Eine kommentierte Fotostrecke von Tamara Fina, die im Rahmen des Projektseminars Zukunftsentwürfe des Zusammenlebens: Konzepte, künstlerische Interventionen, mediale Utopien (BA Regionalstudien Asien / Afrika) unter der Leitung von Prof. Dr. phil. Nadja-Christina Schneider entstanden ist.
In Zeiten der Digitalisierung und Corona-Pandemie findet soziale Interaktion und Austausch mehrheitlich im virtuellen Raum statt. Dialoge verkommen zu Monologen, Diskussionen driften in Hetzereien ab, das Zusammenleben „vereinsamt“ hinter einem Bildschirm – was also kann in die Zukunft gedacht werden, um das Miteinander und Zusammenleben visionär zu gestalten?
Diese Fragestellung begleitet mich seit Beginn der Pandemie noch stärker als sonst und hat dazu geführt, dass ich mich im Rahmen dieses Projekts mit dieser Thematik befassen möchte. Digitalisierung ermöglicht einen schnellen, vereinfachten und globalen Austausch, was aber auch seine Kehrseite hat. Dies beleuchtet Netflix mit einer Dokumentation über Soziale Medien. Netflix wiederum wird von vielen Menschen als Unterhaltungsmedium genutzt, dabei kann in eine fiktive Welt eingetaucht werden, welche den Alltag vergessen lässt. Für jeden Geschmack hat Netflix etwas anzubieten, es wird sozusagen auf dem Silbertablett serviert. Ein paar wenige Mausklicks und die Realität verschwimmt mit der Fiktion, schnell und unproblematisch. Es wäre gelogen, würde ich mich von dieser virtuellen Welt ausschließen. Dabei ertappe ich mich, wie ich Freund*innen auf Serien und Dokumentationen anspreche und wir uns darüber unterhalten und diskutieren. Die scheinbare Welt von Netflix also, bestimmt gewissermaßen auch ein Stück meines Lebens. Ist dies besorgniserregend? Vereinsame auch ich hinter meinem Bildschirm? Wie oft treffe ich überhaupt noch meine Freund*innen? Ziehe ich Netflix Verabredungen mit Bekannten vor? Hemmt Netflix meine sozialen Interaktionen? Während mir diese Fragen durch den Kopf schwirren, überlege ich mir, welche Alternativen geschaffen werden können, um die gemeinsame Zukunft entscheidend zu gestalten.
Im Fokus des Projektseminars steht der Grundgedanke respektive die Idee nach Asante, nach dem sich der Mensch frei denkend und kreierend, aber nicht hierarchisierend in die Zukunft entwickeln solle. Diese Idee soll als Ausgangslage benutzen werden. Nur wer sich selbst kenne so Asante, sei in der Lage eine Zukunftsvision hervorzubringen. Radikale Bewegungen müssten mit der Vergangenheit brechen können und mit einer provokanten Agency beginnen (1 vgl. Asante 52ff.). Diese Anschauung soll im urbanen Raum konzeptualisiert werden. Dafür eignet sich die Kunst des Graffiti-Künstler Sozi36, welcher in Berlin Kreuzberg immer wieder mit seinen Botschaften grössten Teils auf Matratzen verfasst, auffällt. Diese provozieren, regen zum nachdenken an, rufen Reaktionen hervor – für mich eine Form der aktivistischen Kunst, und ebenso ein Raum der die Möglichkeit erschafft zu diskutieren. Sozi36 verkörpert für mich mit seinen Äusserungen genau die Idee, dass der Mensch „out of the box“ denken sollte. Und dass er sich durch Botschaften vielleicht provoziert fühlt daraus aber eine Diskussion und auch ein sich weiterentwickeln stattfinden kann. Denn seine Aussagen sind unmissverständlich oder stellen eben Fragen gezielt missverständlich.
„Bei manchen Arbeiten versuche ich mit Metaebene (also durchaus missverständlich) zu arbeiten. Da verliere ich einige Leute, weil sie Meta nicht mitbekommen, aber das ist mir egal. Ich habe gehört, als Künstler müsse man auch etwas Denkleistung beim Betrachter lassen. Ich führe den Punkt nicht aus Klugscheißerei an, sondern weil ich mittlerweile sehr gerne und auch öfter mit Missverständnissen arbeite.“
Sozi36
Die Aussagen von Sozi36 prangern Ungerechtigkeiten an und sind sozial und gesellschaftskritisch geprägt. Für mich von enormer Aussagekraft. Sozi36 lässt aber auch in sein Inneres blicken und die Betrachter*innen ein Stück weit an sich heran. Im Projekt soll herausgearbeitet werden, inwiefern seine Kunst im öffentlichen Raum als dialogisches Medium und als Zukunftsvision verstanden werden kann.
Folgende Fragen sollen überprüft werden:
„Inwiefern kann die Graffiti Kunst von Sozi36 als dialogisches Medium im urbanen Raum Kreuzberg verstanden werden?“
„In welcher Hinsicht kann die Graffiti Kunst von Sozi36 im urbanen Raum Kreuzberg als Zukunftsvision betrachtet werden?“
Daraus resultiert folgende Hypothese:
„ Die Botschaften von Sozi36 sind visionär und bringen die Menschen im urbanen Raum zum Nachdenken, sie provozieren und rufen Reaktionen hervor, die einen Dialog ermöglichen.“
Graffiti hat ohne Zweifel einen interaktiven Charakter. Geschriebenes begegnete den Menschen bereits im antiken Alltag vor allem in Form von Inschriften. Schriftliche Informationen die nicht auf Papier verfasst waren, zierten Häuserfassaden, öffentliche Plätze, Ladenschilder u.ä. Die Beschaffenheit des/der Inschriftenträgers*in bestimmte die Beschaffenheit der Inschrift und damit auch deren Wahrnehmung. Eine Inschrift ist aber nicht nur ein einfacher Text (Inhalt) sondern hat auch ihren ganz eigenen Stil und Design welches das Produkt menschlichen Handelns ist. Die Intentionen der Hersteller*innen wird weiter transportieren und ruft somit auch Reaktionen hervor. Inschriften sind nicht einfach passive Dinge, sondern auch selbst Akteur*innen. Inschriften haben oft enge Bezüge zur gesprochenen Sprache, da sie das Merkmal besitzen, sich direkt an Passanten*innen und Leser*innen zu wenden. Auch Graffiti hat diese Eigenheit der Interaktion zwischen Text und Rezipient*in inne, wodurch ein Dialog entstehen kann. Die Botschaften und Inschriften laden Leser*innen einerseits zum Lesen und Verbleiben ein, können aber durch abschreckend formulierte Warnungen oder Provokationen, auch Wut oder Unbehagen auslösen. Beide Formen nutzen die Dialogform, denn sie treten direkt mit dem Lesenden in Kontakt. Graffiti steht in einem besonderen Verhältnis sowohl zu seinen Inschriftenträgern*innen als auch seiner Leserschaft, denn es wird ungefragt und auf primär nicht dafür vorgesehenen Flächen angebracht. Die Inschriften treten mit bereits Vorhan- denem in Interaktion, dies unter anderem im öffentlichen Raum. Oft ist nicht nur der/die Leser*in, sondern auch der/die unbeteiligte Passant*in mit einbezogen. Die Botschaften fordern ganz gezielt Aufmerksamkeit ein und ertappen die Leserschaft nicht selten „in flagranti“ beim Lesen der Botschaften. Provozieren diese, machen sich über die Betrachter*innen lustig, stellen ihr Weltbild in
Frage, hinterfragen ihre Werte und Normen. Graffiti kann wütend machen, stösst auf Unverständnis, löst Diskussionen aus. Graffiti Kunst stellt also eine Interaktion zwischen Verfasser*innen, Adressaten*innen her und ist dabei gleichzeitig Träger, Auslöser und Ergebnis von Interaktionen (2 vgl. Lohmann 2018: 103ff.). Graffiti dient sowohl als Medium, aber auch als Vermittlungsinstanz einer dialogischen Intention zwischen Machern*innen und Empfänger*innen. Ebenso werden Botschaften direkt oder indirekt, schriftlich zum Beispiel auf Social Media oder mündlich vor Ort kommentiert. Die Informationen und Aussagen werden weiter gegeben was weitere Interaktionen anregt. Die gesendeten Botschaften der Verfasser*innen entsprechen nicht immer den Nachrichten die empfangen werden. Graffiti im öffentlichem Raum ist nämlich nicht nur für einen bestimmten Personenkreis gedacht und demnach auch nicht nur für diesen rezipierbar. Die gesendeten Nachrichten können je nach Rezipient*in basierend auf dessen/deren Wissen, Wertvorstellungen, Idealen und Lesefähigkeit unterschiedlich interpretiert und weiter gegeben werden (3 vgl. Lohmann 2018:106f.). Es kann durchaus auch geschehen, dass der/die Empfänger*in dem Inhalt eine ganz andere Bedeutung beimisst als der/die Schreiber*in oder der/die Künstler*in intendiert hat (4 vgl. Burkart 1995: 38-41). „Deutschland dein Konzentrationslager brennt.“ Ein kurzer, aber prägnanter Satz, der Unverständnis, Unbehagen, aber auch Wut auslösen kann.
Gewisse Personen fühlen sich durch den Satz getriggert, andere vielleicht nicht. Die Aussage macht auf das brennende Flüchtlingslager in Moria aufmerksam. Eine Botschaft, die extrem viele Kommentare über Social Media erlangt hat. Es wurde diskutiert und argumentiert, und teilweise entstand der Eindruck, dass die von Sozi36 gesendete Botschaft nicht immer dem entsprach, was empfangen wurde. Die Nachricht kann in viele Richtungen gelesen, verstanden und interpretiert werden, und hat auf den ersten Blick einen abschreckenden Charakter. Dadurch kann aber eine Interaktion zustande kommen, aus der sich, aufgrund der Thematik, eine hitzige Diskussion entwickeln kann. Die Kommentarfunktion überlässt hier Adressaten*innen die Möglichkeit, schriftlich zu reagieren, aber auch dem Verfasser Sozi36 auf die Reaktionen einzugehen. Da die Botschaft im öffentlichen Raum platziert ist und ebenso auf Social Media zugänglich für alle, werden sozusagen auch unbeteiligte Personen mit einbezogen. Dies führt zu einem Diskurs, wobei die Botschaft den Auslöser einer Interaktion darstellt. Spannend dabei ist festzustellen, dass die Interpretationen konträrer und die Beiträge vielfältiger sind, wenn die Botschaft kontrovers ist. Dies führt unweigerlich zu einer Diskussion, in welcher verschiedene Positionen vertreten sind, und auch so zum Ausdruck gebracht werden können. Setzt man sich grundlegend mit Stadttext auseinander, so ist zu erkennen dass nicht nur unterschiedliche Formen der Aneignung von öffentlichem Raum sichtbar wird, sondern vielmehr wird auch verdeutlich, wie Machtbeziehungen im urbanen Raum zustande kommen. Der öffentliche Raum ist grösstenteils durch Reglementierung gekennzeichnet, welche vor allem von Ökonomie und Politik beeinflusst ist (5 vgl. Riegler 2020: 60). Monja Müller beschreibt den urbanen Raum als ein Ort in dem visuelle Kommunikation fast ausschliesslich politischen und kommerziellen Zwecken dient und der öffentlichen Raum nach Kriterien die dem Verkehr, den Massenkonsumkultur sowie der Repräsentanz politischer und ökonomischer Herrschaft untergeordnet sind gestaltet wird (6 vgl. Müller 2017: 445). Die Stadtpolitik hat sich die Aufgabe gemacht für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, diese Funktion wird in Zeichen die im öffentlichen Raum platziert werden übersetzt (Verkehrs- und Hinweisschilder, Verbote und Gebote). Neben diesen Zeichen die in erster Linie für Sicherheit und Ordnung sorgen sollen, werden auch zahlreiche Werbebotschaften im urbanen Raum platziert, denn Werbung besitzt einen wichtigen Stellenwert und bringt die wirtschaftliche Validität einer Stadt zum Ausdruck. Der öffentliche Raum also fungiert als Aussenauftritt der Wirtschaftstreibenden (7 vgl. Werle 2013: 30f.). Unabhängige und individuelle Zeichenproduktion ist im
Stadtraum grundlegend nicht vorgesehen. Dennoch bringen sich Akteur*innen unautorisiert in den politischen und ökonomisch konstruierten Stadttext mit ein und nutzten damit das kommunikative Potential der urbanen Außenflächen. Die Intentionen und Motive dafür sind unterschiedlich: persönliche, politische, künstlerischer oder auch einfach kommerzielle. Dabei werden unterschiedliche, legale sowie illegale Aneignungsstrategien sichtbar. Bourdieu unterscheidet drei Raumkategorien: den physischen, den sozialen und den angeeigneten physischen Raum. Das Konzept des angeeigneten physischen Raum beschreibt die räumliche Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sowie die Möglichkeiten von Akteur*innen mit ihren unterschiedlichen Möglichkeiten sich Räume anzueignen (8 vgl. Bourdieu 2010: 160). Der angeeignete physische Raum ist einerseits Ergebnis von sozialen Praktiken im Raum selbst aber auch Gegenstand von Kämpfen und Aushandlungsprozessen zwischen Akteuren*innen und unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Individuen nehmen öffentliche Räume, die auch der Repräsentation dienen, unterschiedlich war. Dies zum Beispiel aufgrund der eigenen Biographie. Entsprechend wird bestimmten Räumen eine mehr oder weniger grosse Bedeutung zuge-
schrieben (9 vgl. Etzold 2011: 193-196). Die staatlichen Institutionen sind für die Kontrolle und Überwachung des öffentlichen Raums zuständig. Die Reglementierung des öffentlichen Raums wirkt sich auch auf die Beschaffenheit des Stadttextes und die soziale Positionierung der Akteur*innen aus. Dies wiederum prägt räumliche Praktiken und somit auch die Ausdrucksform bei der Aneignung von öffentlichen Raum und kann als sozialer Kampf um städtisches Territorium verstanden werden. Unautorisierte Eingriffe in das Stadtbild untergraben die Autorität und Kontrolle der Stadtpolitik.
Sauberkeit und Sicherheit gelten primär als Argument um gegen die unerwünschten Verhaltens- und Nutzungsformen juristisch vorzugehen (10 vgl. Riegler 2020: 71). Der öffentliche Raum fungiert in erster Linie als Aushängeschild eines wirtschaftspolitischen Systems. Ordnung, Kontrolle und Sauberkeit sind vorgesehen und werden von staatlichen Institutionen umgesetzt. Dabei ist die Inneneinrichtung eines Wohnzimmers auf dem Bürgersteig nicht das vorgesehene Bild eines Stadttexts. Die Autorität der staatlichen Institutionen wird durch die Installation untergraben, denn Sofa und Sessel gehören grundsätzlich ins Wohnzimmer und nicht auf die Straße. Die Inneneinrichtung auf der Straße provoziert, denn es handelt sich dabei nicht um Sperrmüll, der zum Entsorgen in ein Hinterhaus geworfen, oder vor dem Haus hingestellt wurde, sondern vielmehr um bewusst in Szene gesetzte Kunst. Dabei hebt sich die Installation von sonst oft hingeworfenem Sperrmüll ab, indem sie einerseits Aneignung von sozialem Raum widerspiegelt, provoziert und Autoritäten untergräbt, anderseits durch das sehr ordentliche Anordnen der Möbel wiederum Ordnung und Sauberkeit verkörpern könnte. Mit dem Satz aber „Jetzt ist es Protestkunst“ diese vermeintliche Idealvorstellung sofort wieder zerschlägt. Die Installation, welche nicht aufgrund einer direkt ins Auge stechenden und provozierenden Botschaft auffällt, hat in ihrer Aussagekraft aber nicht weniger Stärke, denn sie stellt eine Form der Aneignung von sozialem Raum dar, wobei der Grundsatz von Ordnung und Sauberkeit aber nicht elementar verletzt wird, denn weder die Möbel noch die Anordnung der Möbel können als unordentlich oder schmutzig betrachtet werden. Setzt man sich abschliessend nochmals mit dem Ansatz von Asante auseinander, nach dem Zukunftsvisionen durch radikalen Bruch mit der Vergangenheit und provokanter Agency in die Zukunft entstehen können, so ist zu erkennen, dass Graffiti-Kunst mit dem Ansatz vereinbar ist: Gesendete Graffiti-Botschaften können konventionelle Werte und Normen in Frage stellen, sie hinterfragen, stossen auf Unverständnis, provozieren und lösen damit auch immer wieder Diskussionen aus. Graffiti stellt also eine Interaktion zwischen Schreibern*innen, Adressaten*innen und Dritten her. Dabei fungiert Graffiti als Träger, Auslöser und Ergebnis von Interaktionen und als dialogisches Medium zwischen Verfasser*in und Empfänger*in in Einem. Ebenso werden Botschaften direkt oder indirekt, mündlich oder schriftlich, zum Beispiel auf Social Media
(https://www.instagram.com/p/CMyorESnG7-/)
kommentiert. Informationen und Inhalte werden weiter getragen was weitere Interaktionen mit sich bringt. Durch Provokation kann Dialog entstehen. Der dadurch entstandene Prozess kann durchaus als provokante Agency verstanden werden, denn Dialog entsteht nicht innerhalb eines vorgegebenen Rahmens wie der Universität oder geleiteten Podiumsdiskussionen, sondern entwickelt sich durch einen ausserhalb dieses Rahmens befindenden Prozesses im urbanen Raum. Asante besagt weiter, dass der Mensch sich kreierend aber nicht hierarchisierend in die Zukunft entwickeln sollte. Ich möchte hier nochmals auf Monja Müller zurück greifen, denn sie beschreibt den urbanen Raum als ein Ort in welchem visuelle Kommunikation fast ausschliesslich politischen und kommerziellen Zwecken dient. Die Gestaltung des öffentlichen Raums wie oben erläutert erfolgt nach Kriterien, die dem Verkehr, der Massenkonsumkultur sowie der Repräsentanz politischer und ökonomischer Herrschaft untergeordnet sind. Diese politische und ökonomische Herrschaft basiert auf einem hierarchischen System. Dieses steht im Widerspruch zu Asante, der eben diese Hierarchisierung, welche auf dem Prinzip der ungleichen Verteilung von beispielsweise Gütern und Dienstleistungen basiert, kritisiert.
Betrachtet man nochmals das Konzept des angeeigneten physischen Raum nach Bourdieu, welches die räumliche Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sowie die räumliche Verteilung von Akteur*innen, die unterschiedliche Möglichkeiten haben sich Räume anzueignen ausführt, kann eine Verbindung zu Asante gezogen werden. Der angeeignete physische Raum ist einerseits Ergebnis von sozialen Praktiken im Raum, aber auch Gegenstand von Kämpfen und Aushandlungsprozessen zwischen Akteuren*innen und unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Unautorisierte Eingriffe in den Stadttext untergraben die Autorität und Kontrolle der Stadtpolitik. Sauberkeit und Sicherheit gelten primär als Argument, um gegen die unerwünschten Verhaltens- und Nutzungsformen juristisch und exekutiv vorzugehen. Unabhängige und individuelle Zeichenproduktion ist im Stadtraum unerwünscht. Dennoch nehmen Akteur*innen umautorisiert diesen Raum als kommunikatives Potential in Anspruch im gleichzeitigen sozialen Kampf um städtisches Territorium. Dies ist Ausdruck einer Bewegung, die sich gegen den ökonomisch und politisch konstruierten Stadttext welcher auf Hierarchisierung beruht, stellt und somit auch der Zukunftsvision von Asante entsprechend gerecht wird. In meinem Projekt habe ich mich bewusst mit den Botschaften des Graffiti- Künstlers Sozi36 auseinander gesetzt, denn für mich verkörpert er die Attribute provokant, Aneignung von Raum oder aber auch das Infragestellen von Autorität und Kontrolle durch staatliche Institutionen. Sozi36 polarisiert mit seinen Botschaften. Schon das Verfassen von Botschaften auf Matratzen führt zu Diskussionen unabhängig davon ob es angemessen ist Sperrmüll zu bemalen oder nicht. Hier prallt der kommerzielle Gedanke von Stadtbild auf einen innovativen. Seine Aussagen wiederum spielen mit Missverständnissen und provozieren, lassen Nachdenken, stellen die Gesellschaft mit ihren Normen und Werten in Frage. Seine Kunst kann zweifelsohne als dialogisches Medium verstanden werden. Adressat*innen fühlen sich provoziert, diskutieren über Social Media über die Inhalte der Botschaften, posieren vor Aussagen auf Matratzen, während andere wiederum die Polizei rufen um den „Unruhestifter“ möglichst aus dem Stadtbild entfernen zu lassen. Zu guter Letzt gibt es auch noch diejenigen die selbst Hand anlegen um wieder Kontrolle und Sicherheit zu erlangen und seine Arbeiten entsorgen.
Seine Botschaften polarisieren, bringen Interaktionen verschiedenster Formen hervor und fungieren somit als dialogisches Medium. „No More Moria Europäische Werte siechen in den Lagern und liegen auf Grund des Mittelmeers.“ Die Botschaft ist unmissverständlich. Europäische Werte werden klar und deutlich in Frage gestellt. Der Satz regt zum Nachdenken an, denn er erinnert unumgänglich an die geflüchteten Menschen, welche in Moria festsitzen, oder auf dem Weg dahin auf tragische Weise ihr Leben verloren haben. Menschen, die auf der Flucht Richtung Europa sind. Im Kontrast dazu das Posieren vor einer Matratze, in Berlin, Europa. Ein Bild, welches fast schon etwas Geselliges und Fröhliches ausstrahlt. Zwei Formen Botschaften an Adressat*innen zu bringen, beide auf ihre eigene Art und Weise. Beide aber rufen Reaktionen hervor, wodurch ein Dialog entstehen kann. Und obwohl die beiden Aussagen auf den ersten Blick konträr erscheinen, kann eine Verbindung hergestellt werden. Denn auf gewisse Weise werden in beiden Botschaften die europäischen Werte und Normen in Frage gestellt.
Die eine Botschaft ist beim Lesen eindeutig, denn der Begriff Moria assoziiert Lager, geflüchtete Menschen, Brand, Kritik an der Europäischen Union. „Ist mir zu deutsch in Kaltland. Ich gönn mir Namibia“ kann mit Urlaub assoziiert werden, aber auch mit der Deutschen Kolonialgeschichte in Namibia. Es ist also zu erkennen, dass die gesendete Nachricht je nach Rezipient*in, basierend auf dessen/deren Wissen, Wertvorstellungen, Idealen und Lesefähigkeit, unterschiedlich interpretiert und weiter gegeben werden kann. Und dass die eine Person die Nachricht mit Urlaub in Verbindung bringt, eine andere aber mit Kritik an der deutschen Kolonialgeschichte und somit auch europäische, respektive Deutsche Werte und Normen in Frage stellt. Die verschiedenen Interpretationen lassen Raum für Aus- tausch und Diskussion.
Die Frage also
„Inwiefern kann die Graffiti Kunst von Sozi36 als dialogisches Medium im urbanen Raum Kreuzberg verstanden werden?“
kann damit beantwortet werden, dass Dialog über die Botschaften, die er versendet entstehen kann, weil die Inhalte seiner Aussagen nicht dem gängigem Stadtbild und -text entsprechen und sie auf nicht dafür vorgesehenen Objekten (Sperrmüll) platziert werden. Ein Dialog muss nicht immer positiv konnotiert sein. Darum ist auch diese radikale Bewegung, die Asante beschreibt, in dem von mir gewählten Beispiel so zwingend nötig und wichtig zu erwähnen. Denn ich verbinde radikal und provokant als Zukunftsvision eben genau mit den Botschaften von Sozi36, die oft sehr provokant sind und entsprechend auch starke Reaktionen hervorrufen können. Und dieser Ansatz führt dazu, dass die Menschen wieder miteinander in Dialog treten können auch wenn dieser kritisch und manchmal auch eher konfrontativ oder bisweilen sogar aggressiv sein sollte. Es findet Austausch und zwischenmenschliche Reibung statt, welche wichtig für eine visionäre Zukunftsgestaltung ist.
Folglich lässt sich folgende Fragestellung beantworten
„In welcher Hinsicht kann die Graffiti Kunst von Sozi36 im urbanen Raum Kreuzberg als Zukunfts- vision betrachtet werden?“
Seine Kunst ist visionär, weil sie sich aus der Normalität, also den hierarchischen Strukturen die für Ordnung, Sauberkeit Kontrolle und Autorität sorgen sollen, heraus bewegt. Diesen Kampf um städtisches Territorium trägt er insofern aus, indem er Sperrmüll, welcher das Gegenteil von Ordnung und Sauberkeit bedeutet, gekonnt in Szene setzt und sich dabei auch nicht vor negativen Reaktionen scheut. Mit seinen Aussagen und den dafür ausgesuchten Mitteln (Matratze, Wahlplakate, Sofa usw.) bringt Sozi36 die Kontrolle und Autorität der Stadtpolitik ins wanken und stellt somit ein Gegenpol zum politisch und ökonomisch konstruierten Stadttext dar. Seine Kunst hat auch einen vi- sionären Charakter, weil es ihm gelingt Dialog und Aushandlungsprozess von urbanen Räumen und deren Verteilung von Gütern und Dienstleistung durch seine ganz eigene individuelle Aneignungsform und auf seine Art und Weise zu erschaffen. Trotzdem wird seine Kunst von gewissen Institutionen kriminalisiert, vielleicht gerade deshalb, weil er Autoritäten untergräbt und sich aus der Normalität heraus bewegt. Denn seine Botschaften sind kritisch, mutig, unkonventionell. Dialoge können entstehen, und ebenso wird Raum für Aushandlungsprozesse durch seine Kunst erschaffen. „Graffiti is a crime and someone has to pay for it.“ Ich stelle mir abschliessend die Frage, wer am Ende dafür zu bezahlen hat? Vielleicht wir alle, wenn wir uns nicht aus unserer angenehmen „Bubble“ heraus bewegen und uns mutig aufeinander zu, anstatt immer mehr nur dem Bildschirm zuwenden.
Über die Autorin: Tamara Fina ist Studentin der Asien/Afrikastudien (MA) der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literatur, Kultur, Identität und postkoloniale Strukturen in zentralafrikanischen Regionen.
Literatur:
Asante, Molefi Kete (2021). Afrocentricity and Afrofuturism 2.0: Countdown to the Future In: Natasha A. Kelly (2021). (ed.) The Comet – Afrofuturism 2.0. bpd, Bonn. S. 47-77.
Bourdieu, Pierre (2010). Ortseffekte. In: Ders. et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Gekürzte Studienausgabe, 2. Auflage. UTB GmbH, Konstanz. S. 159-167.
Burkart, Roland (1995). Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder; Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 2. Aufl. Böhlau Verlag, Wien.
Etzold, Benjamin (2011). Die umkämpfte Stadt – Die alltägliche Aneignung öffentlicher Räume durch Straßenhändler in Dhaka (Bangladesch) In: Holm A. & D. Gebhard (Ed.): Initiativen für ein Recht auf Stadt: Theorie und Praxis in städtischer Aneignungen. VSA Verlag, Hamburg. S. 187-220.
Kappes, Mirjam (2014). Graffiti als Eroberungsstrategie im urbanen Raum. In: Warnke, Ingo H./ Busse, Beatrix (Hrsg.): Place-Making in urbanen Diskursen – Interdisziplinäre Beiträge zur Stadtforschung. Walter de Gruyter GmbH, Boston / Berlin. S. 443-476.
Lohmann, Polly (2018). Graffiti als Interaktionsform. Geritzte Inschriften in den Wohnhäuser Pompejis. Walter de Gruyter GmbH, Boston / Berlin.
Müller, Monja (2017). Reclaim the Streets! Die Street-Art-Bewegung und die Rückforderung des öffentlichen Raumes. Am Beispiel von Banksys. Better out Than In. Und Shepard Faireys Obey Giant-Kampagne. Books on Demand, Norderstedt.
Riegler, Anna (2020). Die urbane Zeichenlandschaft. Aushandlungsprozesse um Stadttext. In: Jg. 1 (2020), H. 1: Sonderband 1. msc_lab b: Die Strasse S.59-72 Elektronische Ressource.
Werle, Bertram (2013). Werbung und Baukultur: Stadt im Spannungsfeld. In: Internationales Städteforum Graz (Hg.): Die umworbene Stadt. Stadtgestalt und Werbung im Fokus von Denkmalpflege und Baukultur, ISG Tagungsband 2013, Graz. S. 27-33.
Onlinequellen: http://www.melodieundrhythmus.com/mr-1-2018/attacken-auf-die-linksliberale-komfortzone/
[Zugriff: 22.05.21]
https://www.urbanpresents.net/2020/04/der-eigenweg-von-sozi36/ [Zugriff: 22.05.21]
https://www.instagram.com/sozi.36/ [Zugriff 12.06.21]
Cinema of Resistance (COR) is a grass roots film screening collective from India that focuses on forming new cultural spaces in small towns and villages through the screening of alternate films. The collective’s journey that began in 2006 with the Gorakhpur Film Festival has been instrumental in creating new circulatory networks around such films that deal with issues including labor rights, gender justice, human rights and environmental issues. Within this network, the screening of films become a catalyst for creating discussion spaces around such issues. Cinema of Resistance festivals are a regular event in the cultural calendar of many cities and towns outside the major metropolises of India including Udaipur, Patna, Gorakhpur, Allahabad, Lucknow, Ramnagar and Nainital.
In this interview with Dr. Shweta Kishore, the national convenor of Cinema of Resistance, Mr.Sanjay Joshi talks about the importance of alternate cinema in building interactive spaces where ordinary people can find ways of expression that goes beyond limits of state censorship and neoliberal logic of engagement. Dr. Shweta Kishore is a lecturer of Screen and Media at RMIT, Australia. Sanjay Joshi has made several documentaries and he has so far curated over 71 film festivals and screenings for cinema of resistance.