Archiv für August 2019

„Ihre Neugier war spät erwacht, doch nun wollte sie das Leben voll auskosten.“ Eine Rezension zum Erzählband „Im Labyrinth“ (2019) von Sara Rai

Theresa Spreckelsen

Der 2019 im Heidelberger Draupadi-Verlag erschienene Band Im Labyrinth enthält eine Auswahl an Erzählungen der indischen Autorin Sara Rai. Aus dem Hindi übersetzt wurden sie von der Südasienwissenschaftlerin Johanna Hahn. Neben ihrer Arbeit als Autorin ist Sara Rai als Übersetzerin und Herausgeberin tätig. Ihre Werke verfasst sie überwiegend auf Hindi. Rais erster Erzählband „Schwalbenflug“ wurde 1997 veröffentlicht, gefolgt von „In der Wildnis“ (2005) und dem Roman „Das Milanenhaus“ (2010). Ihr Großvater ist als Schriftsteller unter dem Pseudonym Premchand bekannt und gilt als Wegbereiter der modernen Hindi-Literatur. Ihr Vater, Shripat Rai, war ein bedeutender Herausgeber und Literaturkritiker und auch ihre Mutter, Zahra Rai, verfasste Kurzgeschichten.

In den Erzählungen dieses Bandes trifft der_die Leser*in auf eine Vielzahl diverser und interessanter Charaktere. Sei es die Geschichte eines abergläubischen siebenjährigen Mädchens in „Schwalbenflug“ oder eines alten kranken Mannes in „Babu Devidins neue Welt“ – die Ereignisse haben eine Gemeinsamkeit: sie beschreiben mit viel Liebe zum Detail alltägliche wie auch besondere Erfahrungen. Ein älteres Ehepaar, das an den Ort seiner Flitterwochen zurückkehrt und durch die Begegnung mit einem frisch verheirateten Paar wieder zueinander findet. Alte Freunde, die sich auseinandergelebt haben und ihre Freundschaft trotz aller Bemühungen nicht mehr retten können, dies vielleicht auch gar nicht möchten. Eine Amarvallari-Pflanze, die gegen den ständigen, durch die Globalisierung angetriebene Fortschritt ankämpft und zeigt, wie sich die Natur zurückholt, was die Menschen ihr genommen haben – denn, „Unkraut vergeht nicht.“ Eine von Schlaflosigkeit geplagte Frau, die während einer im Fernsehen übertragenen Rede des Premierministers endlich einschläft. All diese Figuren spiegeln die Komplexität der sozialen und kulturellen Situation im heutigen Indien wider.

Die Erzählung „An der Kante“ handelt von einer Beziehung zwischen zwei Männern, die nicht nur unterschiedliche soziale Klassen, Kasten und Religionsgemeinschaften sondern auch einen beachtlichen Altersunterschied überwinden müssen. Manoranjan erzählt von seinem ewigen Dasein in einem gesellschaftlichen Gefängnis, weil er nicht der sein kann, der er wirklich ist: er liebt Männer und wäre selbst lieber eine Frau. Sein Freund Javed ist in die Stadt gezogen, um seine Familie zu unterstützen und muss nun auf Grund eines unerklärten Verdachts zurück in seine Heimat fliehen. Als er nach neun Monaten zurückkehrt, hat er den Wünschen seiner Familie nachgegeben und festgestellt, dass das Gefängnis, dem er entkommen zu sein glaubte, ihn immer wieder einholt.

Ein starker Kontrast zu dieser Geschichte ist „Tatverdächtiger flüchtig“ – eine Erzählung, die sich mit dem „Shakti Mills Gang Rape“[i] befasst, einem Vergewaltigungsfall, der 2013 große Aufmerksamkeit in den indischen Medien erhielt. Diese Geschichte wird aus der Perspektive eines daran beteiligten Täters erzählt und ist eine interessante Leseerfahrung. Auch er kehrt auf der Flucht vor der Polizei in seine Heimatstadt Allahabad zu seiner ebenfalls gewalttätigen Mutter zurück. Nach einer ziemlich drastischen Schilderung des Verbrechens konzentriert sich die Erzählung auf die Zeit, in der der flüchtige Täter in seinem Versteck ausharrt, bis sich die Aufregung um den Fall gelegt hat. Es wird deutlich, dass Handlungen Konsequenzen haben, auch wenn sie nicht so ausfallen wie zunächst erwartet.

So unterschiedlich wie die Inhalte der Erzählungen sind auch die Sprachstile und Register, die Sara Rai verwendet. Dies reflektiert zum einen die sprachliche und kulturelle Vielfalt Indiens, zum anderen aber auch die Biografie der Autorin selbst. Sie verwendet verschiedene Sprachen, Dialekte, Stile und schafft es dabei, die fiktive Welt vor den Augen der Leser*innen entstehen zu lassen. Stilistisch ist die Sammlung eine absolute Wohltat, es macht einfach nur Freude, in diese Geschichten einzutauchen. Auch wenn sie zum Teil dunklere Themen behandeln, wirkt die Atmosphäre der geschilderten Situation nie düster. Denn auch an schwierigen Stellen setzt die Autorin mit viel Feingefühl auf Humor und es gelingt ihr, die Stimmung nicht zu bedrückend werden zu lassen. In „Tatverdächtiger flüchtig“ wirkt beispielsweise die Mischung aus Dialekt, Slang und fehlerhaften Sätzen passend für die emotionale Situation des Protagonisten. Zugleich macht sie die Erzählung leichter, ohne dabei das politisch relevante Thema zu verharmlosen.

Der vielleicht bedeutendste Beitrag ist der autobiografische Essay „Du wirst die Katherine Mansfield der Hindi-Literatur sein“, in dem Rai ihre eigene Entwicklung als Schriftstellerin mit sprachlich-linguistischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen reflektiert. So beschreibt sie die Schwierigkeit, die richtige Sprache für ihre Geschichten zu finden – in ihrem Elternhaus wurde Hindustani gesprochen, eine Mischung aus Hindi und Urdu, in der Schule wiederum Englisch und ihr Vater war Herausgeber hindisprachiger Werke. Rai erklärt, dass sie sich „nicht nur in Bezug auf Sprache wie ein Migrant [sic]“ fühlte. Durch die Art, wie sie über das Schreiben schreibt, werden Situationen und Prozesse beschrieben, in denen sich jede*r Literaturliebhaber*in wiederfindet. Gleichzeitig hat der Essay eine große politische Bedeutung, denn er erläutert die Komplexität der Aufgabe, ein Land wie Indien, das oft auf stereotypische Aspekte reduziert wird, in der Kunst und Literatur zu repräsentieren: die Verwendung verschiedener Sprachregister, die Namen der Personen und beschriebene Kleidungsstücke geben Indien kundigen Leser*innen Auskunft über die Kaste, Klasse und regionale Herkunft der Charaktere. Für das unwissende Publikum gibt es ein detailliertes Glossar, ergänzend zu den Erklärungen in den Fußnoten. So werden die Erzählungen für ein breitgefächertes Publikum zugänglich.

Nicht zuletzt ist die Qualität der Übersetzung dieser Erzählungen hervorzuheben. Die Herausforderungen, vor denen sich Rai sah, als sie sich letztendlich dazu entschied, in mehreren Sprachen zu schreiben, stellten sich auch der Übersetzerin. Johanna Hahn musste zusätzlich zu der Schwierigkeit, die bildliche und stilistische Sprache des Originals effektiv wiederzugeben, verschiedene Sprachen in eine einzige – das Deutsche – übersetzen, was ihr hervorragend gelungen ist. Die Geschichten wirken lebendig und direkt, nie trocken oder langweilig. Auch der Klang, der für die Autorin im Hindi von großer Bedeutung ist, geht im Deutschen nicht vollkommen verloren.

Die Geschichten in Im Labyrinth reflektieren eine Vielzahl von unterschiedlichen Themen, allesamt politisch, sozialkritisch und relevant. Mal sind sie humorvoll, ein anderes Mal melancholisch. Rais Charaktere sind angenehm menschlich, ihre Gefühle und Gedanken realistisch, sodass die Leser*innen sich ihnen ganz nah fühlen. Trotz der Vielfalt an Themen und Personen sind die Erzählungen in diesem Band so ausgewählt und angeordnet, dass sie eine Einheit bilden. Mit dem Coburger Rückert-Preis 2019 ausgezeichnet, hat dieses Werk es geschafft, eine relevante und herausragende Stimme der indischen Literatur im deutschen Buchmarkt zu festigen.


[i] Bei dem „Shakti Mills Gang Rape“ handelt es sich um ein Vergewaltigungsverbrechen, welches 2013 in Indien sehr viel in den Medien diskutiert wurde. Eine junge Journalistin wurde auf dem Gelände der Shakti Mills in Mumbai von fünf Tätern vergewaltigt. Drei von ihnen wurden verurteilt, zwei waren minderjährig.


Zur Autorin:

Theresa Spreckelsen studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin Großbritannienstudien im Master und arbeitet als studentische Mitarbeiterin am Bereich Gender and Media Studies for the South Asian Region. Ihre Schwerpunkte umfassen Literatur- und Kulturwissenschaften, Popkultur, Adaptation Studies, Gender Studies, Politikwissenschaften und Mental Health Diskurse.


5. August 2019 | Veröffentlicht von | 1 Kommentar »
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