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#6 Bücherwege: Der Lieferanteneintrag „Herkunft unbekannt“ II

Buchkäufe, Schenkungen und Erwerbungen aus dem Büchertausch wurden in der Universitätsbibliothek akribisch in den Zugangsbüchern erfasst. Diese sogenannten Akzessionsjournale sind fast lückenlos erhalten und stellen eine wichtige Grundlage für die Provenienzermittlung dar. In ihnen wurden neben den Titeln auch die Lieferanten verzeichnet, wie Buchhandlungen, einliefernde Institutionen und Privatpersonen sowie die Partnereinrichtungen im Büchertausch. Bei manchen Einträgen fehlen jedoch diese Angaben, und an ihrer statt erscheint in der Lieferantenspalte „Herkunft unbekannt“ oder ähnliche Angaben. Dies kann ein Hinweis auf einen unrechtmäßigen Erwerb sein und somit zum Anlass für weitere Nachforschungen werden; weitaus öfter aber ist die Aussage „Herkunft unbekannt“ wohl Informationsverlusten in den Arbeitsabläufen geschuldet.

Bei den im folgenden vorgestellten Erwerbungen liegen die Umstände anders. Hier ist zu vermuten, dass die Schenkgeber ihrerseits Gründe hatten, ihre Namen nicht preiszugeben, dass sie jedoch daran interessiert waren, bestimmte Publikationen in einer öffentlichen Einrichtung wie der Universitätsbibliothek der Berliner Universität zu platzieren und so eventuell in deren Leserschaft wirksam zu werden.

Die Schrift Die Wahrheit über den Kampf um die Karls-Universität in Prag von Karol Domin, dem Rektor der tschechoslowakischen Prager Karlsuniversität, und dreier weiterer Autoren, steht in Zusammenhang mit dem seit 1918 virulenten Insignienstreit zwischen der tschechoslowakischen und der deutschen Universität in Prag. 1934 forderte die tschechoslowakische Universität von der deutschen die Herausgabe der Insignien (Gründungsurkunde, Amtskette und Szepter) als Bestätigung, dass sie die rechtmäßige Nachfolgerin der ursprünglichen, 1348 gegründeten Prager Universität sei. Herausgeber des Hefts mit dem eilenden schwertschwingenden Jüngling auf dem Umschlag – das Schwert trägt das Motto LEX CIVIUM DUX – war der Verein tschechoslowakischer Akademiker in Wien. Die Herkunft der Sendung ließ sich bis zu dem Wiener Postamt zurückverfolgen, wo sie von der Frankiermaschine mit dem Datum 29.3.1935 gestempelt worden war, weiter jedoch nicht. Der Eintrag vom 10. April 1935 in der Lieferantenspalte lautet folgerichtig: „Herkommen? Wien (s. Poststempel)“. Die Autoren und ihr Anliegen waren bekannt; wer die Sendung in Wien aufgegeben hatte, jedoch nicht ersichtlich.

Abb. 1: Karel Domin u. a.: Die Wahrheit über den Kampf um die Karls-Universität in Prag, Wien: Akademický Spolek ve Vídni 1935. Akz.Nr. D 1933.323, Signatur: Ay 77572, Umschlag mit Poststempel.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sahen ihre Parteigänger und Sympathisanten den Zeitpunkt gekommen, ihre Vorstellungen von Revanche und Annexion gegenüber den Nachbarstaaten kundzutun. Am 13. Juni 1933 verzeichnet das Akzessionsjournal Dona – Tausch eine Schrift mit dem Titel Speer-Ruf an Österreich. Darin fordert der Autor Helmuth Wolmes in altertümelnd gestelzter Rede – halb werbend, halb drohend – den „Anschluss“. Auf dem Umschlag seines sechzehnseitigen Appells steht vor mittelalterlicher Stadtkulisse ein jugendlicher Ordensritter, der traurig-entschlossen in die Ferne schaut.

Abb. 2: Hellmuth Wolmes: Speer-Ruf an Österreich, Danzig: Danziger Verlags-Gesellschaft (Paul Rosenberg) 1933. Akz.Nr. D 1933.87, Signatur: Gesch. 26666, Umschlag.

Wer Wolmesʼ Schrift der Universitätsbibliothek zusandte, ob der Autor oder sein Verlag, die Danziger Verlagsgesellschaft von Paul Rosenberg, oder jemand anderes, lässt sich weder anhand des Akzessionsjournals noch der Akten der Universitätsbibliothek im Universitätsarchiv ermitteln. In der Lieferantenspalte vermerkt ein Fragezeichen, dass der Absender dieser Geschenkerwerbung den Eintragenden nicht bekannt war.

Abb. 3: Akzessionsjournal Tausch 1933, Dona 1933, Ausschnitt. Eintrag: D 1933.87, Hellmuth Wolmes: Speer-Ruf an Österreich, Danzig 1933.

Die Universitätsbibliothek war indes nicht der einzige Adressat, an den Wolmesʼ Pamphlet verschickt wurde. Auch die Preußische Staatsbibliothek erhielt ein Exemplar des Speer-Rufs. Dieses wurde mit der Akzessionsnnummer D 1933.180 einige Tage zuvor, am 7. Juni 1933, im Akzessionsjournal Dona Deutsch verzeichnet. Auch hier war der Absender nicht bekannt. Die Kollegen in der Preußischen Staatsbibliothek beließen es bei der Aussage „eingesandt“ in ihrem Akzessionsjournal.

Abb. 4: Akzessionsjournal der Preußischen Staatsbibliothek Dona Deutsch 1933/34, Ausschnitt. Eintrag: D 1933.180.

Ebenso wie in der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität ist auch in der Staatsbibliothek zu Berlin das entsprechende Exemplar noch vorhanden. Eine weitere, ebenfalls 1933 erschienene Schrift von Wolmes mit dem Titel Hammer-Wurf. Drei Freundesreden, welche nur die Preußische Staatsbibliothek besaß, ist im Katalog der Staatsbibliothek als Kriegsverlust angezeigt.

Mit einem zarten, mit spitzem Bleistift gesetzten Fragezeichen ist auch der Eintrag einer gänzlich anderen politischen Schrift versehen, der Anklage gegen die Ankläger. Die Widerlegung der geheimen Anklageschrift des Reichstagsbrand-Prozesses.

Abb. 5: Akzessionsjournal Tausch 1933, Dona 1933, Ausschnitt. Eintrag: D 1933.323, Anklage gegen die Ankläger. Am Anfang der Zeile „(F)“, am Ende der Zeile Vermerk: „Schrank 9“.
Abb. 6: Anklage gegen die Ankläger. Die Widerlegung der geheimen Anklageschrift des Reichstagsbrand-Prozesses, hrsg. vom Weltkomitee für die Opfer des Hitlerfaschismus, Paris: Verlag Edition du Carrefour 1933. Akz.Nr. 1933.323, Signatur: H 51815. Titelblatt.

Die auf festem, nicht säurehaltigem Papier gedruckte Beweisführung war nach dem Beginn des Prozesses am 21. September 1933 erschienen, herausgegeben in Paris von der Komintern, der Kommunistischen Internationale. Am 29. November 1933 wurde der Titel mit einem „(F)“ für Fortsetzungswerk am Anfang der Zeile von der Universitätsbibliothek akzessioniert. Demzufolge erschien die Anklage gegen die Ankläger als die Fortsetzung der bereits vor Beginn des Prozesses – gleichfalls von der Komintern – herausgegebenen Streitschrift Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror.

Dieses sogenannte Braunbuch I ist indes im Akzessionsjournal Dona 1933 nicht nachweisbar. Bei dem in die Zeile gequetschten Verweis stellt sich die Frage, ob es den Eintragenden vorlag oder ob sie nur davon wussten, dass der Titel existierte. Jedenfalls weist der Eintrag vom 29. November 1933 am Ende der Zeile nur einen Band, also wohl das Braunbuch II, die Anklage gegen die Ankläger – und nicht zwei Bände – aus.

Das unter der Nummer D 1933.323 akzessionierte Exemplar mit der Signatur H 51815 Nachtr. befindet sich heute noch in der Universitätsbibliothek. Das Braunbuch I (Signatur H 51815) hingegen wurde im historischen Bandkatalog der Universitätsbibliothek bei einer Bestandsrevision (vermutlich 1949) als „Verlust“ vermerkt.

Abb. 7: Bandkatalog, Eintrag unter „Anklage“.
Abb. 8: Bandkatalog, Eintrag unter „Braunbuch“.

Den Autoren der Anklage gegen die Ankläger war die Anklageschrift als Photokopie zugespielt worden. Aufgrund der Rekonstruktion des Brandverlaufs bezweifeln sie in der „Widerlegung“, dass der beschuldigte Marinus van der Lubbe mit den von ihm benutzten Kohlenanzünder-Paketen einen derart verheerenden Brand überhaupt hätte auslösen können. Überdies heben sie hervor, dass Zeugenaussagen im Prozess unberücksichtigt blieben und dass einige Zeugen gar nicht erst vorgeladen wurden. Und sie verweisen auf jene Aussagen, die die Aktivitäten im Verbindungsgang (Heizungstunnel) zwischen dem Palais des Reichstagspräsidenten (Hermann Göring) und dem Reichstagsgebäude mehrere Tage zuvor betrafen und denen nicht nachgegangen wurde. Zweck ihrer Schrift war es dabei, die Anschuldigungen gegen die kommunistischen Funktionäre, den Deutschen Ernst Torgler und die drei Bulgaren Georgi Dimitrow, Blagoi Popow und Wassil Tanew, zu entkräften und van der Lubbe als Werkzeug der Nationalsozialisten hinzustellen.

Darüber, wie die Anklage gegen die Ankläger in die Universitätsbibliothek lanciert wurde, kann nur spekuliert werden. In den frühen Jahren des NS-Regimes wurden in den öffentlichen Bereichen mehrfach als „Handzettel“ bezeichnete Schreiben politischen Inhalts aufgefunden. Die Schreiben selbst sind in den Akten des Universitätsarchivs nicht überliefert, doch zog ihr Fund aktenkundige Meldungen nach sich, aus denen hervorgeht, dass sie der Direktion übergeben und an die Geheime Staatspolizei weitergeleitet wurden.

Abb. 9: Gustav Abb an die Geheime Staatspolizei, 16.9.1936, Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, UB 01, 0064.

Sollte die Anklage gegen die Ankläger auf ähnlichem Wege wie die Handzettel in die Bibliothek gelangt sein, ist sie offenkundig nicht der Gestapo überantwortet worden, sondern ging – ein gedrucktes Werk – als Geschenk in die Bibliothek ein. Doch versteht es sich bei der Brisanz ihres Inhalts von selbst, dass sie – wie die in # 2 Bücherwege abgebildete Broschüre Das Jungbanner – sekretiert, d. h. in einem gesonderten Raum im Gebäude der Bibliothek aufbewahrt und der allgemeinen Benutzung entzogen wurde.

Eine Schrift, die in ihrer Wirkung weniger spektakulär sein mochte als die Braunbücher und deren Sekretierung offenbar nicht für nötig befunden wurde, ist die von Peter Bockemühl herausgegebene Materialsammlung Eine Stunde der Versuchung. Wohin gehören die Reformierten im gegenwärtigen Kirchenkampf. Mit dem Kirchenkampf ist der Konflikt zwischen der Bekennenden Kirche und dem NS-Regime gemeint. Die Broschüre war Ende 1934 in Wuppertal erschienen und wurde am 17. Dezember 1934 im Akzessionsjournal verzeichnet (Akzessionsnummer D 1934.826, Signatur Cq 21446). Wer sie einlieferte, ist nicht bekannt. Jedoch erweckt der Eintrag „Ungenannter Geber“ in der Lieferantenspalte den Eindruck, dass die Eintragenden den Geber kannten. Er war eben kein Unbekannter, sondern ein ungenannt bleiben wollender Geber.

Die Materialsammlung enthält Auszüge aus Briefen, Gutachten, Gesetzestexten, Stellungnahmen zum „Kirchenkampf“, vornehmlich im Rheinland. Mit der Versuchung, von der Bockemühl im Titel spricht, ist das Angebot der Reichskirchenregierung gemeint, den Angehörigen der Reformierten Kirche in dem Fall Sonderrechte in der Union mit den lutherischen Christen einzuräumen, wenn sie sich von der Barmer Theologischen Erklärung (31. Mai 1934) lossagten und auf die Seite der regime-konformen Deutschen Christen wechselten. Der Autor Peter Bockemühl, Pfarrer in einer evangelisch-reformierten Gemeinde, gehörte selbst der Bekennenden Kirche an und war in den späteren dreißiger Jahren Repressionen ausgesetzt.

Unter D 1937.217 wurde am 10. September 1937 eine großformatige engbedruckte, einer Zeitung ähnelnde Druckschrift mit dem Titel The Modern Line of Attack on Women’s Civil Rights. An Examination of Confused Thinking eingetragen. Herausgeberin war die in London beheimatete Organisation The Open Door International for the Economic Emancipation of the Woman Worker. Der Text wurde im September 1937 in Druck gegeben. Er muss also bereits kurz nach dem Erscheinen in der Universitätsbibliothek der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin eingegangen sein. Die Lieferantenangabe lautet auch hier „Herk. unbekannt.“

Abb. 12: The Modern Line of Attack on Women‘ Civil Rights. An Examination of Confused Thinking, hrsg. von: The Open Door International for the Economic Emancipation of the Woman Worker, London 1937, Akz. Nr. D 1937.217, Signatur Fq 3905. Titel.

In dem mit vielen Zitaten angereicherten Text setzen sich die Autorinnen mit verschiedenen, Arbeitnehmerinnenrechte betreffenden Resolutionen und Bulletins auseinander, beginnend mit der Resolution der Arbeitsorganisation des Völkerbunds vom Juni 1937. In ihrer streng juristischen, ja legalistischen Argumentation kritisieren sie, dass die Bestimmungen zu Schutzrechten für arbeitende Frauen, wie z. B. das Verbot der Nachtarbeit, sich nicht zu deren Vorteil auswirken, sondern vielmehr dazu führen, dass Frauen aus bestimmten Berufen und Arbeitsprozessen hinausgedrängt werden. Da Frauen, zumindest in den demokratisch verfassten Staaten, jedoch dieselben Bürgerrechte haben wie Männer, bewerten die Autorinnen diese Praxis nicht allein als paternalistische Bevormundung, sondern bezeichnen sie auch als rechtswidrig, wenn die verfassungsmäßig garantierte Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz gelten soll.

Es gibt bislang keine Anhaltspunkte, durch wen und auf welchem Wege dieser stringente Beitrag zu grundsätzlichen arbeits- und menschenrechtlichen Fragen in die Universitätsbibliothek der Friedrich-Wilhelms-Universität kam. Da der Text – laut dem Karlsruher Virtuellen Katalog – in Deutschland nur noch in einer weiteren Bibliothek, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, vorhanden ist, ist er als Rarum gekennzeichnet. Wäre er der Bibliothek direkt aus London zugesandt worden, so fände sich wahrscheinlich ein entsprechender Zusatz in der Lieferantenangabe. So fragt sich, ob ein Unbekannter oder eine Unbekannte persönliche Kontakte zu der Londoner Organisation hatte. Oder war der Text abgefangen und beschlagnahmt worden? Aber wäre er dann so schnell an die Universitätsbibliothek abgegeben worden, und wäre seine Herkunft dann mit „Herkunft unbekannt“ verschleiert worden? Auch wenn die Argumentation von The Open Door International hinsichtlich der fürsorglichen und entrechtenden Schutzbestimmungen für berufstätige Frauen auf die Mitarbeiterinnen der Universitätsbibliothek nicht zutraf, so befanden sie sich doch ebenfalls in einer gegenüber ihren männlichen Kollegen benachteiligten Stellung. Wie der Verwaltungsbericht der Universitätsbibliothek der Friedrich-Wilhelms-Universität festhält, hatte die Bibliothek am 31. März 1937 78 Beschäftigte. Davon waren 35 Frauen. Frauen arbeiteten als Garderoben- und Reinigungsfrauen. Es gab eine Büroangestellte. Die 19 Hilfsarbeiterstellen der Bibliothek waren 1937 ausschließlich mit Frauen besetzt. Diese Hilfsarbeiterinnen übten vielfach bibliothekarische Tätigkeiten aus. Bei den Bibliotheksbeamten waren Frauen indes unterrepräsentiert: Waren unter den zwölf Bibliotheksinspektoren immerhin noch sechs Frauen, so gab es unter den vier Bibliothekaren nur eine Frau, unter den vier Bibliotheksräten keine. Anhand der Verwaltungsberichte der Universitätsbibliothek der Friedrich-Wilhelms-Universität lässt sich überdies nachweisen, dass aufgrund der bis in die Weimarer Republik zurückgehenden Doppelverdiener-Regelung Frauen, wenn sie heirateten, aus dem Berufsleben ausschieden.


#Bücherwege – Die Universitätsbibliothek untersucht ihre zwischen 1933 und 1945 zugegangenen Bücher auf Erwerbungskontexte, die auf beschlagnahmte, geraubte und erpresste Bestände in der NS-Zeit hinweisen. Die Verdachtsmomente werden flächendeckend erfasst, indem die erhaltenen Originalbestände und Erwerbungsakten systematisch durchgesehen werden. Ziel ist es, unrechtmäßige Erwerbungen zu dokumentieren und an die Anspruchsberechtigten und ihre Nachkommen zurückzugeben. Das Projekt wird bis 2025 durchgeführt und vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste gefördert.


Quellen:


Verfasst von: Dr. Cornelia Briel