New Delhi: Sage, 2013. 180 S., GBP 35,00
Im Kontext gesellschaftlicher und politischer Konflikte in Südasien werden Religion und Religiosität eher mit Blick auf ihre Gewalt fördernde Rolle als hinsichtlich ihres Potenzials für friedensbildende Prozesse betrachtet. Dies trifft vor allem auf essenzialisierende Repräsentationen des Islams und der Muslime als angeblich besonders gewaltaffin zu. Dieser Tendenz tritt Susewind mit seiner Studie entgegen und richtet den Fokus unter Bezugnahme auf Scott R. Applebys „Ambivalenz des Heiligen“ (1999) zum einen auf muslimische FriedensakteurInnen im westindischen Bundesstaat Gujarat und zum anderen auf die Bedeutung, die diese selbst im Zusammenhang ihrer friedensaktivistischen Tätigkeit ihrer Religion und ihrem Glauben beimessen.
Anstelle von Generalisierungen möchte er die Vielfalt und Individualität muslimischer FriedensakteurInnen aufzeigen, auch wenn dies in einer interessanten Spannung steht zu seinem Versuch einer typologisierenden Beschreibung von vier „ideal-typical ways of ‚being Muslim and working for peace‘“ in der Folgezeit nach den anti-muslimischen Gewaltausschreitungen 2002. Als solche beschreibt er als erstes „glaubensbasierte Akteure“, die ihre Kraft aus ihrer in-group, moralischen Überzeugungen sowie ihren orthodoxen rituellen Praktiken schöpfen. Mit dem Begriff der Ambiguität charakterisiert Susewind eine Tendenz unter diesen Akteuren, ihren Friedensaktivismus einerseits als ihrem Muslimsein inhärent und folglich für sie im Sinne einer politischen Handlung zwingend darzustellen, während sie gleichzeitig pragmatisch seien und für eine strikte Trennung von Religion und Politik argumentierten. Diese „Kultur der Ambiguität“ des indischen Islams präge selbst Anhänger reformistischer Bewegungen, die sich ideologisch gesehen auf einer „mission of disambiguation“ (S. 58) befänden. Hier ist die klare Abgrenzung glaubensbasierter Friedensakteure von „Fundamentalisten“ wichtig, die die Trennung der privaten und öffentlichen Bereiche aufheben wollen und eine politische Strategie der Dominanz verfolgen. In diesem Sinne definierte Fundamentalisten seien in Gujarat auch innerhalb glaubensbasierter Organisationen in der Minderzahl.
Als zweiten Idealtypus versteht der Autor die „säkularen Technokraten“, die weder von den religiösen Akteuren noch von der nichtmuslimischen Zivilgesellschaft beachtet würden. Tatsächlich meint er offenbar areligiöse Friedensakteure, die in Gujarat kaum mit glaubensbasierten Akteuren interagieren. Dies scheint jedoch nicht durch Differenzen über die Religion begründet zu sein, sondern durch unterschiedliche Schwerpunkte ihrer friedensaktivistischen oder entwicklungsorientierten Tätigkeit, die sich im Fall der „Technokraten“ nach der anfänglichen humanitären Arbeit oft in Richtung Rechtsberatung und Monitoring von Menschenrechtsverletzungen ausrichte. Wenn Susewind hier mit Blick auf die alltäglichen Handlungen dieser Gruppe von einem „long-term success of secularization“ (S. 75) spricht, bezieht er sich auf die Annahme einer Säkularisierung im Sinne eines linearen Prozesses, in dem Religion grundsätzlich an Bedeutung verliert, für das politische Handeln ebenso wie für das Leben von Individuen und Gruppen. Hier wäre folglich genauer zwischen „säkularisiert“ und „säkular“ zu unterscheiden, denn ob ein Mensch säkularen Prinzipien anhängt oder nicht, sagt an sich nichts über seine individuelle Religiosität aus, sondern über die Überzeugung, dass der Staat dieselbe Distanz gegenüber allen Religionen wahren und diese gleich behandeln sollte und/oder dass die Religion in erster Linie eine private und persönliche Angelegenheit sei und keine öffentliche Rolle spielen dürfe. Umgekehrt belegt die Debatte über den Postsäkularismus, dass es auch Atheisten gibt, die einer mit aller Konsequenz verfolgten ‚Privatisierung‘ von Religion kritisch gegenüber stehen – gerade, wenn diese primär von Minderheiten eingefordert wird. Laut Casanova zieht sich dieser „Riss“ oder fehlende Konsens bezüglich des Ortes und Stellenwertes von Religion in pluralen Gesellschaften folglich quer durch die unterschiedlichsten – religiösen oder areligiösen – Gruppen und Individuen hindurch.
Ausschließlich auf Friedensakteurinnen bezieht sich der dritte Idealtypus der sich „emanzipierenden Frauen“, bei dem bereits das Partizip im Unterschied zu den beiden ersten Gruppen auf eine höhere Dynamik in der wechselseitigen Prägung fluider religiöser Identitäten und friedensaktivistischer Tätigkeiten hinweist. Dieser Typus sieht sich laut Susewind hinsichtlich der erlangten Handlungsmacht zunehmend durch die patriarchalen Machtstrukturen innerhalb der in-group herausgefordert. Während sie sich anfangs noch auf den „islamischen Feminismus“ stützen würden, sagten sich einige Akteurinnen letztlich so weit wie möglich von der Religion los. Es wäre hier interessant, mehr über den Einfluss der sich „emanzipierenden Frauen“ aus Gujarat auf den neu entstanden Diskursraum des muslimischen Feminismus in Indien zu erfahren.
Als ebenso dynamisch betrachtet der Autor schließlich die „zweifelnden Professionellen“. Ohne sich zu stark mit der in-group zu identifizieren, fühle sich dieser vierte Typus von FriedensakteurInnen dennoch infolge der Gewalteskalation 2002 für sie verantwortlich und beginne frühere Annahmen bezüglich der Rolle von Religion sowie der eigenen Identität als Muslim/in zunehmend zu hinterfragen.
Der Band hätte stärker regionalhistorisch kontextualisiert werden können, insbesondere was den Islam und die Muslime in Gujarat angeht. Umgekehrt wäre es hinsichtlich der untersuchten FriedensakteurInnen interessant, eine Vergleichsmöglichkeit zu anderen Bundesstaaten zu haben, in denen es ebenfalls zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen ethnisierten Gruppen gekommen ist. Es stellt sich die Frage, wie spezifisch die vier Idealtypen für die zurückliegende Dekade in Gujarat sind, ob sie veränderlich sind und inwieweit sich in anderen Regionen Indiens ähnliche Dynamiken hinsichtlich der Wechselwirkung zwischen individuellen religiösen Identitäten und friedensaktivistischen Tätigkeiten feststellen lassen.
Der Band ist nicht nur für Südasieninteressierte relevant, sondern auch für Studierende regionalwissenschaftlicher Fächer empfehlenswert, die im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten empirisch forschen möchten und sich dazu mit methodologischen Fragen auseinander setzen, auf die Susewind detailliert eingeht.
Veröffentlicht in: ASIEN The German Journal on Contemporary Asia, Nr. 133, Oktober 2014. S. 125-127.