von Elena Schaetz
Seit dem Erfolg ihrer Sitcom Chewing Gum (2015-2017) und spätestens nach ihren Rollen in den Netflix-Produktionen Black Earth Rising (2018) und Black Mirror (2017) wird die britisch-ghanaische Schauspielerin und Drehbuchautorin Michaela Coel als vielsprechende Künstlerin gefeiert. Ihre neuste Dramaserie, I May Destroy You, wurde im Juni 2020 erstmalig auf HBO und BBC One ausgestrahlt und wird bereits jetzt als eine der wichtigsten Produktion des Jahres betitelt. Grund dafür sind nicht nur die Themen, die die Serie verhandelt, sondern auch wie und aus welchen Perspektiven dies geschieht.
I May Destroy You ist die Geschichte von Arabella, einer jungen Londoner Autorin, welche in einer Partynacht K.O.-Tropfen untergemischt bekommt und anschließend bewusstlos Opfer einer Vergewaltigung wird. Am nächsten Morgen wacht sie mit einer Platzwunde und einer großen Erinnerungslücke auf und begibt sich zunehmend verzweifelt auf die Suche nach Hinweisen. Dabei geht es jedoch nicht nur um das Identifizieren des Täters, sondern auch um das Finden von Bewältigungs- und Verarbeitungsstragegien.
Entscheidener als der grobe Plot sind jedoch die kleinen Facetten der Serie, die verschiedene Perspektiven bieten: Da ist zum Beispiel Arabellas bester Freund Kwame (Paapa Essiedu), der ein Grindr-Date nach dem nächsten hat, bis auch er Opfer einer Vergewaltigung wird. Durch die Figur Kwames schafft es Coel, mehrere Tabu-Themen gleichzeitig aufzumachen – sensible black masculinity, black gayness und auch die in Medien selten gezeigte Seite von männlichen Opfern sexueller Gewalt.
Gerade Schwarze Männer werden in den meisten Film- und Fernsehproduktionen oftmals sehr hypermaskulin oder gar aggressiv gezeigt; sie sind Sportler, Dealer, Gangster oder Aufreißer. Das rassistische Klischee des hypersexuellen Schwarzen Mannes wird vielfach reproduziert. Coel hingehen zeigt eine andere Schwarze Männlichkeit, die auf Menschlichkeit beruht. Wir sehen Kwame als guten Freund Arabellas, der sich nach der traumatischen Erfahrung der Vergewaltigung erst zurückzieht und sogar seinen Freundinnen, die selbst Opfer sexueller Gewalt waren, zuerst nichts von seinem Problem erzählen kann.
Coel schafft ein realitätsnahes Bild; man sieht, wie schwer es gerade männlichen Opfern fällt, sich Hilfe zu suchen. Die sehr ernüchternde Erfahrung mit einem unsensiblen Polizisten, als Kwame die Vergewaltigung anzeigen möchte, zeigt auch, wie mit männlichen Opfern umgegangen wird und wie stigmatisiert schwuler Sex noch immer ist.
I May Destroy You verhandelt sexuelle Gewalt auf vielen Ebenen und zeigt dabei, dass die gleiche Straftat unterschiedlich thematisiert wird, je nach race und Gender der Opfer und Täter*innen.
Während Kwames Erfahrung auf der Polizeistation sehr negativ ist, wird mit Arabella als Frau viel sensibler umgegangen. Auch weitere Privilegien werden diskutiert. Etwa als eine Weiße ehemalige Schulkameradin von Arabella gezeigt wird, die eine Selbsthilfegruppe für Opfer sexueller Gewalt leitet, aber zur Schulzeit selbst einem Schwarzen Jungen eine Vergewaltigung unterstellt hat, nachdem dieser ein Sexvideo von ihnen geteilt hatte. Neben der Thematik, dass mit ihr als Weißer Frau anders umgegangen wird, wird hier eine weitere große Frage aufgemacht – wann beginnt Missbrauch?
Das fragt sich auch Arabella, die im weiteren Verlauf der Serie Opfer von Stealthing wird – dem heimlichen Abziehen des Kondoms ohne das Wissen oder die Zustimmung des Sexualpartners während des Geschlechtsverkehrs. Arabella erfährt zufällig beim Hören eines Podcasts, dass Stealthing unter britischen Gesetz eine Form der Vergewaltigung ist und konfrontiert den Täter mit dieser Beschuldigung.
Ihre beste Freundin Terry (Weruche Opia) hat im Italienurlaub einen Dreier, den sie als spontanes und selbstbestimmtes Abenteuer erlebt. Als sie später erfährt, dass die zwei Männer alles vermutlich geplant hatten, fühlt es sich nicht mehr so selbstbestimmt an. Man beginnt sich als Zuschauer*in selbst zu fragen – wo beginnen Übergriffe? Kann der Sex, den Terry mit den Männern hatte, dann überhaupt noch einvernehmlich gewesen sein?
Die Drama-Serie hat jedoch trotz der düsteren Themen auch leichte Momente. Sie zeigt Empowerment, Diversität, Freundschaften und alltägliche Probleme von Millennials, inklusive einer ausufernder Online-Selbstinszenierung, was der Serie noch mehr Authentizität verleiht. Wir sehen, wie Arabella ihre Arbeit aufschiebt, wenn sie pleite ist, Probleme mit der Deadline für ihren Buchdeal hat und wie sie mit Schreibblockaden kämpft.
Mit einem sehr diversen Cast rückt Coel die westafrikanische Diaspora Großbritanniens in den Vordergrund. Durch viele kulturelle Details gelingt eine authentische Darstellung, so etwa durch die Sprache – von Black British Slang, verschiedenen westafrikanischen Akzenten, Twi, das in Arabellas Familie gesprochen wird, bis hin zu Yoruba-Wortfetzen („Oya!“ – „come on!“).
Obwohl auch Weiße Frauen sich mit vielen Themen aus I May Destroy You identifizieren können, bleibt es die komplexe Geschichte einer Schwarzen Frau, was angesichts der Unterrepräsentation Schwarzer Frauen in Medien von großer Bedeutung ist. Wärend viele Serien sich rassistischer Klischees der „Black Mama“, „angry black woman“ etc. bedienen, gelingt Coel eine vielschichtige und überzeugende Darstellung Schwarzer Identitäten. Rassismus wird zwar auch thematisiert, die Schwarzen Protagonist*innen werden jedoch nicht darauf reduziert.
Trotz all des Lobs bedarf es auch kritischer Anmerkungen. Eine Szene ist mir hier deutlich in Erinnerung geblieben: Kwame beschließt nach der erlebten Vergewaltigung, erst einmal Abstand von Männern zu nehmen und schläft mit einer Weißen Frau, welche Schwarze Männer fetischisiert. Als sie nach dem Sex etwas Homophobes äußert, erzählt Kwame, er sei selber schwul, worauf sie ihn wütend auf der Wohnung wirft, sie fühle sich missbraucht von ihm. Kwame ist zuerst verunsichert, dann sichtlich beschämt. Ein Gespräch mit seinen Freundinnen verschlimmert dies noch. Hier gehen die Stimmen der Zuschauerschaft auseinander, hat Kwame die Frau im falschen Glauben gelassen, er wäre heterosexuell, um mit ihr zu schlafen? Sind sie etwa „quitt“, weil er nichts von seiner Queerness erzählte, sie ihn aber auch sichtlich fetischisierte? Ich persönlich konnte die Szene nicht nachvollziehen; warum spielt es eine Rolle, ob sich Kwame als schwul, bi-, pan-, oder heterosexuell versteht, wenn das Paar einvernehmlichen Sex hat? Ich hätte mir hier einen weiteren Blickwinkel gewünscht; der Schock der heterosexuellen Frau, als der eigene Sexpartner sich als queer herausstellt, ist zudem eine gängige homophobe Reaktion. Hätten sie ein anderes Datingverhalten gehabt, bei dem ein ehrliches (romantisches) Interesse von der Frau erkennbar gewesen wäre, dann wäre Kwames Verschweigen seiner eigentlichen Sexualität natürlich von anderem Gewicht. Dennoch, Sexualität ist ein Spektrum und Tendezen können sich auch ändern.
Nichtsdestotrotz ist I May Destroy You eine große Bereicherung der Popkultur, welche zurecht international gefeiert wird. Die diversen Perspektiven, aus welchen die Serien das Thema consent beleuchtet, hat es so in einer TV-Produktion noch nicht gegeben. Der Erfolg von I May Destroy You ist hier sicher auch wichtig, um den Weg für weitere feministische und antirassistische Produktionen zu ebnen.
Über die Autorin:
Elena Schaetz ist Studentin der Afrikawissenschaften (MA) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literatur, Kultur, Gender und Queerness in südafrikanischen Regionen.
Reviewed by: Nadja-Christina Schneider
Reviewed item:
Shweta Kishore. 2018.
Indian Documentary Film and Filmmakers. Independence in Practice
Edinburgh: Edinburgh University Press
ISBN 9781474433068
The struggles of independent critical filmmakers in India: History going in circles?
In the summer of 2019, when the central government in India denied permission for ‘veteran’ documentary filmmaker Anand Patwardhan’s latest film Vivek (Reason) (2018) to be screened at the renowned International Documentary and Short Film Festival of Kerala, the organizers of the festival, together with Patwardhan, did what he often did when his earlier films faced state censorship. They took the battle to court, won the case, and finally got permission to screen the self-funded and searingly critical documentary at the festival in Thiruvananthapuram. Structured in eight parts, Vivek scrutinizes the mainstreaming of violent Hindutva ideology and majoritarian nationalism in India during the last decade. While the successful litigation in Kerala could be seen as a glimmer of hope for the continued possibility for audiences to engage with critical independent documentaries in India, the fact that Vivek, along with a number of other critically acclaimed films, was not screened at the 16th Mumbai International Film Festival in January this year (MIFF 2020) may not have come as a surprise for many.
Read the full article here: https://www.iias.asia/the-newsletter/article/indian-documentary-film-and-filmmakers