonders hervorzuheben.
[5] Für nähere Informationen zur Kirchenbuchstelle siehe Artikel Aus dem sicheren Dunkel der Anonymität: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/14/aus-dem-sicheren-dunkel-der-anonymitaet/.
[6] Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO): https://www.ekbo.de/no_cache/start/themen/beisetzung-auf-der-ehemaligen-grabstaette-von-max-friedlaender.html
[7] Aus einer Pressemitteilung vom 14. Oktober 2021, Bischof Christian Stäblein: https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/1._WIR/06._Bischof/B.Z._Kolumne_St%C3%A4blein/211014_Grabstelle_Max_Friedl%C3%A4nder__003_.pdf
[8] Näheres zum Themenkomplex Schuld(frage) und Kirche finden Sie hier: https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/05/04/296/
[9] Ebd.
[10] Info-Seite der EKBO: „Wer war Max Friedlaender?“: https://www.ekbo.de/no_cache/start/themen/ beisetzung-auf-der-ehemaligen-grabstaette-von-max-friedlaender.html
Update 5/2023: Twitter-Einbindung/Foto-Link modifiziert, Schlagworte ergänzt
Baptisten gehören zu den evangelischen Freikirchen und haben als wohl größten Unterschied zu anderen evangelischen Konfessionen die Glaubenstaufe, d.h. es werden keine Babys oder kleine Kinder, sondern nur Jugendliche und Erwachsene, die sich bewusst dafür entscheiden, getauft.
Als zwei Baptistinnen haben wir, Cora und Lea, im Rahmen dieses Projektes in unserer eigenen Vergangenheit nachgeforscht. Uns hat die Frage beschäftigt, wie sich unsere Glaubensgeschwister in der NS-Zeit verhalten haben und wie sich unsere wie auch andere Baptistengemeinden positioniert haben. Die Ergebnisse unserer Nachforschungen wollen wir allen Interessierten in drei Podcast-Folgen vorstellen. Für jede unserer Folgen haben wir uns Interviewpartner eingeladen, die uns von ihren eigenen Nachforschungen berichten.
Natürlich liegt es bei unserem Thema nahe, Zeitzeugen zu befragen, die damals in Baptistengemeinden waren. In den Vorbereitungen für unsere erste Folge sind wir jedoch schnell auf das Problem gestoßen, dass Zeitzeugen kaum noch anzutreffen sind. Deswegen führen wir ein Zeitzeugengespräch aus zweiter Hand – wir haben uns Thilo Maußer eingeladen, Pastor der Baptistengemeinde in Brandenburg an der Havel, der uns von einem Zeitzeugengespräch berichtet, dass er selbst vor über zwanzig Jahren geführt hat. Mit ihm sprechen wir über Widerstand und Akzeptanz gegenüber der NS-Politik – wie war die allgemeine Haltung der Baptisten in Berlin und Brandenburg im Allgemeinen zum NS-Regime?
Thema unserer zweiten Folge ist die vorherrschende Einstellung der Baptisten ihren jüdischen Mitmenschen sowie auch ihrer Glaubensgeschwister jüdische Abstammung gegenüber. Mit dem Pastor i.R. Roland Fleischer reden wir über die vorherrschende Einstellung der Baptisten ihren jüdischen Mitmenschen und auch ihrer Glaubensgeschwister jüdischer Abstammung gegenüber. Hierfür betrachten wir Einzelbiografien von Gemeindemitgliedern. Unser Gast forscht seit einigen Jahren zum Verhältnis von Baptisten und Juden und untersucht den Antisemitismus innerhalb der Baptistengemeinden. Wir benutzen in dieser Folge die Begriffe „Judenchristen“ und „Judenmission“, die auch in der NS-Zeit seitens der Nazis gebraucht wurden. Die NS-Bewertungen wollen wir damit aber natürlich nicht zum Ausdruck bringen, denkt euch die Begriffe beim Hören also bitte mit Anführungszeichen.
Rolands Zusammenstellung von Einzelbiografien findet ihr hier: Judenchristliche Mitglieder in Baptistengemeinden (theologisches-gespraech.de)
In der dritten und damit letzten Folge unseres Podcasts betrachten wir den Prozess der Aufarbeitung der NS-Zeit und wie sich die Kirche und damit auch die Baptistengemeinden nach 1945 ihrer Vergangenheit stellten. Mit unserem Gast Prof. Dr. Andrea Strübind, die ihre Dissertation über den Bund der Baptistengemeinden im „Dritten Reich“ verfasste, sprechen wir über die Fragen nach der Verantwortung, der Schuld und dem Verständnis von Opfern und Tätern. Und vor allem: wie geht Aufarbeitung in unserer heutigen Zeit, und was bedeutet sie für unsere Generation?
Wir wollen an dieser Stelle all unseren engagierten Interviewpartnern danken und auch unseren Dozenten, die uns beim Projekt stetig unterstützt und beraten haben. Dank geht auch an Herr Dr. Hansjörg Buss, der im Entwurfsstadium wissenschaftliche Beratung für diese Podcast-Reihe geleistet hat.
Wir hoffen, die Podcast-Reihe hat euch gefallen und vielleicht auch ermutigt selbst nachzuforschen und eure Familien- und auch Kirchengeschichten zu untersuchen und aufzuarbeiten.
Vom 13. Januar bis zum 28. Februar 2022 ist in der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ die Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen“ zu sehen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland hat sie erstellt. Im doppelten Sinne beispielhaft macht die Schau die Verstrickung der Kirche in den Nationalsozialismus transparent.
Die Ausstellung dokumentiert den sogenannten Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die Institution als auch das Verhalten einzelner geraten in den Blick. Klar wird: Neben tatsächlichen Neuanfängen ist ein Ausblenden realer Schuld erkennbar, etwa durch kirchliche Unterstützung für NS-Verbrecher in der jungen Bundesrepublik oder die zögerliche Aufarbeitung eigener Verfehlungen in der NS-Zeit. Die nationalprotestantische Mentalität hatte den Nationalsozialismus gefördert, wurde jedoch nach 1945 nicht thematisiert. Wie wirkmächtig blieb der Nationalprotestantismus in der jungen Bundesrepublik? Darauf versucht die Ausstellung Antworten.
Sechs Themenfelder erwarten die Besucher:innen: Heimatvertriebene, Flüchtlinge und ‚Displaced Persons‘; Antisemitismus und neue Begegnungen; NS-Täter und Kriegsverbrecher im Schutz der Kirche; Streit um Schuld und Mitverantwortung; Haltung zu Krieg und Wiederaufrüstung; Antikommunismus und Diffamierungen.
Es gibt drei live gestreamte, ca. 45minütige, digitale Veranstaltungen jeweils donnerstags, 18 Uhr, im Beiprogramm der Ausstellung.
13. Januar, 18 Uhr: Eröffnung mit Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche, per Videogrußwort), Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Akademie der Nordkirche und Prof. Dr. Stefanie Endlich, Kuratorin der Ausstellung gemeinsam mit Monica Geyler-von Bernus und Beate Rossié
3. Februar, 18 Uhr: Die Journalistin Sigrid Hoff befragt Dr. Stephan Linck zu den Ausstellungsinhalten
10. Februar, 18 Uhr: Vorstellung der Dissertation von Beate Rossié „Kirchenbau in Berlin 1933-1945“
Im Gespräch mit Pfarrerin Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur der EKBO und Beate Rossié
Die Ausstellung ist vom 13. Januar 2022 bis zum 28. Februar 2022 zu sehen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße 13 – 14, 10785 Berlin-Tiergarten, 1. Etage, Sonderausstellungsbereich.
https://www.gdw-berlin.de/home/
Öffnungszeiten
Mo – Fr 9 – 18 Uhr
Sa, So und an Feiertagen 10 – 18 Uhr
Änderungen vorbehalten. Information unter Telefon: 030/26 99 50 – 00
Die Geschichte einer Familiengeschichte
von Lea Essers
Anfang der 2000er Jahre begann die evangelische Kirche mit der Aufarbeitung ihrer Rolle in der Geschichte des Nationalsozialismus. Neben der Kirchenbuchstelle1, die Teil wissenschaftlicher2 und kircheninterner Recherchen war, gehörte auch die Messias-Kapelle dazu. Dort befand sich seit ihrer Einweihung 1902 die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“, umgangssprachlich die Judenmission. Dort sollten Juden zum Christentum konvertiert werden. Im Nationalsozialismus konnte das mitunter lebensrettend sein. In den 1930er Jahren wird die Messias-Kapelle und die zugehörige Segenskirche zum wichtigsten Taufort für Personen jüdischer Herkunft3, denn ab 1935 war die Taufe von Juden und Jüdinnen „auf eigene Verantwortung“, viele Kirchen tauften sie nicht mehr. Doch in der Segenskirche wurde weiter getauft – unter anderem Familie Kuhnt.
Im Sommer 1934 heiraten Cäcilie und Walter Kuhnt gegen den Willen von Walters Eltern. Sie wollen nicht, dass ihr Sohn eine Jüdin heiratet. Das Paar ist dennoch glücklich. Zwei Jahre später kommt ihr Sohn Gerhard Kuhnt zur Welt. Zwei weitere Jahre später Renate Kuhnt. Sie wird heiraten und den Ehenamen Steinert annehmen. 76 Jahre später vertraut Renate Steinert Gerlind Lachenicht ihre Familiengeschichte im Rahmen von Recherchen zu Christen und Christinnen jüdischer Herkunft verschiedener Berliner evangelischer Gemeinden an1. Die Geschichte der Familie Kuhnt wurde bisher noch nicht öffentlich erzählt, denn vor einer Veröffentlichung fürchtete Renate Steinert sich 2006.
Gerlind Lachenicht sprach über mehrere Monate mit Renate Steinert über ihre Familiengeschichte. Aus ihren Erzählungen und den zahlreichen Dokumenten und Fotos, die sie Frau Lachenicht zur Verfügung gestellt hat, entsteht eine Broschüre. 80 Seiten über die Geschichte der Familie. Über Renates Eltern, deren Eltern und Geschwister. Viele Verwandte der mütterlichen Seite der Familie überleben den Holocaust nicht.
Auf die Frage, wie es zu der Broschüre gekommen ist, antwortet Frau Lachenicht: „Das war wie ein Dankeschön oder wie eine Entschuldigung“. „Ich hatte das Gefühl, ich lasse die Menschen alleine. Ich habe alles aufgewühlt und dann bin ich wieder weg. Und was ist dann? Deshalb hatte ich das Bedürfnis, das alles aufzuschreiben“. Sie war sich nicht sicher, ob sie etwas falsch macht, ob Renate Steinert die Gespräche helfen. Die Broschüre, die sie für Renate Steinert erstellte, wurde in der Familie herumgereicht. Sie wurde dem Sohn, den Enkeln zum Lesen gegeben. „So konnte sich wenigstens die Familie damit auseinandersetzen“. Innerhalb der Familie schaffte sie Gesprächsmöglichkeiten. In der Broschüre vermischen sich die Perspektiven von Renate Steinert und Gerlind Lachenicht. Den Text schrieb Gerlind Lachenicht, die Bildunterschriften sind von Renate Steinert, die auch Gerlind Lachenichts Text als faktisch richtig bestätigt hat. „Mama und Papa 1934“ steht unter einem Foto. Zu sehen ist das glückliche Paar bei der Hochzeit.
Wer kann Zeugnis ablegen?
Gerlind Lachenicht fragt sich, ob es möglich ist, dass sie Zeugnis ablegt, stellvertretend für eine Zeitzeugin und die vielen weiteren, deren Geschichten sie gesammelt hat. Dieser Artikel soll ein Versuch sein. Die Geschichte der Zeitzeugin Renate Steinert und ihrer Familie, die eigentlich noch viel umfangreicher ist, vermittelt durch das Gespräch mit Gerlind Lachenicht und der von ihr erstellten Broschüre.
Cäcilie Kuhnt und die Kinder werden 1938 in der Segenskirche evangelisch getauft. Die Eltern haben wohl vorher bei Walters Gemeinde, der Eliaskirche in Ostberlin, um die Taufe gebeten, doch die wollen Juden und Jüdinnen nicht taufen. Sie wenden sich an die Messias-Kapelle, die die Judenmission beherbergt. Dort muss Cäcilie Kuhnt einen sechsmonatigen Taufunterricht besuchen, bevor sie kurz vor ihren Kindern in der dazugehörigen Segenskirche getauft wird, denn die Messias-Kapelle hat kein Taufbecken. Gerlind Lachenicht und ehrenamtliche Mitstreiter_innen ermittelten, dass 704 Menschen auf dem Weg der Messias-Kapelle getauft wurden, mindestens 84 von Ihnen wurden in Konzentrationslagern getötet2. Taufpatinnen für Cäcilie und die Kinder sind Walters Mutter und Schwester. Sie leben im gleichen Haus in Ostberlin. In der vierten Etage Walters Eltern und Schwester, in der Wohnung gegenüber Cäcilies Bruder mit seiner Familie. In der Ersten Etage lebt Renate Kuhnt mit ihrem Bruder und ihren Eltern.
Die Deportationen der Verwandten beginnen
1941 wird Renate Kuhnts Großmutter deportiert. Sie wird in Lodz ermordet. Für Renate Kuhnt ein harter Schlag. Ihre Eltern bewahren ihre Möbel und Habseligkeiten auf. Ihr großer Esstisch stand noch 2006 in der Wohnung der Steinerts. Er passe zwar eigentlich nicht in die Wohnung, aber sie könne sich einfach nicht von ihm trennen.
1943 wird auch die Familie von Renates Onkel deportiert. Ihre Tante liegt im Wochenbett mit dem zwei Monate alten Sohn. Die Gestapo bietet ihr an, vorerst mit dem Baby in der Wohnung zu bleiben zu dürfen. Für sie keine Option. Sie lässt sich nicht von ihrer Familie trennen und geht mit. Sie alle werden in Auschwitz ermordet.
Während der Deportation ihres Onkels stehen Renate Kuhnts Großeltern väterlicherseits im Flur. Ihr Großvater sagt: „Die aus dem ersten Stock muss auch weg.“ Er meint Renates Mutter. Das Verhältnis zu Walter Kuhnts Familie ist gebrochen. Nur zu seinem Bruder und dessen Frau besteht noch eine gute Beziehung.
Später wird Renate Steinert die Namen ihres Onkels und seiner Familie auf der Website von Yad Vashem suchen. Den Namen ihres kleinen Cousins findet sie nicht. „Als hätte es ihn nie gegeben“. Doch sein Name war falsch eingetragen, auch er hat dort einen Eintrag.
Im Luftschutzkeller sitzt Renate mit ihrer Familie auf Holzbänken. Will sie zu ihren Großeltern, die auf Sofas weiter hinten sitzen, hält ihre Mutter sie auf. Später dürfen sie nicht mehr in den Luftschutzkeller. Erst sitzen sie auf der Treppe zum Keller, dann bleiben sie in der Wohnung im ersten Stock. Walter Kuhnt baut eine Vorrichtung zur Abdunkelung. Dahinter dürfen sie sogar etwas Licht anmachen.
Weil Walter sich weigert, sich von Cäcilie scheiden zu lassen, kommt er 1944 in ein Arbeitslager. Alle Männer, die dort arbeiteten, blieben standhaft. Zwei überlegen, sich doch scheiden zu lassen. „Aber dann hätten sie die anderen totgeschlagen“, erinnerte sich Renate Steinert an die Erzählung ihres Vaters. Fünf Monate ist er dort, bis zum Ende des Krieges. Renate Kuhnt, ihr Bruder und ihre Eltern überleben. Gerlind Lachenicht beschreibt in ihrer Broschüre Cäcilies vorzeitige Alterung. Die Verfolgung und der Verlust von 43 Familienmitgliedern haben an ihr gezehrt.
Durch die frühe evangelische Taufe der Kinder wird die Ehe der Eltern als „privilegierte Mischehe“ kategorisiert. Auf Gerlind Lachenichts Frage, ob sie das Gefühl hatte, ihre Familie sei in irgendeiner Form „privilegiert“ gewesen, antwortet Renate Steinert: „Na klar. Wir waren ja nicht in Auschwitz“.
Ungerechtigkeit nach 1945
Nach dem Krieg ziehen sie vom Hinter- ins Vorderhaus, ebenso wie Walter Kuhnts Eltern. Die beiden Familien nähern sich wieder an. Renates Bruder Gerhard Kuhnt zieht vor dem Mauerbau nach Westberlin. Renates Mutter Cäcilie Kuhnt möchte im Osten bleiben. „Zu viele Nazis“ sind ihr im Westen.
Renate Kuhnts Eltern werden beide als Opfer des Faschismus anerkannt. Walter wird gefragt, was er für den Aufbau des neuen Staates leisten möchte. Als er sich weigert, in die SED einzutreten, wird ihm sein Status als Verfolgter aberkannt. Er sei nur fünf Monate im Arbeitslager gewesen. Unter sechs Monaten würde im Einzelfall entschieden. Walters Ehrenrente fällt weg, durch einen Unfall kann er nicht mehr arbeiten. Seine Psyche verschlechtert sich. Mitte der 60er Jahre begeht er Suizid.
Auch Cäcilie Kuhnts psychische Gesundheit verschlechtert sich nach dem Nationalsozialismus immer weiter. Renate Kuhnt kümmert sich um ihre Mutter. Sie braucht jedoch größere Unterstützung und geht in eine psychiatrische Klinik.
Später heiratet Renate Kuhnt, nimmt den Namen Steinert an und bekommt einen Sohn. Ihr Leben lang ist sie in ihrer evangelischen Kirchengemeinde sehr engagiert. Dort wissen einige Personen von ihrer jüdischen Herkunft, aber niemand kennt ihre gesamte Geschichte. Bei der Recherche zu Christen jüdischer Herkunft, bei denen Freiwillige in den evangelischen Gemeinden Berlins die Taufbücher durchsuchen, stößt eine Freiwillige auf einen bekannten Namen. Sie kennt Renate Steinert persönlich, fragt, ob sie sich mit dem Arbeitskreis über ihre Familiengeschichte unterhalten möchte. Sie stimmt zu. In den folgenden Monaten trifft sie sich mehrmals mit Gerlind Lachenicht, zeigt ihr Dokumente, Fotos, erzählt ihr von ihren Erfahrungen. Sie habe einen besonderen Zugang zu Renate Steinert gehabt, sagt Gerlind Lachenicht. Sie kam von der Kirche, das gibt einen Vertrauensvorschuss.
Geschichten dem Vergessen entreißen
Die Geschichte von Renates Familie ist nicht die einzige, die Gerlind Lachenicht recherchiert und unveröffentlicht gelassen hat. Sie wünscht sich, dass diese Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Doch viele der Betroffenen hatten und haben immer noch Angst vor der Veröffentlichung ihrer Geschichten, so wie Renate Steinert vor ihrem Tod.
Doch wie gestaltet man das Erinnern ohne Zeitzeug_innen? Renate Steinert ist nicht mehr am Leben, doch ihre Geschichte wurde weiter getragen. Auch wenn sich durch die Vermittlung die Geschichte durch verschiedene Perspektiven färbt, so ist es dennoch wichtig, die Geschichten nicht unerzählt zu lassen. Als Erinnerung an das Leid, vor dem sich Renate Steinert noch ihr ganzes Leben lang fürchtete. Um ihre Geschichte dem Vergessen zu entreißen.
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1 Zur Geschichte der Kirchenbuchstelle und ihrer Mitarbeiter_innen siehe auf diesem Blog z.B. https://blogs.hu-berlin.de/kircheimns/2021/07/14/aus-dem-sicheren-dunkel-der-anonymitaet/ (16.07.2021)
2 Siehe z.B. Manfred Gailus (Hg.) (2015) „Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933-1945“. Göttingen: Wallstein Verlag.
3 Zur Geschichte der Messias-Kapelle siehe https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/gedenkort-messiaskapelle-2/ (16.07.2021)
4 Teile dieser Recherchen wurden hier veröffentlicht: Hildegard Frisius, Marianne Kälberer, Wolfgang Krogel, Gerlind Lachenicht und Frauke Lemmel (Hg.) (2008) „Evangelisch getauft, als Juden verfolgt“, Berlin: Wichern Verlag.
5 Zur Geschichte des Arbeitskreises Christen jüdischer Herkunft siehe https://www.landeskirchenarchivberlin.de/forum-fur-erinnerungskultur/forum-schwerpunkte-der-arbeit/arbeitsbereiche/christen-judischer-herkunft/ (16.07.2021)