Sind Tweets verschriftliche Mündlichkeit?

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

Dass ein großer Teil in digitalen sozialen Netzwerken textuell gefasster Inhalte eher als verschriftlichte Oralität zu bewerten ist, ist kein neue These. Vermutlich handelt es sich genauer um eine Hybridform zwischen dem Mündlichen und dem Geschriebenen. Wohin es sich mehr neigt, ist vielleicht eine Frage der Form, sicher aber eine der Intentionalität. Fraglos trifft zu, was die Bezeichnung „Social Media“ eindeutig macht: Diese Medienformen sind unmittelbarer als formalisierte Publikationsformen auf eine direkte soziale Interaktion, also eine sichtbare Kenntnisnahme und Reaktion, ausgerichtet. Sie mit formaleren Publikationsvarianten gleichzusetzen geht fehl. Schwierig ist jedoch ihre rechtliche Bewertung.

In diesem Zusammenhang tauchte die Frage nach dem Status solcher Kommunikationen im Anschluss an zwei Tweets und als Vorläufer zu einem Blogessay von Xiao Mina (Digital Culture is Like Oral Culture Written Down. In: medium.com, 11.01.2015) im Weblog des Juristen James Grimmelmann wieder auf.

In The Laboratorium (2d ser.) erläutert er:

„Social media, however, combine the fixity of the written tradition with the fluidity, immediacy, and interdependence of the oral tradition.“

Genau genommen vollzieht sich hinsichtlich der Schriftlichkeit eine dem gleichen Zustand entgegen strebende Entwicklung insofern, dass die Lösung des Geschriebenen vom Träger im Digitalen auch für diese Kommunikationsform Varianten der „fluidity, immediacy, and interdependence“ zulässt (vgl. dazu meinen Beitrag im Fu-PusH-Weblog vom 07.01.2015).

Rechtlich ergeben sich aus beiden Richtungen dahingehend Herausforderungen, dass die Rechtsnormen, wie auch Grimmelmann bemerkt, traditionell eng an das Fixiertsein von Schrift gebunden sind. Digitaler Text wird im aktuellen Rechtssystem oft so bewertet wie trägergebundene, formal und intentional stabilisierte Schriftlichkeit. (Für ein Beispiel für die Probleme, die die Fluidität digitaler Publikationen für das Urheberrechtsgesetz mitbringt siehe u.a. Kaden, 2010):

„These rules are based on fixity: a written contract gives more reliable intentions of what the parties wanted than the their later uncertain and competing recollections.“

Woraus folgt:

„The legal system repeatedly asks itself whether social media should be taken seriously.“

Dies ist an sich schon eine spannende Frage. Aus Fu-PusH-Perspektive wird sie noch relevanter, wenn man statt des Rechtssystems die Wissenschaftskultur als Maßstab heranzieht und in Beziehung zur Social-Media-vermittelten Wissenschaft zum Beispiel in Wissenschaftsblogs aber auch über das Streumedium Twitter setzt.

Für Impact-Messungen sind solche Formen der Wissenschaft schon strukturell hoch interessant. Freilich begrenzt sich die Aussagekraft solcher Altmetric-Ansätze an der Partizipationstiefe und an der oft noch sehr quantitativen Ausrichtung (wobei sie zweiteres freilich auch mit herkömmlichen Impact- und Zitationsmessungen teilen). Ein Großteil der WissenschaftlerInnen steht nach wie vor auf kritischer Distanz zu diesen Kommunikationsformen. Wissenschaftliche Reputation lässt sich über diese Kanäle bisher nur in Ausnahmefällen erzeugen. Bisweilen wird die Nutzung von Social Media in der Wissenschaft sogar explizit als nicht statthaft und daher für Karriereentwicklungen eher nachteilig eingeschätzt.

Eine Schwierigkeit der verschriftlichten Mündlichkeit liegt darin, dass es bisher keine Regeln gibt, wie sie tatsächlich – auch als wissenschaftlicher Beitrag – zu bewerten sind. Häufig ist unklar, ob es sich überhaupt um eine zitierbare Quelle handelt.

(Andererseits ist in der allgemeinen digitalen Medienkultur bis hin zu den Massenmedien eine intensive Übernahme des Zitierprinzips zu erkennen. So werden Aussagen aus sozialen Medien mitsamt Autorschaft direkt als Beleg in entsprechende Beiträge eingebunden. Tweet- bzw. altmetrisch lässt sich der Impact einer Äußerung auf einen allgemeinen Diskurs genauso messen wie der auf dem Wissenschaftsdiskurs. Auch hier ist also eine erstaunliche Durchdringung von Kommunikationspraxen erkennbar.)

Formal (bzw. syntaktisch) lässt sich ein Tweet problemlos als eine Art Dokument ansehen: Es besitzt einen Autor, ein Veröffentlichungsmedium, einen Inhalt in Schriftform, ein überpräzises Veröffentlichungsdatum, das allerdings anders als jede traditionelle schriftliche Ausdrucksform einem unmittelbaren Äußerungsmoment entspricht. Und es ist im Web eindeutig adressierbar, retrievable und, digitaltypisch, sofort kopier- und bei Twitter sogar dem System entsprechend direkt weiterleitbar.

Der von Grimmelmann referenzierte Fall des Literaturwissenschaftlers Steven Salaita, dessen Twitter-Aktivitäten zum Abbruch seiner wissenschaftlichen Karriere an der University of Illinois durch die Universität führten, zeigt, welche Probleme die Vermischung der Kommunikationsformen aufwirft:

„For another example, Steven Salaita’s defenders have argued both that it was inappropriate for the University of Illinois to examine his tweets and that tweets shouldn’t be held to the same standards of rigor and decorum as academic writings.“

Muss sich ein Wissenschaftler an dem messen (und interpretieren) lassen, was er auf Twitter notiert und als eine quasi gesprochene Botschaft aussendet? Ergibt sich aus der Sichtbar- und Dokumentierbarwerdung von Ideen und Meinungen in einer noch dazu auf eine twittertypische Knappheit reduzierten Form (Semantik) eine voll umfängliche Verantwortlichkeit, wie sie auch bei einer offiziellen bzw. formalen Kommunikation vorläge?

Der Struktur des Mediums Twitter entsprechend wäre es sicher überzogen, „standards of rigor and decorum as academic writings“ einzufordern. Aber sind Twitter und soziale Netzwerke ein reines Privatmedium, bei dem es eigentlich mehr um die reine Meinungsfreiheit ginge und die mit der Wissenschaftsfreiheit und der wissenschaftlichen Arbeit nichts zu tun haben? Die Vermischung der Kommunikationssphären lässt keine einfache Entscheidung zu. Noch fehlen Standards.

Da die Einordnung der mündlich-schriftlichen Äußerungen sehr von der Frage der (unterstellten) Intention (also, um das semiotische Dreieck zu schließen, der Pragmatik) abhängen, ist es sicher hilfreich, bei der Verwendung sozialer Medien als Kommunikationswerkzeug in der Wissenschaft im Profil bzw. dort, wo es in der Botschaft selbst mehrdeutig wird, zu vermerken, aus welcher jeweiligen Rolle heraus man sich äußert.


Ben Kaden (2010) Rückruf für Überzeugungstaten? Der schwierige § 42 UrhG in digitalen Kommunikationsgemeinschaften. In: IUWIS-Weblog, 01.10.2010, Dort findet sich u.a. die Aussage:

„Man kann gerade im Umfeld der nutzergenerierten Inhalte oft schlicht nicht mehr von Werkstücken oder Einzeltexten ausgehen. Es handelt sich um referenzierbare Knoten in Hypertextnetzwerken, die selbst – wie z.B. bei der Wikipedia – genuin auf andauernde Erweiterung und Veränderung angelegt sind.“

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