Im Rahmen des Provenienzforschungsprojekts am Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum stößt die Bearbeiterin in den Akzessionsjournalen immer wieder auf unbestimmte und manchmal sogar auf fehlende Lieferanteneinträge. Vage Aussagen, wie „Alter Bestand“, „Herkunft unbekannt“ und Fragezeichen, oder ganzseitig leer belassene Spalten sind für sie geradezu eine Aufforderung, sich die dort verzeichneten Bücher anzusehen und die Umstände ihres Zugangs zu prüfen. War tatsächlich nicht bekannt, woher die Druckwerke kamen? Sollte, durfte ihre Herkunft nicht genannt werden? Und welche Interessen waren auf Seiten der unbekannten Einlieferer mit der Entscheidung verbunden, diese und jene Schrift an die Bibliothek abzugeben – oder in die Bibliothek einzuschmuggeln? Sich mit den Gründen für solche Einträge – bzw. Auslassungen – zu beschäftigen, berührt nichts weniger als die politischen Auseinandersetzungen und gewährt zugleich Einblicke in die gleichmütig weiterlaufende, manchmal aber auch aus dem Takt geratende bibliothekarische Praxis jener Jahre.
Wie die folgenden Beispiele zeigen, nimmt die Sachlage auch bei dem eher der Vergangenheit zugewandten Vermerk „Alter Bestand“ mitunter unerwartete und seltsame Wendungen.
„Alter Bestand“ steht in den Akzessionsjournalen der Haushaltsjahre 1933 bis 1945 oft in der Kombination mit der Abkürzung „U.-S. Abt.“ Um einen naheliegenden Irrtum aus dem Weg zu räumen: Mit U.-S. sind nicht die USA, sondern die Universitätsschriften gemeint, die in einem eigenen Geschäftsgang an der Universitätsbibliothek der Friedrich-Wilhelms-Universität bearbeitet wurden. Bereits im 19. Jahrhundert hatte das vorgesetzte Ministerium der Universitätsbibliothek die Aufgabe zugeteilt, das im universitären Kontext entstandene Schriftgut sowie die sogenannten Schulschriften, d. h. von den Gymnasien verantwortete Publikationen, die ebenfalls wissenschaftliche Abhandlungen enthielten, möglichst vollständig zu sammeln.
Die zuständige Abteilung hatte in den 1930er Jahren – und wohl auch schon vorher – zu wenig Personal, um den wachsenden Zustrom an Veröffentlichungen aus den Universitäten zu bewältigen. Sie konzentrierte sich deshalb auf den Kern ihres Sammelgebiets, die Dissertationen und Habilitationsschriften, und gab die akademischen Gelegenheitsschriften – z. B. an den Universitäten gehaltene Reden und Vorträge, Satzungen, Vorlesungsprogramme, Veranstaltungsberichte, Festschriften – in den Hauptgeschäftsgang der Universitätsbibliothek. In dem betrachteten Zeitraum sind in den Akzessionsjournalen sowohl aktuelle als auch ältere Publikationen mit dem Lieferanteneintrag „U.-S.- Abt.“ verzeichnet. Solche Schriften, die sich schon längere Zeit in der Universitätsschriften-Abteilung befunden hatten, wurden in den Akzessionsjournalen zusätzlich mit dem Vermerk „Alter Bestand“ versehen.
Abb. 1: Akzessionsjournal der Zentralen Universitätsbibliothek, Dona 1934.
Im Akzessionsjournal der Dona für das Haushaltsjahr 1934 führt der Eintrag des Donums D 1934.66 vom 25. Mai mit dem Lieferanteneintrag „Alter Bestand von der U.-S.-Abt.“ zu einem für mitteleuropäische Wissenschaftsliteratur recht ungewöhnlich ausgestatteten Band aus dem Jahr 1930, der sich überdies als Unikat erweist. Unter dem Titel „Anthropological Papers“ vereinte der damals noch sehr junge indische Kulturanthropologe Dhirendra Nath Majumdar (1903 – 1960) seine bislang veröffentlichten Aufsätze. Zu welchem Zweck er diese einsandte, unbekannt. Denkbar wäre, dass er sich mit seinen wissenschaftlichen Leistungen empfehlen wollte, vielleicht bei dem damals an der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrenden Indologen Heinrich Lüders. Möglicherweise hatte er Lüders schon auf einer von dessen Indienreisen kenngelernt.
Abb. 2: Dhirendra Nath Majumdar: Anthropological Papers [1923 – 1930] (Akz. Nr. D 1934.66; Signatur: Pm 3540), Einband.
Neben den Überstellungen aus der Universitätsschriften-Abteilung gelangte immer wieder Literatur aus verschiedenen zentralen Einrichtungen der Universität, wie dem Rektorat und dem Akademischen Auskunftsbüro, für die es dort keine Verwendung gab, in die Universitätsbibliothek.
Ob der am 22. August 1933 als „Alter Bestand“ verzeichnete, 1912 erschienene Teil 3 (1.2) des Fortsetzungswerks Bibliografia românésca̮ 3, 1809 – 1830, von Ioan Bianu und Nerva Hodoşals sich schon seit längerem in der Zentralbibliothek befand oder direkt vom Lehrstuhl für Alte Geschichte kam, ist nicht mehr feststellbar. Die Herkunft des Werks ist insofern bekannt, als die Aussage „Alter Bestand“ durch den Namen und den Wohnort seines Vorbesitzers ergänzt wurde, nämlich: „Prof. O. Hirschfeld Charlottenburg“. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sein Besitzer der Epigraphiker und Althistoriker Otto Hirschfeld (1843 – 1922), der bis zu seiner Emeritierung 1917 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin innegehabt und in der Mommsenstraße in Berlin-Charlottenburg gewohnt hatte.
Abb. 3: Akzessionsjournal der Zentralen Universitätsbibliothek, Dona 1933.
1938 wurde die wohl zunächst ungebundene Lieferung der Bibliografia românésca̮ 3 mit einer Folgelieferung zusammengebunden. Dabei könnten der Namensvermerk und die Ortsangabe, die im Akzessionsjournal 1933 festgehalten waren, verlorengegangen sein. Warum diese Bibliographie gerade im August 1933 in die Universitätsbibliothek aufgenommen wurde, ist ebenso ungeklärt wie die Umstände, durch die sie dorthin gelangte. Ein NS-verfolgungsbedingter Entzug jedoch ist – nicht zuletzt wegen des Eintrags „Alter Bestand“ – sehr unwahrscheinlich.
Am 16. Mai 1935 akzessionierte die Universitätsbibliothek den Katalog des Legats des Althistorikers August Boeckh (1785 – 1867), der ihr vom Universitätsarchiv überstellt worden war. Am gleichen Tag wurde im Akzessionsjournal der Dona ein weiterer, Boeckh betreffender Zugang als „Alter Bestand“ vermerkt, das Werk „Antiquitatum Romanarum“ von Paulus Manutius aus dem Jahr 1595. Dieses Werk war vor langer Zeit entwendet und – unter nicht überlieferten Umständen – zurückgegeben worden.
Abb. 4: Akzessionsjournal der Zentralen Universitätsbibliothek, Dona, 1935.
Abb. 5: Paulus Manutius: Antiquitatum Romanarum, 1595 (Akz. Nr. D 1935.98; Signatur: Qf 52173), Vermerk über die Rückgabe nach Entwendung.
1935 wurde versäumt, es nach der Rückgabe als der Sammlung Boeckh zugehörig zu kennzeichnen. Nach fast neunzig Jahren ist es nun im Zuge der Provenienzforschung August Boekh zugeordnet und im Kontext von dessen Legat recherchierbar gemacht worden.
Abb. 6: Exlibris des Vermächtnisses von August Boeckh.
#Bücherwege – Provenienzforschung an der UB
Die Universitätsbibliothek untersucht derzeit ihre zwischen 1933 und 1945 zugegangenen Bücher auf Erwerbungskontexte, die auf beschlagnahmte, geraubte und erpresste Bestände in der NS-Zeit hinweisen. Die Verdachtsmomente werden flächendeckend erfasst, indem die erhaltenen Originalbestände und Erwerbungsakten systematisch durchgesehen werden. Ziel ist es, unrechtmäßige Erwerbungen zu dokumentieren und an die Anspruchsberechtigten und ihre Nachkommen zurückzugeben. Das Projekt wird bis 2024 durchgeführt und vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste gefördert.
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Quellen:
- Akzessionsjournale der Zentralen Universitätsbibliothek
- Rudi Möbus: Die Arbeit mit Hochschulschriften in der Universitätsbibliothek Berlin in Vergangenheit und Gegenwart. In: Beiträge zur Geschichte der Universitätsbibliothek Berlin in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität 1980, S. 83 – 97.
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Verfasst von: Dr. Cornelia Briel