Breaking Book. Wie Amazon das Lesen „enhanced“

Eine Anmerkung von Ben Kaden. (@bkaden) zu
Casey  Newton: THE EVERYTHING BOOK: READING IN THE AGE OF AMAZON. In: The Verge, 17.12.2014

In der vergangenen Woche publizierte der SPIEGEL eine Titelgeschichte zur Zukunft des Lesens (eine ausführliche Auseinandersetzung damit findet sich im LIBREAS-Tumblr). Heute findet sich ein weiterer Beitrag zum Thema auf der Seite The Verge, wobei Beitrag und Seite ziemlich deutlich die Differenz der Welten zwischen SPIEGEL und dem Vox-Media-Journalismus aufzeigen. Die so genannte Longform ist, wenn man sie im Digitalen angemessen abbildet, keineswegs eine Angelegenheit der Vergangenheit und The Verge zeigt wenigstens formal einen ziemlich medienadäquaten Ansatz.

Die Stärke von Casey Newtons Artikel zu sich entwickelnden digitalen Leseformen gegenüber dem SPIEGEL-Text liegt inhaltlich zunächst schon einmal darin, dass sich der Technikjournalist hauptsächlich auf einen Hauptakteur und dessen Leselabore und Buchmarktideen konzentriert. Und zwar auf einen, wenigstens in den USA und für viele bedauerlicherweise, Platzhirschen. Inhaltlich schürft er zwar nicht sonderlich tiefer als seine SPIEGEL-Kollegen. Aber er schürft weitaus aufgeräumter.

Man kann (und sollte) Jeff Bezos hoch aggressiven Kurs zur Erzeugung von Amazon-gelenkten Dispositiven für die Lese- und Buchkultur in vieler Hinsicht für problematisch halten. So zitiert Casey Newton noch einmal die Anweisung des Amazon-Chefs an seine E-Book-Entwickler:

„I want you to proceed as if your goal is to put everyone selling physical books out of a job.“

Der permanente Angriff auf eine Medienform um eine andere durchzusetzen wirkt wie jeder Absolutheitsanspruch schon aus kleiner Distanz befremdlich. Allerdings interessieren an dieser Stelle und in Bezos Logik Fragen von Moral und intellektuelle Reflexion eher nicht. Hier geht es um Macht- und Marktanteile, die ganz offensichtlich sehr stark mit der Deutungshoheit in den Medienkulturen im 21. Jahrhundert konkurrieren.

Das ist ein kompliziertes und sehr wichtiges Feld, wird hier doch gesellschaftsübergreifende Selbstverständigung unmittelbar von technischer und marktorganisationeller Gestaltung getroffen. Kritik an diesen Prozessen hat es meist erstaunlich schwer und muss selbstverständlich umso intensiver geleistet werden. Unabhängig davon ist jedoch häufig beeindruckend und in jedem Fall hochrelevant was im Rahmen dieses Dominanzstrebens an digitaltechnischer Innovation erfolgt und zum Beispiel hinsichtlich des e-Reading in Amazons Lab126 entsteht.

Betrachtet man diesen Zusammenhang aus der Warte des „enhanced publishing“, bleibt der Blick erwartungsgemäß an dieser Passage haften:

Screenshot - The Verge
„Instead, Amazon wants to enhance what’s on the screen with software. If there’s a unifying idea to the Kindle as an app, it’s in fixing the little things that once made you put down your book in frustration. A feature called X-Ray, for example, stores a books‘ most common characters, locations, and ideas. Just press on a character’s name and a miniature bio pops up; in an epic like Game of Thrones, it’s a godsend. Amazon knows from its embedded dictionary which difficult words tend to trip us up, so on Kindle, they are defined in superscript above the text. Rather than send you to Google to look up a short passage in a foreign language, Kindle translates it for you automatically. It tells you how long it will take you to finish a chapter, based on how quickly you normally read.“

Was am meisten auffällt, ist die Kombination aus Einfachheit und unmittelbarer Nützlichkeit. Die Hardware soll so unauffällig wie möglich sein. Der Nutzer soll die Technik möglichst während der Nutzung vergessen. Zugleich soll sie immer und direkt verfügbar sein, wenn sie helfen kann. Beispiele finden sich in der zitierten Textstelle: die semantische Navigation anhand von Akteuren, Orten und Konzepten. Gleiches ist für jede Quellensammlung auch in der Wissenschaft sinnvoll, wobei es da nicht mit den „most common“ getan ist, sondern eine Kompletterfassung erforderlich wird. Nachschlagefunktionen, eingebettete Glossare und Übersetzungsdienste sind ebenfalls, sofern sie qualitativ auf bestimmte Standards hin ausgearbeitet vorliegen, für jede Textrezeption hilfreiche Zusatzdienste. Das große Thema ist hier Vernetzung und zwar, da Amazon auch Goodreads gekauft hat, auch auf der sozialen Ebene. Dort werden nämlich auch das Lesen selbst (als Prozess) und der Leser (in seinen Interaktionen mit Texten und anderen Lesern) lesbar.

Freilich sind die genannten appifizierten Erweiterungen nicht gerade ohne Vorbild, jedenfalls wenn man sich in der Geschichte der Buch- und Textdarstellungsformen ein wenig auskennt. Aber dass sich das Laborteam um Chris Green gern an seiner eigenen Kreativität berauscht und Casey Newton erkennbar ansteckt, gehört vermutlich auch in die sonderbare Kultur dieser Tech-Kreise und der dazugehörigen Berichterstattung.

Auf der faktischen Ebene lassen sie sich in der Tat oft auch schwer widerlegen. Etwa wenn sich aus dem Gespräche mit Kindle-Content-Verantworlichen Russ Grandinetti folgendes ergibt:

„As new kinds of books become digitized, too, they’ll change in ways that are hard to predict. Sales of travel guides declined as much of the information contained in them became available free of charge online; Grandinetti believes they will evolve in new ways and become useful once again.“

Jede Erfahrung sagt hier: gut möglich. Und die Logik betont damit harmonierend: wo die Technik bestimmte und neuartige Erzählformen eröffnet, werden neue Narrative wenigstens ausprobiert. Tatsächlich sind im konkreten Anwendungsfall der Orientierung mit GPS-Ortung versehene digitale Karten mit Zoomfunktion auf handlichen Mobilgeräten für den Orientierung Suchenden die unbestreitbar praktischere Option im Vergleich zu großen Faltkarten festen Maßstabs. Inwiefern im Gegenzug Kompetenzen verkümmern, ist ein bekanntes, spannendes und sich entwickelndes Forschungsfeld zum Beispiel für die Hirnforschung.

Was Casey Newtons Story mit der der SPIEGEL-Redakteure teilt, ist wenig überraschend der die Story grundierende Optimierungsansatz, der jeder Innovation und daher auch jeder digitaltechnischen Überarbeitung des Lesens zwangsläufig beigeheftet wird.

„Reading is going to have to continue to morph and get better,“ Don Katz tells me, „both from a quality and a technology (perspective), to maintain its position.“

Wir erinnern uns an den SPIEGEL-Titel: “schneller, besser, sinnlicher”. Die unantastbare (und selten belegte) Prämisse ist hier erneut: Medienwandel ist immer Verdrängungskampf und vor allem Fortschritt. Wenn wir uns nicht permanent neu erfinden, werden wir vergehen.

In dieser Annahme liegt ein typisches, kleines aber entscheidendes Missverständnis im Digitaldiskurs: Marktökonomischen Bedingungen und Optimierungszielen wird eine unhintergehbare Validität in allen Kultur- und Lebensbereichen zuerkannt. Das funktioniert nicht gut und ist auch keinesfalls zu wünschen.

Dass der Diskurs so geprägt ist, liegt freilich auch daran, dass vor allem Marktakteure mit dem genuinen Ziel des Eroberns und Verteidigens von Marktanteilen als mächtige Innovatoren im (Sprach)Spiel des Fortschritts aktiv sind. Casey Newton schreibt es ganz offen:

„[T]the future of reading will be shaped, in part, by what Amazon invents — by how else it decides to augment, alter, or otherwise transform the text in front of us. Anyone that wishes to compete has to reckon with the insight Amazon had seven years ago — that the text in a book is not the end, but a beginning.“

Das ist im eingängigen Longform-Stil von The Verge so rundpoliert geschrieben, dass es sich unantastbar wähnt. Es enthält aber zugleich eine extrem reduzierte Perspektive auf die Komplexität und Mannigfaltigkeit von Lesekulturen. Dass diese in die Stromlinienform technologische Paradigmen eines einzelnen Unternehmens gepasst werden sollen, erscheint auch für Freunde des Wettbewerbs keinesfalls erstrebenswert.

Der sich abschottende Ansatz von Amazon punktet zweifellos, wo Bequemlichkeit gefragt ist. Das Lab126 variiert und perfektioniert unbestreitbar alltagstaugliche Hacks und eröffnet mit seinem X-Ray-Modus die Annäherungsräume an Texte. Aber auch sie bleiben auf die Gruppe eines nach einem bestimmten Durchschnittsmaß definierten Endverbraucher von Text zugeschnitten.

Aus Sicht des „Enhancements“ des Publizierens entdeckt man in dieser Kindle-Sphäre schöne Impulse und zukünftige (bzw. sogar schon aktuelle) Konventionen. Die unhinterfragte Kopplung von kommerziellen Durchsetzungsstreben, Zukunftsversprechen und Begeisterung an Oberflächen deutet jedoch auf eine ideologische Grundierung dieser digitaltechnischer Innovationshubs hin, die auf Dauer kaum tragfähig scheint.

Es ist wenigstens vorstellbar, dass viele Text rezipierende Menschen es bevorzugten, wenn Veränderungen der Möglichkeiten weniger als permanente Upgrade-Pflicht und also ohne Technostress und vielleicht stattdessen etwas spielerischer und mehrdimensionaler und gemächlicher abliefen. Dass sich ein Publikationsmarkt von E-Books keinesfalls so exklusiv und rasant entwickelt, wie man vor wenigen Jahren wahlweise erhoffte oder befürchtete, mag als Indikator dafür gelten.

Kurioserweise gelingt es bisher äußerst selten – und zwar auch in digitaljournalistischen Kontexten – eine eigentlich weit verbreitete abgeklärte kulturanalytische Gelassenheit mit den zweifellos umfänglich gegebenen Vorteilen und der Offenheit digitaler Medialität überzeugend zu verbinden. Möglicherweise gegenwärtigen wir an dieser Stelle gerade eine (und zunehmende) Lücke zwischen technischen, kulturpraktischen und intellektuellen Entwicklungsgeschwindigkeiten.

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