Ein Beitrag von Max Kramer
Die Studentenbewegung an indischen Hochschulen hat auf meiner Facebookseite einen Wirbelsturm an Debatten und Videos ausgelöst. Sie begann damit, dass in Reaktion auf einen nicht genehmigten Protest im Andenken an die kaschmirischen „Märtyrer“ Afzal Guru und Maqbool Bhat der Studentenführer der All India Student Federation, Kanhaiya Kumar, auf dem Campus der Jawaharlal Nehru University (JNU)in Neu-Delhi aufgrund von „sedition“ verhaftet wurde. „Sedition“ ist ein aus kolonialer Zeit stammender Begriff, der auf Deutsch Anstiftung zum Aufruhr bedeutet und zwischen Volksverhetzung und Hochverrat angesiedelt werden kann. Ursprünglich wurde das darauf bezogene Gesetz von den Briten angewandt, um indische Nationalisten wie Mahatma Gandhi von ihren politischen Kampagnen abzuhalten. Nach massiven internationalen Protesten, die sich um den Zustand der Demokratie und Redefreiheit in Indien drehten, wurde Kumar vor einigen Tagen wieder aus dem Gefängnis entlassen und hielt am 03. März eine Rede auf dem Campus der JNU. Diese knapp einstündige Rede auf Hindi/Urdu war eine rhetorische Meisterleistung. Sie begann und endete mit Slogans, die „Azadi“(Freiheit) von unterschiedlichsten Formen der Unterdrückung forderten: von der Kastenunterdrückung, von kapitalistischer Unterdrückung, von genderbezogener Unterdrückung usw. Dabei brachte er die politische Bewegung des Mitautoren der indischen Verfassung und Dalit-Anführers Bhimrao Ramji Ambedkar mit traditionelleren linken Ansätzen unter einen Hut. Er flocht fließend Wortspiele in seine Rede ein und berichtete von seinen „Erfahrungen im Gefängnis“, die er halbironisch als Solidaritätserlebnis mit den berüchtigten Polizisten Delhis schilderte. Schließlich seien er und sie aus der gleichen Klasse und an Solidarität fehle es vielleicht nur aufgrund von Übersetzungsschwierigkeiten. Ganz in diesem Sinne fordert er die JNU-Studenten auf, ihre theorielastige Sprache zu überdenken, da sie unter den Zielgruppen ihrer Politik, den Bauern, Armen und Ausgestoßenen schlecht verstanden werde. Kumars Rede macht momentan auf sozialen Netzwerken die Runde. Einige Kommentator_innen sehen mit Kumar einen neuen Stern am Himmel sozialer Bewegungen in Indien aufgehen.
Was ist aber dieses Wort „Azadi“ und wie steht es zu den jüngsten Ereignissen?
Kumar wurde nach einer Kundgebung von vorwiegend kaschmirischen Studierenden an der JNU verhaftet, die, wie schon viele Male zuvor, das Recht auf politische Selbstbestimmung der Region öffentlich eingefordert haben. „Politische Selbstbestimmung“ ist eine recht bekannte Bedeutung von Azadi, die offen lässt, ob es sich um einen Anschluss an Pakistan, um Separatismus oder, seltener, um eine kooperative Lösung handelt. Solche Proteste sind an der JNU Teil des universitären Alltags. Ich selbst war auf etlichen dieser Demonstrationen anwesend, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre. Dieses Mal jedoch entschieden sich regierungsnahe Akteure, daraus ein Medienereignis zu machen. Dieses Ereignis war aus Regierungsperspektive vielleicht eher kontraproduktiv, wenn man bedenkt, was für eine neue Sichtbarkeit Kumar dadurch gewann. Der am stärksten kommentierte Satz aus Kumars Rede nimmt die begriffliche Problematik von Azadi auf. Er lautete „Bharat se nahin, Bharat mem azadi mang rahe hain“ („Wir fordern nicht die Freiheit von Indien, sondern in Indien“).Viele von meinen „Facebook-Freunden“ stammen aus dem Kaschmirtal und sind mit der JNU assoziiert. Die Rezeption von Kumars Rede beschäftigte sich daher oft mit Hindi-Postpositionen (im Hindi stehen die Verhältniswörter hinter dem Wort, auf das sie sich beziehen): was ist mit ‚mem‘ (in, innerhalb) und was ist mit ‚se‘ (getrennt, instrumental) gemeint? Zum ‚mem’ kann neben Kumars Rede auch auf die gleichzeitig in Reaktion auf die Ereignisse ins Leben gerufenen Teach-In-Vortragsreihe an der JNU über Nationalismus hingewiesen werden. Dort erkunden einige Professor_innen der Universität die Potentiale „inklusiver nationaler“ Artikulation, meist in Bezug auf die klassischen Kandidaten Rabindranath Tagore und Mahatma Gandhi. Für viele Student_innen aus dem Kaschmirtal bedeutet ‚mem‘ allerdings immer noch den Einschluss in die Union. Eine föderale Lösung geht ihnen nach mehr als 25 Jahren militärischer Besatzung nicht weit genug. Mohamad Junaid, Anthropologe und Absolvent der JNU, erinnert sich, dass der Begriff Azadi erst seit den frühen 2010er Jahren eine ganze Reihe linker Artikulationen verknüpfte. Daher die Ambivalenz im Umgang mit ‚mem‘ und ‚se‘. In der Imagination vieler nationalistisch denkender Menschen ist Azadi noch ausschließlich die Forderung einer „eigensinnigen, von Terroristen durchdrungenen“ Region. Die Forderung stellt für sie eine ständige Bedrohung nationaler Integrität dar. Für Studenten wie Kanhaiya Kumar und für viele Feminist_innen in Indien und Pakistan war Azadi allerdings schon länger ein bekannter Slogan, der dem Wunsch zur Freiheit die richtige emotionale Tonhöhe mitgibt. Dieses Potential von Azadi besteht nun im Verhältnis zu Kaschmir darin, Gemeinsamkeiten in der Opposition zu einem verantwortungslosen politischen System und sedimentierter sozialer Machtbeziehungen zu artikulieren, die bislang nur selten einen gemeinsamen Nenner fanden. Auch im Kaschmirtal wurde von der Bevölkerung ein eintägiger Streik als Zeichen der Solidarität mit den Student_innen der JNU abgehalten. Mohamad Junaid führt die demokratischen Potentiale aus, die aus der neuen Pluralität von Azadi-Forderungen folgen könnten:
„Our responsibility is not to divest azadi of its plural meanings, but to affirm them all together. The power of azadi chants on JNU’s campus does not lie in watering it down to make it acceptable to the nationalist, upper-caste Indian bourgeoisie. It lies in its plural expressions; however difficult those expressions might appear. It lies in articulating the struggle for Dalit liberation within the Kashmiri Tehreek [Bewegung], the Kashmiri Tehreek within the Dalit struggle (both of which have happened in their own way), and the students’ struggles within the other two. There is no ‘proper’ azadi, or ‘clarification’ azadi. What kind of azadi can a court or a constitution give which can’t bear even a few harmless slogans? In any case, what kind of azadi is it if it does not even commit to causing a little discomfort among the powerful?“
Allerdings mahnen einige meiner kaschmirischen Freunde zur Vorsicht, da ihre Forderungen nicht „einfach“ in etwas Größerem aufgehen. Sie möchten auch ernst genommen werden, wenn sie „se“ sagen. Damit begann schließlich das Medienereignis in der JNU und erst in einer Reaktion darauf formulierte Kumar das inklusive ‚mem‘ seiner Rede. Ein Freund von mir postete auf Facebook, dass er hofft, diese Aneignung von Azadi führe nicht in die erweiterten Postposition von ‚se pahle‘ (vorher) und ‚ke baad‘ (danach), so dass die möglichen Transformationen einer ‚indischen‘ Studentenbewegung offen bleiben. Zuletzt fällt mir dazu ein, dass „se“ schließlich auch als „instrumental“ verwendet werden kann: erst durch diese Transformation einer „indischen“ Wahrnehmung des leidenschaftlichen Appells von Azadi kann das von vielen Kaschmiris erträumte „se“ als eine Form der Trennung im Einverständnis möglich werden (und dann vielleicht schon nicht mehr nötig sein).
Quelle Bild: Kamal Singh
Weitere Artikel-Links zum Thema:
- Schauspielerin Kalki Koechlin löst Diskussion auf Twitter aus durch ihr Statement zur Politik der Postposition/Azaadi
- ‚Azaadi In Bharat‘: A New Anthem, A New Political Star? NDTV, March 4, 2016
Heidelberg, 15.-16.01.2016
Max Arne Kramer
Der kürzlich abgehaltenen Workshop „Imagining Futures and Forms of Resistance in Kashmir“, organisiert durch Dr. Karin Polit von der ethnologischen Abteilung des Südasien Instituts, Heidelberg, fokussierte auf den Alltag der im Konflikt aufgewachsenen Jugend des Kaschmirtals. Am Abend des ersten Tages hielt die Psychologin Lubna Rafiqi einen Vortrag über verschiedene kulturelle Artikulationen einer oft als ‚verloren’ bezeichneten Generation junger Kashmiris, die sich an der ‚Kashmiri-Intifada‘ (2010 bis heute) beteiligten. Verschiedene Formen dieser neuen kulturellen Aktivitäten, darunter Rap, Theater, Film, Literatur und Poesie, wurden vorgestellt und in Beziehung gesetzt zu Online-Aktivismus, der Arbeit mit sozialen Netzwerken und spontanen Straßenprotesten. Rafiqi hat zusammen mit FreundInnen und KollegInnen aus dem Kaschmirtal mit ‚Mool Sustainability Research and Training Center’ eine alternative Bildungseinrichtung gegründet.
‚Mool‘ beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der Massenarbeitslosigkeit oft gut gebildeter junger Menschen und der Schwierigkeit, innerhalb des Tals eine nachhaltige Bildungspolitik zu betreiben. Rafiqi betonte, dass das Leben von jungen Menschen im Konflikt auf kurze Zeit eingerichtet sei. Es ähnele mehr einem ‚Überleben‘ als einer aktiven Lebensgestaltung. In der Folge wurden die Forschungsprojekte von Dr. Karin Polit, Sarah Ewald und Max Kramer kurz vorgestellt und dann ausführlich besprochen. Ein Schwerpunkt der Gespräche und Projekte bezog sich im Zusammenhang mit dem Mool-Projekt auf die Frage der ‚Arbeit‘ als emanzipatorische Praxis. Viele kaschmirische Jugendliche, die gut ausgebildet sind, sehen innerhalb des Tals keine Zukunftsaussichten und leiden, wie Rafiqi betont, oft unter psychischen Erkrankungen, die in direktem Zusammenhang mit der physischen und kulturellen Besatzung des Kaschmirtals stehen.
Max Arne Kramer
Am 22.04.2015 fand in den Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin eine von Dr. Sanaa Alimia und der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) gemeinsam organisierte Filmvorstellung zum Kaschmirkonflikt statt. Der Film „Bring Him Back“ (2015) behandelt den politischen Einsatz von Shamli Begum, der Mutter des 1984 in Indien gehängten kaschmirischen Seperatistenführers Maqbool Bhat. Seit über dreißig Jahre kämpft sie für die Rückführung des Leichnams ihres Sohns in das leer stehende Grab auf dem Märtyrerfriedhof Srinagars, der Sommerhauptstadt des indisch-verwalteten Teil des umstrittenen Gebiets. Die Zuschauer wurden durch Fahad Shahs Film mit der biopolitischen Dimension des Kaschmirkonflikts konfrontiert: er zeigt, wie nicht nur der Mobilität der Lebenden in einem militärisch besetzten Land enge Grenzen gesetzt sind, sondern auch, dass durch die Bewegung eines Leichnams aus der Sicht staatlicher Entscheidungsträger unkontrollierbare politische Passionen unter der Bevölkerung ‚entflammen‘ könnte. Es folgte eine Diskussion mit dem Filmemacher und Medienschaffenden Fahad Shah, Herausgeber des bekannten kaschmirischen Online-Journals „The Kashmir Walla„. Shah betonte die Notwendigkeit für die kaschmirische Jugend, auf allen Ebenen des medialen und kulturellen Ausdrucks aktiv zu werden. Sein Film, so Shah, sei eine wichtige Ressource der Erinnerungspolitk seiner Generation, der sich immer mehr Kashmiris bedienen, um „die orientalistischen Bilder des indischen Kolonialismus anzufechten“.
Eine neuere Publikation von Shah „Of Occupation and Resistance“ präsentiert Essays vorwiegend junger Kashmiris aus der Generation der ‚Kashmiri Intifada‘ (ab 2010), die ihre Erinnerungen an die Kindheit in einem Konfliktgebiet durch verschiedene Formen zum Ausdruck bringen.