von Lara Kauter
Im Rahmen meines Masterstudiums in Geographischer Entwicklungsforschung an der FU habe ich ein zweiwöchiges Lehrforschungsprojekt in Kooperation mit der Freien Universität und der Guwahati University durchgeführt. Gemeinsam mit zwei Dozenten sind 20 Studierende aus meinem Master nach Guwahati in Assam (Indien) gereist, wo wir zusammen mit 10 Studierenden der Guwahati University in kleineren Forschungs-Teams eigene Forschungsprojekte durchgeführt haben. Im folgenden Blogbeitrag berichte ich von unserem Projekt zu Problemen in der Agrarwirtschaft in Assam, und wie unerwartete Wendungen während der Feldforschung auch eine Chance zur Neuausrichtung und Bereicherung von Projekten sein können.
Assam liegt im Nordosten Indiens an der Grenze zu Bhutan und ist als eines der größten Teeanbaugebiete weltweit bekannt. Der Tee-Anbau in der Region findet seinen Ursprung im britischen Kolonialismus, als Tee zu einem globalen Handelsgut und Alltagsgetränk wurde. Die kolonialen Teestrukturen prägten das heutige Assam und die seitdem weitgehend unveränderten Produktionsweisen in der indischen Teeproduktion: Abholzung von Waldgebieten, Arbeitsmigration, Verdrängung, und Ausbeutung von indigenen Völkern in den Teeanbaugebieten stellten die koloniale Norm der Teeproduktion dar. Kulturell, sprachlich und religiös betrachtet ist Assam divers: es werden Assamesisch, Bengalisch, Hindi, Bodo und weitere Sprachen gesprochen, sowie dort Hindus, Muslime, Buddhisten, Christen, Jains und Sikhs leben. Ethnische Konflikte treten insbesondere im Zusammenhang mit muslimischer Zuwanderung aus Bangladesch auf, welche durch ein zunehmendes Maß an Fremdenfeindlichkeit geschürt werden. In Assam leben auch verschiedene indigene Bevölkerungsgruppen, die als Scheduled Tribes klassifiziert werden. Die größte Gruppe der indigenen Bevölkerung sind die Bodo, die eine Regionalautonomie über die Bodoland Territorial Area Districts in Assam haben.1
In Vorbereitung auf das Lehrforschungsprojekt haben wir uns im Sommersemester in zwei Seminaren mit der (Kolonial-)Geschichte, Gesellschaft und Kultur Indiens und Assams befasst und uns projektspezifisch für unsere jeweiligen Forschungsvorhaben vorbereitet. Gemeinsam mit meiner Kommilitonin Elena habe ich mich für ein Projekt zur Agrarkrise Indiens und lokalen alternativen Bauernmärkten in Guwahati entschieden. Unser Forschungskonzept sah vor, dass wir zwei Formen von Bauernmärkten (Regierungs- und NGO-Markt) auf institutionelle, räumliche und sozio-ökonomische Aspekte untersuchen und dabei die aktivistische Perspektive einer lokalen Graswurzel-Bauernbewegung namens Krishak Mukti Sangram Samiti (KMSS) einbeziehen. Unser Ziel war es herauszufinden, wie beide Marktkonzepte im Vergleich zu üblichen Gemüsemärkten funktionieren und inwiefern sie eine lokale Alternative für die Lebensgrundlage der Bauern und Bäuerinnen im Kontext der Agrarkrise schaffen.
Am 24. September 2022 startete das Forschungsprojekt offiziell und wir trafen uns mit unseren Dozenten an der Universitätsunterkunft in Guwahati. Die meisten FU-Studierenden nutzten die Gelegenheit, um bereits vor unserem Projektbeginn durch Indien zu reisen, sodass wir bei unserem Wiedersehen viele Reisegeschichten austauschen konnten. Am selben Abend lernten wir auch die indischen Studierenden kennen und konnten so die ersten Feldforschungstage gemeinsam planen.
Die ersten Projekttage verbrachten wir damit, zu viert (Dharitry, Elena, Parishmita und ich) die insgesamt sechs Regierungsmärkte (Krishakor Dukan) ausfindig machen zu wollen, von denen wir die ungefähren Standorte aus der offiziellen Regierungswebsite entnahmen und diese auch telefonisch von einem Kontakt bereits Monate zuvor bestätigt bekommen hatten. Zu unserer Überraschung war dies jedoch schwieriger als gedacht, da wir trotz zeitintensiver Suche keinen der Märkte auffinden konnten und erst nach erneutem Telefonat mit dem Organisator eines Marktes erfuhren, dass alle Regierungsmärkte zwei Monate vor unserer Ankunft geschlossen wurden. Diese Erkenntnis war zunächst ziemlich enttäuschend für unser Team, da wir unser gesamtes Forschungsprojekt auf diese Märkte ausgelegt hatten. Wir beruhigten uns damit, dass wir ja immer noch den NGO-Markt von NE-SAFE (Krishakor Bazaar) untersuchen könnten, der sich jedoch auch nicht als das herausstellte, was wir erwartet hatten. Während der Organisator in einem Telefoninterview Monate zuvor enthusiastisch erzählte, wie dieser Markt Bauern und Bäuerinnen im Verkauf und Transport ihrer Produkte unterstütze und faire, profitable Preise sicherstelle, fanden wir bei unserer Ankunft lediglich eine leere, kommerziell genutzte Verkaufsfläche vor. Der einzige dort verkaufende Bauer erzählte uns zudem, dass der Markt-Organisator korrupt sei und er keinerlei Unterstützung von der NGO bekommt, wie sie auf der Website der NGO angepriesen wird.
Mit diesen Erkenntnissen setzten wir uns zu viert zusammen und überlegten bei einer Tasse Masala Chai und assamesischem Thali, wie wir mit diesen unerwarteten Wendungen weiter vorgehen könnten. Unser neuer Forschungsschwerpunkt sollte nun auf den Problemen in der indischen Landwirtschaft liegen und auf der Frage, warum die Konzepte von urbanen Bauernmärkten offensichtlich scheiterten. Wir arbeiteten ein neues Forschungskonzept mit vier Untersuchungsebenen aus: Regierungsebene, Aktivismusebene, praktisches Level (Perspektiven von Bauern/Bäuerinnen und Händler:innen), sowie NGO-Arbeit und alternative Ideen für die Landwirtschaft.
Überraschenderweise fiel es uns nicht schwer, spontan ein neues Konzept auszuarbeiten. Dharitry und Parishmita konnten über ihren Dozenten schnell Märkte ausfindig machen, bei denen wir die Gelegenheit bekommen würden, mit Bauern/Bäuerinnen über Probleme in der Landwirtschaft zu sprechen. So besuchten wir an drei Tagen ländliche Märkte außerhalb der Stadt, wo wir viele Kleinbauern und –bäuerinnen antrafen, die ihre Produkte dort selbst verkauften. Zwei weitere Tage verbrachten wir auf einem urbanen Gemüsemarkt im Stadtzentrum Guwahatis, wo wir jedoch keine Bauern/Bäuerinnen antrafen, dafür jedoch mit Händler:innen über Probleme des Marktsystems sprechen konnten. Insgesamt interviewten wir auf allen Märkten rund 40 Personen; viele der befragten Landwirt:innen haben gleichzeitig ein zweites Standbein im Gemüsehandel, da Landwirtschaft alleine keine Lebensgrundlage für die meisten bietet. Die prekäre Situation im Agrarsektor wurde uns von Bauern und Bäuerinnen geschildert: Dürren und Fluten, das Fehlen von Maschinen und Bewässerungssystemen, sowie ein Mangel an Geld und fehlender Unterstützung der Regierung führt zu finanzieller Ungewissheit und Verlusten. Zudem werden Produkte durch fehlende Kühlhäuser schnell schlecht, und Bauern/Bäuerinnen machen aufgrund der Anwesenheit vieler Zwischenhändler:innen kaum Gewinne durch den Verkauf ihrer Produkte.
Für die Aktivismusebene stellten wir über Facebook Kontakt zu der lokalen bäuerlichen Graswurzel-Organisation Krishak Mukti Sangram Samiti (KMSS) her und wurden für ein Interview zu ihnen ins Büro eingeladen. Wir sprachen mit dem Generalsekretär von KMSS und dem Präsidenten des Studierendenflügels Satra Mukti Sangram Samiti, sowie mit weiteren Mitgliedern der Organisation. Das Interview war für uns sehr besonders, da wir herzlich empfangen wurden und mit assamesischen Gamosas (Schals) geehrt wurden. Die Aktivisten kritisierten die Regierung scharf für die gegenwärtige Agrarpolitik und berichteten von ihren Protesten gegen Staudammprojekte, den Citizenship-Amendment-Act und die neuen Agrargesetze aus 2020. Über unsere Kontakte mit KMSS wurden wir auch zu einem Interview mit der KMSS-nahen Partei Raijor Dal eingeladen, die sich als links orientierte, auf Grundwerten des Sozialismus basierende, säkulare Partei beschreiben lässt. Raijor Dal steht in Opposition zur regierenden BJP in Assam und während des Interviews mit der Parteisprecherin, dem Pressesprecher und einem Parteimitglied, schilderten sie uns ihre Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Agrarpolitik, sowie ihre Lösungsvorschläge für die Probleme in der Landwirtschaft.
Um jedoch ein breites Spektrum an Perspektiven einzuholen, bemühten wir uns auch, ein Interview mit dem Assam Ministerium für Agrarwirtschaft zu führen, um die Regierungsperspektive zu verstehen. Zu unserer Überraschung lud der Amtsvorsitzende uns gleich für den nächsten Tag zu einem Interview ein, wo wir zunächst bei angespannter Stimmung in seinem Büro schweigend Tee tranken, da er Fragen erst nach dem Tee zulassen wollte. Zu unseren Fragen sind wir leider nicht gekommen, da er nach dem Tee-Trinken einen wichtigen Termin hatte. Unsere Fragen konnten wir aber an den Marketingassistenten stellen, sodass wir dennoch erfuhren, dass die sechs staatlichen Bauernmärkte aufgrund von befristeten Mietverträgen der Verkaufsflächen nicht mehr existieren, obwohl das Marktkonzept selbst erfolgreich und profitabel war. Darüber hinaus zeigte er sich auch sehr bewusst, was die Probleme in der Landwirtschaft angeht und kritisierte trotz seiner BJP-Nähe die Unionsregierung Indiens für fehlende finanzielle Mittel zur Unterstützung der Landwirt:innen und machte dies als Hauptgrund für die prekäre Situation in der assamesischen Landwirtschaft verantwortlich.
Für die NGO-Perspektive interviewten wir einen der Organisatoren von NE-SAFE, welche auch den Krishakor Bazaar unseres ursprünglichen Forschungskonzepts organisiert. Der Organisator erzählte uns zwar von seinen vielen Ideen für die NGO und wie sie Landwirt:innen helfen wollen, jedoch waren wir aufgrund des sehr leeren Erscheinungsbild des Marktes skeptisch, ob diese Ideen jemals umgesetzt werden. Aus diesem Grund suchten wir eine weitere NGO namens Sesta auf, die primär Frauen-Selbsthilfe-Gruppen gründet und auf diese Weise landwirtschaftliches Wissen mit finanziellen Ressourcen vermittelt, um die Lebensgrundlage und Unabhängigkeit von Frauen zu stärken. In einem Interview mit Mitarbeiter:innen erfuhren wir mehr über die Agrarprojekte der NGO und ihren Plänen, kommerzielle Landwirtschaft durch Gründung von bäuerlichen Erzeugerorganisationen und Firmen zu etablieren. Dieser Einblick in alternative Ansätze in der Landwirtschaft war für uns sehr spannend, auch wenn Selbsthilfegruppen als Strategien in der Entwicklungsforschung nicht unumstritten sind.
Insgesamt waren wir sehr erstaunt, wie einfach und schnell wir vor Ort Kontakte geknüpft und Interviewpartner:innen gefunden haben. Zudem sind wir dankbar für die Gastfreundlichkeit und Zeit, die sich unsere Interviewpartner:innen für uns genommen haben. Dennoch galt es auch einige Schwierigkeiten zu überwinden: insbesondere die Interviews mit Händler:innen und Landwirt:innen wären ohne Dharitry und Parishmita nicht möglich gewesen, da die meisten befragten Personen auf den Märkten kein Englisch sprachen. Neben der Sprachbarriere waren auch lange Anreisewege zu ländlichen Gemüsemärkten und Staus im Stadtzentrum mühsam.
Etwas ungünstig war auch der Forschungszeitraum von unserer Uni gelegt, da wir zum hinduistischen Fest Durga Puja dort waren und viele Büros, NGOs und Firmen für mehrere Tage geschlossen waren, und somit viele Projektteams ihre Forschung pausieren mussten. Andererseits war das ein sehr schöner kultureller Einblick, bei der Durga Puja mitzufeiern und die Feierlichkeiten in der gesamten Stadt zu beobachten. Während des mehrtägigen hinduistischen Fests wird die Göttin Durga für ihren Sieg über den bösen Büffeldämon-König Mahishasura verehrt. Die Feierlichkeiten enden am zehnten Tag, bekannt als Vijayadashami oder Dussehra, wenn heilige Bilder der Göttin Durga in großen Festzügen unter lauten Gesängen und Trommelschlägen zu den örtlichen Flüssen getragen werden, wo sie eingetaucht werden. Am selben Tag wird zudem eine große Statue von Ravan in Erinnerung an die berühmte Schlacht von Ram und Ravan verbrannt, was symbolisch an den Sieg des Guten über das Böse an diesem Tag erinnert.2
Mein Forschungsaufenthalt in Guwahati war definitiv das Highlight meines Masterstudiums und ich bin sehr dankbar für die schöne Zusammenarbeit in meinem Projektteam. Ein riesiges Dankeschön an Parishmita, Dharitry und Elena, dass wir stets gemeinsam Lösungen gefunden haben und bei der intensiven Forschungsarbeit so viel Spaß hatten. Ebenso ein großes Dankeschön an meine Dozenten Andrei und Stefan, die diese Kooperation erst möglich gemacht haben und so viel Vertrauen in unsere Projekte und Arbeit hatten. Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich auch herzlich bei PROMOS. Die Erfahrung, ein Forschungsprojekt im Team zu planen und durchzuführen, war für mich sehr lehrreich und ich würde mir wünschen, dass diese Möglichkeit häufiger an Universitäten für Studierende angeboten wird.
1 Weiterführende Literatur zu Assam:
- Das, Nava Kishor. „Making of tea tribes in Assam: Colonial exploitation and assertion of Adivasi rights.“ Journal of Adivasi and Indigenous Studies 3.1 (2016): 1-16.
- Nath, Monoj Kumar. The Muslim Question in Assam and Northeast India. Taylor & Francis, 2021.
- Sharma, Chandan Kumar. „The Bodo Movement: A Preliminary Enquiry into the Role of the Middle Class and the State.“ Political Dynamics of North East India, New Delhi: South Asia Publishers (2000): 128-142.
- Sharma, Chandan Kumar. „The immigration issue in Assam and conflicts around it.“ Asian Ethnicity 13.3 (2012): 287-309.
- Sharma, Jayeeta. „‘Lazy’natives, coolie labour, and the Assam tea industry.“ Modern Asian Studies 43.6 (2009): 1287-1324.
- Xaxa, Virginius. „Need for restructuring the tea plantation system in India.“ Economic and Political Weekly, LIV 45 (2019): 31-36.
2 Weiterführende Literatur zu Durga Puja:
- Pallavi, Krishna Priya. “Durga Puja 2021: All You Need to Know about Significance, Date, History and Time.” Hindustan Times, 2021, https://www.hindustantimes.com/lifestyle/festivals/durga-puja-2021-all-you-need-to-know-about-significance-date-history-and-time-101633863409850.html.
Über die Autorin: Lara Kauter studiert Geographische Entwicklungsforschung (M.Sc.) an der Freien Universität in Berlin. Ihre Forschungsinteressen umfassen Globale Ungleichheit, Klimagerechtigkeit, Migration, Landwirtschaft und Protestbewegungen.