Im Dienst des richtigen Lebens – Tagebuch eines verstellten Bibliothekars

Noch 35 Minuten bis Feierabend. Greta G. platzt in mein Büro. Trotz des großen, extra im Genitiv verfassten Zettels an der Tür: „Wegen des Umzugs geschlossen“, stürmt sie herein und fragt mich ernsthaft, ob ich ihren Spätdienst übernehmen könne? Ich muss mir unbedingt ein besseres Abwehrsystem überlegen. Aber fürs Erste wird die Luft ziemlich dünn. Lieber würde ich meine Katze einschläfern lassen, als ihren Dienst zu übernehmen. Bevor meine Gesichtszüge völlig entgleisen, verfalle ich in einen Hustenanfall. So schnell aber lässt sich eine Greta G. nicht abschütteln. Nicht umsonst wird sie auch Etiketten-Greta genannt. Um die folgende Lücke peinlichen Schweigens zu überbrücken, erwähnt Greta G. eine neue Dienstanweisung. Der Chef spendiert jedem ein ausgesondertes Buch, der solch unzumutbare Dienste übernimmt. Klar, Greta G. weiß ja immer alles ganz genau. Auch wie wichtig es ist, zu verschweigen, dass diese aussortierten Bücher thematisch meist so trocken sind wie ein drei Wochen alter Kuhfladen auf der Hochebene von Nazca. Andererseits hat die Frau im Nachbarbüro auf diese Weise erst letztens ein richtiges Schmuckstück abgestaubt. „Lebe ich richtig?“, Fragen zur Lebensführung entsprechend dem erreichten Niveau unserer entwickelten sozialistischen Gesellschaft, von 1980. Während unserer gemeinsamen Ausflüge in die Teeküche kann sie mir jetzt ständig Ratschläge geben wie: „die realistische Einschätzung des eigenen Leistungsvermögens muss systematisch entwickelt werden“, oder „einem krankhaften Leistungsehrgeiz ist vorzubeugen“. Phantastische Erkenntnisse unserer Altvorderen. Ein Traum in Papier. Nach stundenlangen Diskussionen über effektive Relaxationsübungen fragten wir uns, wer so was bloß wegschmeißen will? Und die Vorgesetzten meinen, mit solchen Büchern kann man nicht mal schimmelige Kartoffelchips unter der Couch hervor grabbeln. Kulturbanausen. Dank dieses Buches kann meine Nachbarin jetzt wenigstens die Nachmittagsstunden sinnvoll füllen. Autogenes Training. Man vergisst völlig die Zeit, sagt sie.

Auf die erneut drängend vorgetragene Frage von Greta G., was denn nun mit dem Dienst sei, krame ich nervös nach einer Lösung. Doch endlich kommt mir meine jahrelange Erfahrung hinter Bibliothekstresen zu gute und ich kann mit einem breiten :-)) Antworten: „Geeanää“!

19. Dezember 2014 | Veröffentlicht von
Veröffentlicht unter Allgemein

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